Publication Soziale Bewegungen / Organisierung Allein gegen alle

Zur 28. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen Mitte November 2008 in Erfurt. Von Jochen Weichold.

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Jochen Weichold,

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November 2008

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Mit Schildern und einem Transparent „Nein zur Kohle“ stürmte die Grüne Jugend das Podium. Nur um dem designierten Spitzenkandidaten-Duo der Partei zur Bundestagswahl 2009 einen überdimensionierten Sargnagel für Kohlekraftwerke zu überreichen. Auf seinem Kopf stand: „Wir nageln Euch fest: Nein zur Kohle.“ Artig nahmen Renate Künast und Jürgen Trittin das Präsent entgegen und versprachen, sich auf diese politische Aussage festnageln zu lassen.

Zwar sind auch auf grünen Parteitagen die Zeiten der überraschenden Podiumsbesetzungen lange vorbei. Doch die Delegierten begrüßten den „Zwischenfall“ als willkommene Abwechslung im Parteitagsmarathon. Die Themenpalette, die die Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) vom 14. bis zum 16. November 2008 in Erfurt abzuarbeiten hatte, reichte von der Energiewende bzw. Energiepolitik über die Finanzmarktkrise, die Verteidigung der Menschenrechte und die Friedens- und Sicherheitspolitik bis zur Rentenpolitik. Zudem waren der Haushalt der Partei zu verabschieden und Satzungsänderungen zu beschließen. Auf dem Programm standen die Wahlen zum Bundesvorstand und zum Parteirat sowie die Bestimmung der Rechnungsprüfer. Nicht zuletzt sollte das Spitzenduo der Partei für die Bundestagswahl im kommenden Jahr durch die Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) in geheimer Wahl demokratisch legitimiert werden. So verwundert es kaum, dass die Behandlung des Themas „Sicher vor Armut im Alter“ aus Zeitgründen schließlich entfiel.

In der Politischen Rede des Bundesvorstandes betonte der nach sechs Jahren aus dem Amt scheidende Parteivorsitzende Reinhard Bütikofer, Die Grünen hätten unter Beweis gestellt, dass sie nicht nur im Parlament Anträge schreiben, sondern auch auf der Straße den Protest mobilisieren können wie am Wochenende zuvor in Gorleben gegen die Castor-Transporte und die Atompolitik der Bundesregierung. Die Grünen fühlten sich ermutigt durch die Renaissance der Anti-Atom-Bewegung als einer ur-grünen Bewegung. Der grüne Aufbruch sei jedoch kein Automatismus. „Wir müssen uns mächtig anstrengen, um die grünen Ziele zu erreichen“, erklärte Bütikofer.

Er versprach, in den Clinch zu gehen mit einer Bundesregierung, die den Umstieg bei der Kfz-Steuer von der Bemessung nach dem Hubraum auf den CO2-Ausstoß von 2008 schrittweise auf 2011 verschiebt, mit der Autoindustrie, die den Umstieg auf den Bau Sprit sparender Autos verschlafen hat, oder mit den Energiekonzernen, die den Umstieg auf erneuerbaren Strom blockieren. „Wir wollen in den Clinch gehen mit einer Bildungspolitik, die – weil die angestrebten Standards nicht erreicht werden – die Standards senken will.“

Auf die aktuelle Finanzmarktkrise eingehend, unterstrich Bütikofer, dass Klimakrise und Finanzmarktkrise eine gemeinsame Ursache haben – nämlich das Versagen von Markt und Staat. Aus der Krise gelte es die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. In Anlehnung an die Politik des New Deal, mit der Präsident Roosevelt die USA in den 1930er Jahren aus der Großen Depression führte, forderte der scheidende Parteivorsitzende daher einen „Grünen New Deal“, wie er in den USA nach dem Wahlsieg von Barack Obama hoffnungsvoll bereits in vieler Munde sei. Es gehe um ein neues gesellschaftliches und internationales Bündnis, das ökologische Verantwortung, soziale Gerechtigkeit und die notwendigen wirtschaftlichen Impulse zusammenbinden soll, um ein Bündnis, das die kritische junge Generation ebenso einschließe wie Handwerker, fortschrittliche Gewerkschafter oder innovative Unternehmer.

