Publication International / Transnational - Nordafrika Die imperialen Gelüste der »Neo-Osmanen«

Die Türkei unter Erdogan ist zu einem Labor des Neoliberalismus und einer »subimperialistischen« Kraft geworden. Analyse von Murat Çakir.

Information

Series

Online-Publ.

Published

July 2010

Ordering advice

Only available online

Kein Geringerer als »Hodcha Efendi« Fetullah Gülen, der aus dem US-amerikanischen Exil sein Milliardenschweres »NGO-Netzwerk« befehligt, proklamierte, dass es »kein Traum« sei, »dass die Türkei die Stärke und Wirkungskraft des Osmanischen Reiches wiedererlangen werde«. Auch der verstorbene Staatspräsident Turgut Özal hatte diese Vision. Während des I. Golfkriegs wies er daraufhin, dass »die Türkei, jeden ihrer Einsätze dreifach vergütet bekommen« werde und prägte in Gesprächen mit ihm nahestehenden Journalisten den Begriff »Neo-Osmanen«.

Heute, nach nun fast 20 Jahren, scheinen die militärischen wie zivilen Entscheidungsträger diese Vision ernsthaft in die Realität umsetzen zu wollten. Immerhin ist die Türkei mit ihrer Dynamik, ihrem Wirtschaftswachstum, ihrer immer stärker werdenden Selbstbewusstsein und ihrer strategischen Lage, die sie Dank ihrer militärischen Gewaltmaschinerie durchaus zu nutzen weiß, zu einem der wichtigsten Schwellenländer der Welt geworden. Ihre Kooptierung in die globalen Strategien durch die G 20-Mitgliedschaft, ihre verstärkte Einbeziehung in die Entscheidungsprozesse der internationalen Politik und die Unterstützung durch die USA sowie EU zeigen, wie sehr die Türkei als »Stabilisierungsfaktor in einer Region der Instabilitäten« (G. Schröder) gesehen und anerkannt wird.

Erst kürzlich bezeichnete der amerikanische Politikwissenschaftler George Friedmann die Türkei als »Problemlöser im Nahen Osten, der die (militärische) ›harte‹ mit wirtschaftlicher und politischer ›weicher‹ Macht vereinigen kann« und so über eine »deep power« verfügen könnte, was wiederum für den strategischen Partner USA von Nutzen wäre. (FAZ, 8. Juni 2010) Dies wissen die türkischen Entscheidungsträger allzu gut. Inzwischen sprechen die türkischen Eliten immer öfter davon, dass die Türkei  eine »wirkungs- und gestaltungsmächtige regionale Macht« geworden ist und »ihrer Position entsprechend ihre Politik zu gestalten habe«.

Der einflussreiche und regierungsnahe Kolumnist der Tageszeitung Radikal, Cengiz Çandar geht noch einen Schritt weiter: »Die Türkei ist ein lebendiges und dynamisches Land, das in den nächsten zehn Jahren das Ziel erreichen will, unter den ersten 10 großen Ökonomien der Welt zu sein. Die türkische Wirtschaft ist inzwischen so stark, so dass sie innerhalb der eigenen Landesgrenzen nicht mehr zu halten ist. Diese wirtschaftliche Stärke, welche die Türkei zu einer Regionalmacht gemacht hat, wird nun dazu genutzt, eine ›politische Macht‹ zu werden. Deshalb entfaltet die Türkei mithilfe ihrer ›Soft Power‹-Politik im Nahen Osten politische Aktivitäten und übernimmt die Rolle als Problemlöserin – in manchen Fällen auch ohne grünes Licht aus den USA.« (Radikal, 7. Juni 2010) Çandar ist der Auffassung, dass die Gestaltungsmacht der USA in der Region schwindet und daher die Türkei, die ein hohes Maß an Ansehen gewonnen habe, daher über eine Rolle als »Ordnungsmacht« nachdenken müsse.

»Kalter Krieg« zwischen Israel und der Türkei?

Man mag genüsslich darüber streiten, ob die Gestaltungsmacht der USA in der Region schwindet oder nicht. Feststeht aber eins: die Türkei richtet ihre Staats-, Verteidigungs-, Sicherheits- und Außenpolitik im Sinne der gewünschten neuen Rolle im Nahen Osten aus. Die von dem neuen Außenminister Davutoglu ausgegebene Devise »Null Probleme mit den Nachbarn« ist nicht nur eine propagandistische Phrase nach Innen, sondern ein Ergebnis dieser neuen Ausrichtung – Davutoglus »strategische Tiefe der türkischen Außenpolitik« indes deren Ausdruck.

Teile der türkischen Medien, besonders die Kemalistischen, kritisieren diesen Kurs als »Abwendung von der vom Staatsgründer Atatürk vorgegebenen prowestlichen Linie«. Manche sprechen gar von einer »deutlichen Achsenverschiebung«. Anscheinend gibt es auch in der EU Kräfte, die ähnliche Bewertungen vornehmen. So z. B. der italienische Außenminister Franco Frattini. In einem Zeitungsinterview (FAZ, 10. Juni 2010) beschwert er sich über »die Fehler, die Europa gegenüber der Türkei gemacht hat« und mahnt an, dass »die Türkei, nach Osten gedrängt« werde, weil »wir Europäer« den Eindruck vermittelt hätten, die Türkei nicht in der EU sehen zu wollen. Genau wie Frattini weisen einige Kommentatoren europäischer Zeitungen daraufhin, dass »die Annäherung der Türkei an eine andere Perspektive nicht im Interesse Europas« sei. Hierbei wird in jüngster Zeit gerne der Konflikt um die »Gaza-Flottille« zwischen der Türkei und Israel als Beleg dargestellt.

Aber gerade dieser Konflikt zwischen türkischer und israelischer Regierung beweist, dass keine »Achsenverschiebung gen Osten« stattgefunden hat. Im Gegenteil: die Türkei unter der AKP-Regierung ist der Achse USA-EU stärker verbunden als je zuvor. Und dabei sind die AKP-Regierung sowie die militärischen Entscheidungsträger auf einer Linie. Das von der scharfen Rhetorik Erdogans verursachte Getöse sollte darüber nicht hinwegtäuschen.

Eine nähere Betrachtung der türkisch-israelischen Beziehungen macht das deutlich: Diese gehen zurück bis zur Gründung Israels im Jahre 1948, als die Türkei als erstes muslimisches Land den Staat Israel anerkannte. Beide Staaten waren, was die Beziehungen zum Westen betraf, einander sehr ähnlich. Daher war es kein Zufall, dass David Ben Gurion schon am 16. Oktober 1957 in seinem Tagebuch vermerkte: »Die freie Welt muss erst ihre Bollwerke im Mittleren Osten bis zur Festigung und Stärkung ihrer Einheit konsolidieren. Israel ist neben der Türkei das einzig stabile Land im Mittleren Osten, das frei und demokratisch ist« (Alon Liel, 2001)

Türkei und Israel hatten gemeinsame Interessen, die sie im August 1958 mit einem Abkommen zur strategischen Zusammenarbeit formulierten: Sie wollten ein pro-westliches Bündnis im Nahen Osten; ein Bündnis zwischen vier nichtarabischen Staaten – der Türkei, dem Iran, Äthiopien und Israel schmieden. Dieses Bündnis hatte dann bis zum Ausbruch des Sechs-Tage-Krieges 1967 Bestand. Die Abhängigkeit vom Erdöl der arabischen Staaten und die erhoffte arabische Unterstützung in der Zypernfrage zwang die Türkei zur Distanz gegenüber Israel.

Erst nach dem Militärputsch von September 1980 und besonders nach dem Abzug der israelischen Truppen aus dem Libanon 1985 verbesserten sich die bilateralen Beziehungen. Schon 1989 erreichte das Handelsvolumen einen Umfang von 100 Mio. Dollar. Die türkischen Militärs drängten die Regierung zur verstärkten strategischen Zusammenarbeit mit Israel. Die türkische Armee sollte mit Hilfe Israels modernisiert werden.