Heute sei die Chance eines neuen Aufbruchs für grüne Themen, für grüne Politik vorhanden, rief Bütikofer den rund 800 Delegierten zu. Die Grünen müssten sich jedoch weiterentwickeln, um diese Chance ergreifen zu können und weiterhin erfolgreich zu sein. „Wir müssen uns offenkundig erneuern.“ Dabei gelte es, aus der grünen Vergangenheit sowohl Vision als auch Pragmatismus, sowohl die Fähigkeit zum Kompromiss als auch Kompetenz zu bewahren, dies für eine grüne Zukunft aufzuheben.

„Unser Projekt ist nicht Bindestrich-Grün, sondern einfach nur Grün“, sagte Bütikofer mit dem Blick auf mögliche Koalitionen insbesondere nach der Bundestagswahl 2009. Über Koalitionen müsse nach politischen Inhalten entschieden werden. Da offenbar weder er noch andere aus der grünen Führungsriege derzeit eine tragfähige, realistische Machtperspektive auf Bundesebene sehen, haben sie sich entschlossen, grüne Alleinstellungsmerkmale in den Vordergrund ihrer öffentlichen Präsentation zu stellen. Dazu passte es dann gut, auf der BDK in Erfurt einen Rundumschlag gegen alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien zu führen.

Die Große Koalition habe keine Rezepte für die Zukunft, kritisierte Cem Özdemir in seiner Bewerbungsrede für das Amt des grünen Bundesvorsitzenden. Bundesumweltminister Gabriel stehe für das Auto und nicht für den Klimaschutz. Renate Künast, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, warf der Bundesregierung vor, für die Bankenrettung innerhalb weniger Tage mehr als 500 Mrd. € durch gewunken zu haben, aber eine Erhöhung der Regelsätze für Hartz-IV-Empfänger auf 420 € zu blockieren. Bundestagsfraktionsvize Jürgen Trittin warnte: „Wer CDU wählt, wählt Atom. Und wer SPD wählt, wählt Kohle.“ Wie Hessen zeige, so Künast, wisse die SPD nicht, was sie wolle: Will sie Hermann Scheer mit seinem Solarprogramm folgen oder Jürgen Walter, der für den Ausbau von Flughäfen eintritt?

Cem Özdemir erinnerte daran, dass die FDP in ihrem Wahlprogramm 2005 die Reduzierung des politischen Einflusses im Bankensektor gefordert und darin eine Vergrößerung der Chancen des Bankenstandortes Deutschland ausgemacht hatte. Angesichts dessen sei die Vorstellung absurd, „dass uns ausgerechnet die FDP aus der Finanzkrise und drohenden Rezession führt“. Der FDP Regierungsverantwortung zu übertragen, hieße, den Bock zum Gärtner zu machen.

Doch auch an der Partei DIE LINKE. ließ Özdemir kein gutes Haar: „Was bitteschön ist links oder progressiv daran, den EU-Vertrag und damit die Stärkung der Europäischen Union angesichts der aktuellen Finanzmarktkrise abzulehnen?“ Wer dem Populismus von rechts den Populismus von links gegen das europäische Projekt entgegensetze, der komme aus einer anderen Tradition der deutschen Politik. „Immer fleißig gegen die Amerikaner wettern, aber Russland, China und Kuba eisern die Stange halten, wenn wir auch dort Menschenrechtsverletzungen anprangern, ist unglaubwürdig.“ Und Steffi Lemke, die Politische Geschäftsführerin der Grünen, bezog sich auf den Wende-Herbst des Jahres 1989 und sagte: „Ich lasse mir das Erbe von 1989 nicht von der CDU zerfleddern und nicht von der LINKEN. verfälschen. Ich lasse mir von einer Partei wie der LINKEN., die ehemalige IMs in Parlamente schickt, nicht den Schneid in Sachen Verteidigung der Bürgerrechte abkaufen.“

Ganz bewusst stellten Die Grünen die Themen Energiewende, Finanzmarktkrise und Menschenrechte ins Zentrum ihres Erfurter Parteitages, sind es doch gerade diese Themen, die den Brückenschlag zur Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung und zu den anderen sozialen, globalisierungskritischen Bewegungen ermöglichen. Ein Brückenschlag, für den sich insbesondere die Parteivorsitzende Claudia Roth gegen manche Widerstände in den eigenen Reihen immer wieder eingesetzt hatte. Und das nicht ohne Erfolg, konnten doch mit Sven Giegold von attac und mit Barbara Lochbihler, der Generalsekretärin von amnesty international, ausgewiesene Repräsentanten der sozialen, globalisierungskritischen Bewegungen als neue Mitglieder der grünen Partei und als Kandidaten für die Europa-Wahl 2009 gewonnen werden. Zudem sollen über das Thema Bürger- und Menschenrechte auch jene Kreise angesprochen werden, die sich mit den Idealen des Aufbruchs im Herbst 1989 in der DDR identifizieren, der sich im kommenden Jahr zum zwanzigsten Male jährt.

In der Energiepolitik waren sich die Delegierten auf der BDK in Erfurt darüber einig, dass in Deutschland eine andere Energiepolitik erforderlich ist. Der Atomausstieg müsse abgesichert, der Bau neuer Kohlekraftwerke abgelehnt und der Umstieg auf erneuerbare Energien forciert werden. Strittig waren jedoch drei Fragen: Erstens war strittig, ob der Bau neuer Gaskraftwerke gleichermaßen abzulehnen sei wie die Errichtung neuer Kohlekraftwerke. Die Gegner neuer Gaskraftwerke verwiesen darauf, dass Erdgas wie Kohle ein fossiler Brennstoff ist. Diejenigen, die Gas- und Kohlekraftwerke nicht über einen Leisten schlagen wollten, argumentierten, dass Gaskraftwerke zu einem späteren Zeitpunkt auch mit Biogas betrieben werden könnten. Ein Argument, das sich schließlich durchsetzte.

Zweitens schieden sich die grünen Geister an der Frage des Tempos der Energiewende im Strombereich. Während die Partei- und Fraktionsspitze als Ziel vorgab, bis 2020 mehr als 40 Prozent des Stroms aus regenerativen Quellen zu erzeugen, hielten Teile der Basis eine hundertprozentige Versorgung aus diesen Quellen schon 2020 oder 2030 für machbar und beriefen sich dabei auf den früheren US-Vizepräsidenten Al Gore. Jürgen Trittin setzte dagegen, dass das Klimakonzept, für das Al Gore werbe, eine Stromproduktion zu 17 Prozent aus Kernenergie vorsehe, was für die USA rund 100 Atomkraftwerke bedeute.

Drittens ging es um die Frage, wie schnell der Umstieg bei erneuerbaren Energien insgesamt erfolgen könne. Vertreter der Parteiführung plädierten in dieser Frage für Realismus und Mäßigung und wollten für 2020 lediglich 40 Prozent der Energieerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen festschreiben. Basisvertreter forderten dagegen immer wieder zeitlich kürzere Szenarien und wollten einen hundertprozentigen Umstieg zeitlich fixieren. Als ihr Sprachrohr profilierte sich Hans-Josef Fell, der energiepolitische Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, der mit seinem radikalen Antrag dafür plädierte, sich in Deutschland auf das Jahr 2040 für die vollständige Abdeckung des Energiebedarfs aus regenerativen Energiequellen festzulegen.

In der zweiten und dritten Frage folgten die Delegierten letztlich einem Kompromiss-Vorschlag des früheren Umweltministers Jürgen Trittin, der das Problem auf die europäische Ebene gehoben hatte, und beschlossen: „Europa hat sich verpflichtet alles zu tun, dass die globale Erwärmung auf 2 Grad begrenzt wird. Dafür muss der CO2-Ausstoß der Welt halbiert werden. Für Europa heißt dies, 80 % Reduktion bis 2050. Spätestens dann müssen wir 100% unserer Energie erneuerbar bereitstellen. Wir streben an, dieses Ziel bereits 2040 zu erreichen. Deshalb werden wir uns anstrengen, Strom 2030 komplett erneuerbar zu erzeugen.“

Intensiv beschäftigte sich der Parteitag mit der Finanzmarktkrise und mit der sich immer deutlicher abzeichnenden Krise der Realwirtschaft, die zudem mit der Klima- und der Nahrungsmittelkrise verflochten sind. Die Grünen sehen in diesen miteinander verbundenen Krisen vor allem ein Versagen des neoliberalen Modells und seiner deregulierten Märkte, das Ergebnis einer jahrzehntelangen Liberalisierungs- und Deregulierungspolitik. „Alle drei Krisen sind das Ergebnis globalen Markt- und Politikversagens und erfordern korrigierende Eingriffe der Politik in Bezug auf die Rahmenbedingungen und Standards, die für die Märkte gelten.“

Als Ausweg aus der entstandenen Situation schlägt die Öko-Partei einen „Grünen New Deal“ vor, wie ihn Bütikofer in seiner Abschiedsrede skizziert hatte: „Die Zeit ist reif für einen Grünen New Deal, der die Bekämpfung der Finanzkrise mit entschiedenem Klimaschutz und Maßnahmen zur Verringerung der globalen Armut zusammenbringt.“ Allein um die Folgen des Klimawandels in beherrschbaren Grenzen zu halten, seien jährliche globale Investitionen in dreistelliger Milliardenhöhe in Energieeffizienz, Erneuerbare Energien und Anpassung an die klimatischen Bedingungen notwendig.