So kam der türkische Staatspräsident Süleyman Demirel im März 1996 nach Israel und unterzeichnete eine Reihe wirtschaftlicher Abkommen. Dabei wurden auch unterschiedliche Rüstungsaufträge, so z.B. die Erneuerung der F4-Kampfjets im Wert von 600 Mio. Dollar an Israel vergeben. Die israelische Luftwaffe und Marine bekam dann auch Zugang zu türkischen Luftwaffen- und Marinebasen. Die israelischen Kampfpiloten konnten nun die Tiefflugübungen in der Türkei absolvieren.

Ende der 1990er Jahre wurde die militärische Zusammenarbeit intensiviert. Eine gemeinsame strategische Arbeitsgruppe wurde eingerichtet, die geheimdienstliche Zusammenarbeit verstärkt und gemeinsame Militärübungen durchgeführt. Der Erneuerung der F4-Flotte folgte ein Geschäft mit F5-Kampfjets. Israel lieferte Python-4-Raketen, Popey-Luft-Boden-Raketen, Marschflugkörper, Arrow-Antiraketen-Raketen sowie Nachtsichtgeräte für türkische Kampfhubschrauber, die gegen die kurdischen PKK-Stellungen zum Einsatz. Die türkisch-israelische Partnerschaft wurde von der US-Administration tatkräftig gefördert und unterstützt. Im Januar 1998 wurde mit einem gemeinsamen Manöver die strategische Partnerschaft zwischen den USA, der Türkei und Israel besiegelt.

Das Handelsvolumen, welches 1996 rund 446 Mio. Dollar betrug, erhöhte sich 2008 auf über 3,4 Milliarden Dollar. Dennoch liegt der israelische Anteil am gesamten Handelsvolumen der Türkei immer noch bei 1 Prozent.

Wichtiger ist beiden Staaten die militärische Zusammenarbeit. Universitäten beider Länder sind in diese Partnerschaft eingebunden. Auch die berühmte »Davos-Krise«, als der Regierungschef Erdogan wutentbrannt über den Gaza-Krieg das Davos Podium verlassen hatte und in der Türkei am nächsten Tag wie ein Held empfangen wurde, hatte keine Minderung der Rüstungsgeschäfte zur Folge. Im Gegenteil: nach der »Davos-Krise« kaufte die Türkei von Israel 10 Heron-Drohnen, die sie bei ihren Militäroperationen in kurdischen Gebieten weiterhin einsetzt. Dafür wurden 188 Mio. Dollar ausgegeben. Die israelische Geheimdienstunterstützung gegen die PKK wurde Israel mit 167 Mio. Dollar vergütet und ein weiterer Auftrag für die Radarausstattung türkischer Jets im Wert von 160 Mio. Dollar an Israel vergeben. Das Projekt Datalink 16, mit dessen Hilfe die Radarbilder der F4 und F16 Jets ausgewertet werden sollen, konnte sich eine israelische Rüstungsfirma sichern. Die Minen-Räumungsarbeiten an der türkisch-syrischen Grenze werden von Israel durchgeführt, das im Gegenzug die gesäuberten Areale 49 Jahre für biologischen Anbau nutzen darf.

Gleichzeitig besteht ein Trinkwassergeschäft, das für Israel von immenser Bedeutung ist. Israel leidet unter einer großen Wasserknappheit, die sich in Zukunft wahrscheinlich verschlimmern wird. Mit Supertankern soll die Türkei in den nächsten 10 Jahren 50 Mio. Kubikmeter Trinkwasser aus dem Fluss Manavgat liefern. Schon 2000 hatte die Türkei am Manavgat eine Anlage für Wasseraufbereitung und –verladung in Betrieb genommen, die weltweit einzigartig ist. Täglich können dort zwei Tanker von je 250.000 Kubikmetern beladen werden. Dieses Wassergeschäft soll 15 bis 20 Prozent der jährlichen Wasserknappheit Israels beheben. Wenn die Entladekapazitäten im israelischen Zielhafen Aschkelon, südlich von Tel Aviv ausgebaut sind, soll die Menge auf bis zu 200 Mio. Kubikmeter ausgedehnt werden.