Als Sofortmaßnahme wollen Die Grünen in Deutschland und in Europa mit einem konzentrierten sozial-ökologischen Investitionsprogramm gegen die Rezessionsgefahr angehen. Massive Investitionen (jährlich im Bereich zweistelliger Milliarden-Euro-Beträge) müssten in Klimaschutz, Infrastrukturen der Zukunft (Schienenwege, ÖPNV), Bildung und Sozialpolitik fließen. Der Staat müsse die „entfesselten Finanzmärkte“ stärker regulieren und notfalls Banken teilweise verstaatlichen. Er dürfe seine Sicherung gegenüber den Banken nur gegen Mitsprache- und Kontrollrechte leisten. Erforderlich seien die (Wieder-)Einführung einer Vermögenssteuer in Deutschland und die Austrocknung von Steueroasen. Dringlich seien eine europäische Wirtschaftsregierung und nicht zuletzt eine neue globale Finanzverfassung. Verwundert reibt sich der Beobachter die Augen, dass selbst grüne Realos wie der Chef der Bundestagsfraktion, Fritz Kuhn, in diesen Tenor einstimmten, hatten sie doch noch im Sommer 2006 in einem Wirtschaftspapier mit dem Titel „MehrWert – Grüne Marktwirtschaft“ die „unsichtbare Hand des Marktes“ in Anlehnung an Adam Smith als innovatives, grünes Instrument gelobt und ein Hohelied auf den Markt und die ihn selbst regulierenden Kräfte gesungen.

Umstritten waren auf der BDK die Forderungen, den Finanzsektor mit einer Sonderabgabe an den Kosten für das Rettungspaket der Bundesregierung zu beteiligen, nach Einführung einer Finanzumsatzsteuer auf europäischer Ebene, nach Erhebung einer Vermögensabgabe und nach Einführung eines Energiesparbonus. Der Landtagsabgeordnete Winfried Kretschmann aus Baden-Württemberg beantragte die Streichung sowohl der geplanten Einführung einer Finanzumsatzsteuer auf europäischer Ebene als auch der vom Bundesvorstand vorgesehenen Sonderabgabe des Finanzsektors, weil dadurch auch Sparkassen und Volks- und Raiffeisenbanken mit ihrem mittelstandsfreundlichen Geschäftsmodell belastet werden würden. Er konnte sich aber ebenso wenig durchsetzen wie eine Gruppe um Robert Zion, der 2007 mit seinem widerständigen Kreisverband Gelsenkirchen den Göttinger Sonder-Parteitag zu Afghanistan initiiert hatte und nun die Sonderabgabe des Finanzsektors durch eine Vermögensabgabe ersetzen wollte. Während der Antrag des Bundesvorstandes einen Energiesparbonus vorschlug, der alle Bürgerinnen und Bürger beim Energiesparen unterstützen sollte, folgte die Mehrheit der Delegierten jenen, die eine Lenkungswirkung dieses Bonus – gemessen am Aufwand (50 € pro Kopf und Jahr für energiesparende Geräte, mithin 4 Mrd. € plus hohen Verwaltungskosten) – bezweifelten, und stimmte für die Streichung dieser Passage.

Den 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nahmen Die Grünen zum Anlass, um das Thema Menschenrechte in einem eigenen Tagesordnungspunkt zu behandeln. Claudia Roth wandte sich gegen jegliche Hierarchisierung von Menschenrechten: „Menschenrechte sind unteilbar. Sie dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.“ Freiheitsrechte seien ebenso unverzichtbar wie soziale Rechte. Auch die Bekämpfung des Terrorismus dürfe nicht zur Beeinträchtigung der Menschenrechte führen.

Die Grünen erklärten in einem entsprechenden Beschluss, die Menschenrechte zur Grundlage und zum roten Faden ihrer Politik zu machen: „Wir gewähren bei Verletzungen der Menschenrechte keinen Rabatt wegen wirtschaftlicher oder politischer Interessen. Wir stellen an uns dieselben Anforderungen, die wir an andere herantragen. Daher beginnt Menschenrechtsschutz im eigenen Land!“ In diesem Kontext sprachen sich die Delegierten gegen das neue BKA-Gesetz aus und forderten einen umfangreichen Datenschutz. Sie verlangten, im internationalen Dialog mit allen verantwortlichen Akteuren aus Nord und Süd dem Menschenrecht auf Nahrung höchste Bedeutung beizumessen und die Armutsbekämpfung zur prioritären Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft zu machen. Sie forderten die Schließung des US-Gefangenenlagers auf Kuba und verlangten von Bundeskanzlerin Merkel die Bereitschaft, Gefangene aus Guantanamo aufzunehmen.

Versuche eines Teils der Delegierten, die Lage der Palästinenser unter der israelischen Besatzung zu thematisieren oder eine Verurteilung der Anwendung der Scharia zu erreichen, konnten von einer geschickten Parteitagsregie, die offenbar diplomatische Verwicklungen fürchtete, abgewehrt werden. Beide Vorstöße zeigen aber, dass Die Grünen, die oft – und das nicht zu Unrecht – andere Parteien wegen einer inkonsistenten Menschenrechtspolitik kritisieren, selbst noch einige Baustellen haben, die der Bewältigung bedürfen.

Bei der Diskussion des 50seitigen Berichts der friedenspolitischen Kommission von Bündnis 90/Die Grünen gingen die Delegierten der Frage nach, wie die Friedens- und Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts aussehen sollte. Dabei räumten die Bundestagsabgeordnete Kerstin Müller als ehemalige Staatsministerin im Auswärtigen Amt und die frühere Parteivorsitzende und jetzige Europa-Abgeordnete Angelika Beer Fehler in der rot-grünen Regierungszeit insbesondere mit dem Blick auf die Konflikte auf dem Balkan ein. Volker Beck, der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen im Bundestag, verlangte, die von der UNO-Vollversammlung 2005 beschlossene „Responsibility to Protect“ zu einer „Responsibility to Prevent“ weiterzuentwickeln. Fritz Kuhn, der Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, trat für die Stärkung der UNO ein und erklärte: „Wir wollen keine Militärmacht Europa, sondern eine Zivilmacht Europa.“ Claudia Roth verlangte einen Strategiewechsel für Afghanistan. Das Ungleichgewicht zwischen dem Einsatz militärischer Mittel und dem Einsatz ziviler Mittel müsse zugunsten des Zivilen umgeschichtet werden.

Strittig waren bereits bei der Erarbeitung des Berichts die Haltung zur NATO und die Positionierung der Grünen zur Rolle der Bundeswehr als weltweite Streitmacht und zur Frage der Rüstungsexporte. Nur wenige Delegierte um den Parteilinken Karl-Wilhelm Koch lieferten auf der BDK dazu noch ein Nachhutgefecht. Auch der Versuch einer größeren Gruppe von Delegierten, in den Antrag des Bundesvorstandes eine längere Passage zum Kosovo-Konflikt einzufügen, scheiterte. Der Delegierte Maximilian Pichl kritisierte, dass die BRD noch immer einer der größten Waffenexporteure der Welt sei, und forderte, dass sich das bei einer erneuten grünen Regierungsbeteiligung nicht wiederholen dürfe.

Insgesamt folgten die Delegierten dem von allen Parteiflügeln mitgetragenen Kommissionsbericht mit seinen Kompromissformeln, der bei aller Kritik am militärischen Vorgehen keine generelle Absage an den Einsatz militärischer Gewalt als letztes Mittel in Ausnahmefällen enthält. Allerdings gehöre das Primat der zivilen Krisenprävention, und Die Grünen wollen Auslandseinsätze der Bundeswehr nie mehr ohne ein Mandat der UNO beschließen. Die Bundeswehr müsse UN-fähiger und europatauglicher werden. „Nicht Landesverteidigung, sondern multilaterale Friedenssicherung im Rahmen und Auftrag der Vereinten Nationen ist die aktuelle sicherheitspolitische Herausforderung.“ Die Delegierten beschlossen, dass die Bundeswehr auf 200.000 Personen verkleinert und die Wehrpflicht abgeschafft werden soll. Die NATO bleibe notwendig, heißt es im Beschluss der Erfurter BDK, „weil es zur Zeit keinen anderen Akteur gibt, der die gemeinsame Sicherheit Europas garantieren kann und der als Staatenbündnis einer Renationalisierung der Sicherheitspolitik entgegen wirkt.“ Die NATO müsse dabei in eine multilaterale Sicherheitsarchitektur integriert werden.