Alon Liel, der frühere Geschäftsträger an der israelischen Botschaft in Ankara bezeichnete 2001 die Beziehungen zwischen Israel und der Türkei als »derzeit tiefstgreifende und umfassenste Beziehungen im Mittleren Osten«. Auch der damalige türkische Außenminister Ismail Cem war dieser Auffassung und betonte sogar in einer Rede am Washington Institute am 28. Februar 2001, dass »die bilateralen Beziehungen der Türkei zu Israel nicht von der Entwicklung des Friedensprozesses beeinflusst werden«. Bei aller muslimischen »Brüderschaft«: Geostrategie wiegt schwerer als die Religion! Daher war es kein Zufall, dass sogar der Gaza-Krieg der türkisch-israelischen Staatsallianz keinen Abbruch zu tun vermochte.

Nach der völkerrechtswidrigen Erstürmung des Gaza-Flottillen-Schiffs »Mavi Marmara« durch israelische Spezialeinheiten und dem Tod von Zivilisten ist scheinbar diese Allianz in Gefahr geraten – aber eben nur scheinbar. Denn trotz der scharfer Rhetorik hat die türkische Regierung bis heute den eigentlich logischen Schritt, also den Abbruch der Beziehungen zu Israel, nicht vollzogen. Die militärischen Projekte sind noch nicht auf Eis gelegt. Zwar hat die Erdogan-Regierung die »Überprüfung« der bestehenden Abkommen angekündigt und bisher drei gemeinsame Militärmanöver abgesagt, aber dennoch dem dezenten Hinweis der Armeeführung Folge geleistet: »Die modernisierten F4 und F5-Jets sowie unsere M60 Panzer benötigen weiterhin Gerätelieferungen aus Israel. Daher ist die militärische Zusammenarbeit unbedingt aufrechtzuerhalten.« (Tageszeitung Taraf, vom 17. Juni 2010)

Aber auch der in Regierungskreisen einflussreiche Fetullah Gülen meldete sich: »Die Gaza-Flottille hätte Israel um Erlaubnis bitten müssen und nicht gegen die israelische Autorität aufbegehren dürfen.« Am gleichen Tag beruhigte der Vorsitzende des Türkisch-Israelischen Handelsrats Menashe Carmon die Wirtschaftseliten: »Trotz Besorgnis erregender Entwicklungen geht unser Handel weiter.«

Den eigentlichen Hintergrund des Konflikts bringt der Kolumnist Cengiz Candar auf den Punkt: »Entweder wird die Erdogan-Regierung gehen oder die Netanyahu-Lieberman-Koalition. Wir sind an einen Punkt angelangt, an der beide Regierungen nebeneinander nicht existieren können.« Meiner Ansicht nach hat Candar recht. Für die Begehrlichkeiten der Türkei und für die an der Stabilität im Nahen Osten interessierte US-Regierung ist die derzeitige israelische Regierung zu einem Störfaktor geworden. Die Obama-Administration ist aufgrund eigener Schwächen und der innenpolitischen Entwicklung nicht in der Lage, den Druck auf die Netanyahu-Regierung zu erhöhen. So nimmt die Türkei als aufstrebende Regionalmacht gerne diese Rolle an.

»… erst vor der eigenen Türe kehren!«

Derzeit zieht die türkische Regierung alle möglichen diplomatischen Register und versucht ihren Einfluss auf internationale Institutionen zu erhöhen. Alleine im Juni konnte der Regierungschef Erdogan drei in Istanbul stattgefundene Gipfel – die »Konferenz für Zusammenarbeit und vertrauensfördernde Maßnahmen in Asien«, die arabisch-türkische Tagung mit den Außenministern der Arabischen Liga sowie den Gipfel des »Kooperationsrates für Südosteuropa« (SEECP) – als Bühne für seine Politik gegen die israelische Regierung nutzen. Somit konnte er den nach dem Rückzug Brasiliens aus dem Urananreicherungsgeschäft mit dem Iran entstandenen Imageschaden wieder wettmachen.

Den Verlautbarungen nach ist die israelische Regierung enttäuscht darüber, dass sich mit der Türkei der wohl wichtigste Verbündete in der islamischen Welt von Israel abwendet und die Hamas, den Iran und Syrien Israel vorzieht. Die Berichte über die Steigerung der Popularität Erdogans in der arabischen Öffentlichkeit scheinen der israelischen Enttäuschung recht zugeben.

Doch auch den israelischen Eliten ist es bekannt, dass die Popularität Erdogans nicht zu einer Änderung der Prioritäten durch die arabischen Länder führen wird. Denn den Führern der arabischen Welt ist die Hamas ein Dorn im Auge und die Türkei kein positives Beispiel. Für die arabischen Regime gilt es, die eigene Macht zu sichern. Ausschlaggebend für sie sind die Signale aus Washington, nicht aus Ankara.

Einige Kommentatoren in der Türkei, so z.B. Murat Utku vom unabhängigen Informationsnetzwerk bianet.org, sind der Auffassung, dass die türkisch-israelische Konfrontation als eine »Antwort der Israelis auf die Vormachtsansprüche Ankaras« zu deuten sei. Während man vieles an der Politik der rechtsgerichteten Netanyahu-Liebermann-Koalition zu Recht als irrational bezeichnen kann, so setzt die israelische Regierung doch sehr rationale Mittel ein, um Erdogan zu schwächen. Zu beobachten ist etwa, dass die israelische Außenpolitik unter der Losung »… erst vor der eigenen Türe kehren«, die chronischen Probleme der Türkei – z.B. Armenischer Völkermord, Kurdenfrage, Zypern etc. – anprangert und diesbezügliche Initiativen startet.

In der Tat: Die Türkei konnte bis zum heutigen Tage die seit der Gründung der Republik bestehenden Probleme, allen voran die Kurdenfrage, nicht lösen. Im Gegenteil, gerade die Kurdenfrage hat sich inzwischen zu einem gefährlichen Pulverfass entwickelt, das einen blutigen Bürgerkrieg entfachen könnte.

Noch vor einem Jahr hatte Erdogan seine »Politik der Öffnung« bekannt gemacht. Mit dieser Politik sollte die Kurdenfrage endgültig befriedet werden. Die früher als »Bergtürken« diffamierte kurdische Bevölkerung wurde im offiziellen Sprachgebrauch nun als »Kurden« bezeichnet, ein 24-Stunden-TV-Sender in kurdischer Sprache eröffnet und gesellschaftlich relevanten Gruppen Gespräche mit der Regierung angeboten. Erdogan begrüßte in einer Kundgebung in Diyarbakir seine Anhängerschaft in kurdischer Sprache. Die Macht der Generäle sowie der Bürokratie schien zurückzugehen. Liberale Kräfte in der Türkei sprachen davon, dass »das militärische Vormundschaftsregime nun endgültig am Ende sei«. Auch aus der EU kamen anerkennende Worte, obwohl im Heranführungsprozess an die EU keine nennenswerten Schritte mehr unternommen wurden. Der Islamist Erdogan, dem die Kuppel der Moscheen »die Helme« und Minaretten »die Bajonette der islamischen Bewegung« waren, gab den Demokraten!

Heute, ein Jahr danach, ist von dieser Aufbruchsstimmung nichts mehr zu spüren. Der Euphrat ist wie eine unsichtbare Grenze geworden, die das Land teilt. Heute kann man von zwei unterschiedlichen Ländern in einem Staat sprechen: dem Osten und dem Westen des Euphrats. Beide Teile sind politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich und kulturell gespalten wie noch nie.

Im Westen des Euphrats mit seinen relativ entwickelten industriellen Zentren, einer Gesellschaftsstruktur, in der moderne und islamisch-konservative Milieus nebeneinander existieren, überlandesdurchschnittlichen Einkommensverhältnissen, einer relativ geringen Arbeitslosenquote; einem geduldetem demokratischen Alltag, in dem Militärs kaum zu sehen sind und die nationalistisch-chauvinistische Hysterie jedoch weit verbreitet ist, kann als Bild eines pseudodemokratischen Wohlfahrtsstaats betrachtet werden.  Die Realität im Osten nimmt sich dagegen ganz anders aus: chronische Armut und Arbeitslosigkeit bis zu 80 Prozent; regionale Unterentwicklung; feudale und archaische Strukturen; eine Gesellschaft, die unter dem Trauma des seit 30 Jahren währenden schmutzigen Krieges, zehntausenden Opfern, Repressionen, millionenfachen Zwangsumsiedlungen, Brandschatzungen der Dörfer und institutionalisierter Diskriminierungen leidet, die aber eine hochpolitisierte Bevölkerungsstruktur hat und bis in die kleinsten Einheiten organisiert ist.

Der türkische Staat hat trotz aller Beteuerungen der sog. »Öffnungspolitik« die prokurdische Partei DTP verboten, rund 1.500 PolitikerInnen und gewählte BürgermeisterInnen der Nachfolgepartei BDP (Partei des Friedens und der Demokratie) inhaftiert und mehrere Tausend minderjährige Kinder zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die den einseitigen Waffenstillstand erklärende PKK wurde täglichen Bombardierungen sowie ständigen Militäroperationen ausgesetzt, woraufhin die Lage in den kurdischen Gebieten eskaliert ist. Die PKK hat den »aktiven Widerstand« ausgerufen und ihre Angriffe auf militärische Ziele wieder aufgenommen. Allein im Juni sind laut Zeitungsberichten mehr als 150 Soldaten und GuerillakämpferInnen ums Leben gekommen. Die Zustände sind mit denen der Kriegsjahre 1990 - 1993 durchaus zu vergleichen und eine weitere Eskalation könnte die Gewalt auch in die Großstädte im Westen tragen.

Die staatlich organisierten Beerdigungszeremonien für »gefallene Soldaten«, welche von neofaschistischen und rechtsextremen Parteien quasi als politische Kundgebungen genutzt werden, die auflodernde Lynchstimmung am Rande solcher Beerdigungen, die scharfe Rhetorik der Regierungspolitiker und die wieder aufgeflammte nationalistische Hetze türkischer Medien schaffen eine gesellschaftliche Atmosphäre, aus der eine Sintflut des Hasses entspringen könnte, die sogar von den militärischen Machthabern nicht mehr aufzuhalten wäre.

Aber auch im Westen wächst die Unzufriedenheit – nicht nur über den Krieg, sondern auch über die wirtschaftliche Lage. Die kriegstreibende Phalanx zwischen der Erdogan-Regierung und militärisch-bürokratischen Eliten setzt weiterhin auf eine neoliberale Ausrichtung der Wirtschaftspolitik. Zwar konnte die Regierung in den vergangenen Jahren ein außerordentliches Wirtschaftswachstum nachweisen und aufgrund der staatlichen Maßnahmen nach der Krise in 2001 die aktuelle globale Krise relativ glimpflich überstehen, noch aber ist die türkische Wirtschaft am rettenden Ufer nicht angekommen.

Laut Angaben der staatlichen Statistikbehörde TUIK konnte die Türkei am 28. Mai 2010 über eine Devisenreserve von 71,9 Milliarden US-Dollar verfügen. Dem liegen auch die massiven Privatisierungserlöse zugrunde: während in den Jahren 1985 bis 2002 gerade mal 8 Milliarden US-Dollar eingenommen wurden, wurde in der Erdoganära zwischen 2003 und 2009 44,3 Milliarden US-Dollar aus den Privatisierungen geschöpft. Aber auch die Gesamtverschuldung hat zugenommen: 2008 lag sie, nach heutigem Kurs gerechnet, bei 451,1 Milliarden Euro. (Siehe: www.treasury.gov.tr)

Aus Erdogans Sicht spricht die Schwächung der Inflationsrate für seinen Erfolg. Laut TUIK lag die Inflationsrate zwischen 1995 und 2001 bei rund 72 Prozent, im Mai 2010 aber bei 9,1 Prozent. Auch das rechnerische Prokopfeinkommen (2009) von 8.590,00 US-Dollar wird gerne für den Erfolg zitiert. Aber die Realität wird von der Bevölkerung anders empfunden: von 70 Millionen sind rund 26 Millionen im erwerbsfähigem Alter. TUIK zufolge liegt die Arbeitslosenquote bei 14,4 Prozent (Februar 2010) und die Zahl der Beschäftigten wird mit 22 Millionen angegeben. Hierbei muss jedoch bedacht werden, dass rund 48 Prozent im informellen Sektor beschäftigt sind. Daher sind die indirekten Steuern sehr hoch, was zu einer immensen Belastung der einkommensschwachen Bevölkerungsteile führt. Die Armutsgrenze liegt bei 1.377,28 Euro und die absolute Hungergrenze bei 422,90 Euro – der gesetzliche Mindestlohn aber bei rund 380,00 Euro! Der Organisierungsgrad der Gewerkschaften ist sehr gering, was den gesellschaftlichen Widerstand schwächt. Offiziell gibt es zwar rund 3 Millionen Gewerkschaftsmitglieder, aber selbst die Gewerkschaften sprechen von einer reellen Zahl von einer Million. Diese Realitäten beweisen, dass die Türkei sich zu einem autoritären Labor des Neoliberalismus entwickelt hat.

Fazit

Die »Neo-Osmanen« haben sich erfolgreich in die imperialen Strategien des Westens einbinden können. Dabei wenden sie die Regeln des Neoliberalismus konsequent und unerbittlich an. Ihr »einziger Exportartikel« (G. Soros), die militärische Gewaltmaschinerie, ist die wichtigste Stütze der »neoosmanischen« Strategie. Durch vermeintliche Opposition gegen die USA versuchen sie ihren Einfluss in der Region zu erhöhen, zeigen sich aber gleichzeitig willig, stärker an den NATO-Kriegen zu »partizipieren«. Sie hoffen, dass im Gefolge der gestiegenen außenpolitischen Bedeutung der Türkei mehr ausländisches Kapital ins Land strömt und bereiten sich zielbewusst auf ihre neue Rolle im Nahen und Mittleren Osten vor.

Ob diese Rechnung aufgeht, ist jedoch keineswegs sicher. Noch sind die Konflikte im eigenen Land nicht gelöst, die gesellschaftliche Spaltung nicht überwunden und die akute Gefahr eines Bürgerkrieges nicht abgewendet. Wenn auch eine Achsenverschiebung gen Osten nicht stattgefunden hat – die Strategen der Türkei wollen Selbstbewusstsein demonstrieren und im Hinblick auf die unsichere Zukunft einer erweiterten EU wollen sie als gleichberechtigte Partner anerkannt werden – EU-Mitgliedschaft hin oder her.

Kurzum, während sich die bundesdeutsche Öffentlichkeit auf Afghanistan konzentriert, wächst »weit hinten in der Türkei« ein Problem, das das Zeug hat, auch die Straßen Europas in Brand zu stecken. Eine »subimperialistische« Kraft, die ihren Platz im globalisierten Finanzkapitalismus sucht und bereit ist, dafür (fast) jeden Preis zu zahlen, ist sicher nicht im Interesse der Demokratie und des Friedens. Aber ganz im Interesse der imperialen Mächte.