Die Wahlen zum Bundesvorstand der Grünen verliefen unspektakulär. Für Reinhard Bütikofer, der sich im nächsten Jahr um ein Mandat im Europa-Parlament bewerben will und nicht wieder zur Wahl des Bundesvorsitzenden antrat, wurde Cem Özdemir mit 79,2 Prozent der Stimmen gewählt. Mit Özdemir, der wie Bütikofer dem Realo-Lager zugerechnet wird, tritt erstmals in der BRD ein Politiker mit Migrationshintergrund an die Spitze einer der im Bundestag vertretenen Parteien. Er will die Sozial- und die Bildungspolitik zu einem Schwerpunkt seiner Arbeit machen.

Als Co-Vorsitzende wurde die zu den Parteilinken zählende Claudia Roth im Amt bestätigt. Mit 82,7 Prozent der Stimmen erzielte sie ein deutlich besseres Ergebnis als vor zwei Jahren, als sie 66,5 Prozent erreichte. Insgesamt ist der neue Bundesvorstand der Öko-Partei (mit Ausnahme von Özdemir) der alte (siehe Anlage). Das politische Kräfteverhältnis in diesem Gremium hat sich damit nicht verändert.

Auch die Wahlen zum Parteirat, der als Koordinationsgremium der wichtigsten Führungspolitiker im Bund und in den Ländern gilt, brachten wenig Veränderung (siehe Anlage). Als kleine Sensation gilt lediglich zu vermelden, dass der Bundestagsfraktionsvorsitzende und knallharte Realo Fritz Kuhn, ein Verfechter der gescheiterten Afghanistan-Politik der rot-grünen Regierung, den Rückhalt einer nach links driftenden Parteibasis verloren hat und künftig nicht mehr im Parteirat vertreten ist. Für Julia Seeliger, die vor zwei Jahren im Pippi-Langstrumpf-Look in den Parteirat eingezogen war, bewarb sich diesmal Arvid Bell erfolgreich für den Platz des aufmüpfigen linken Jung-Grünen in diesem Gremium. Seeliger hatte zuvor in einem Bericht auf ihrer Homepage gefordert, den Parteirat von einer Runde, die nur dazu diene, Sprachregelungen abzustimmen, zu einem Think Tank der grünen Partei aufzuwerten.

Sowohl im Bundesvorstand als auch im Parteirat besteht ein leichtes Übergewicht des linken Parteiflügels gegenüber dem Realo-Lager. Inhaltlich hat der inzwischen tief zerstrittene Realo-Flügel jedoch mehr an Schlagkraft verloren, als aus dem Scheitern der Kandidatur von Fritz Kuhn bei der Parteiratswahl abzulesen ist. Die oben dargelegten inhaltlichen Positionsbestimmungen der Partei sprechen da für sich selbst.

Erstmals wurden die Spitzenkandidaten der Grünen zu einer Bundestagswahl in geheimer Abstimmung auf einer BDK gewählt. Das Duo Renate Künast und Jürgen Trittin erhielt 92 Prozent der Delegiertenstimmen. Sie wollen mit den Themen „Klimagerechtigkeit“ und „Freiheit“ in einen Wahlkampf ziehen, für den im Haushalt der Partei fünf Mio. € bereit gestellt werden.

*   *   *

Im Ergebnis der 28. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz der Öko-Partei bleibt festzuhalten:

Erstens haben sich Die Grünen mit ihrem Parteitag in Erfurt auf die Wahlkämpfe des Jahres 2009 mit acht Kommunal-, fünf Landtags-, den Bundestags- und nicht zuletzt den Europa-Wahlen eingestimmt. Der Parteitag diente der Motivierung und Mobilisierung der Basis durch das Herausstellen der Wahlerfolge insbesondere in Bayern und Niedersachsen, wieder wachsender Mitgliederzahlen (auf fast 45.000 Mitglieder) und insgesamt guter Umfragewerte bei der sogenannten Sonntagsfrage.

Zweitens war die BDK aber auch dadurch geprägt, dass den Grünen derzeit eine realistische Machtperspektive auf Bundesebene fehlt. Daher haben sie einerseits in Erfurt versucht, die eigenen politischen Inhalte in den Vordergrund zu stellen, und sich gegenüber allen anderen Bundestagsparteien abgegrenzt. Andererseits haben sie in ihren Beschluss-Papieren Positionen mit sehr weitreichenden finanziellen Konsequenzen fixiert, auf die sie mit dem Blick auf einen größeren Koalitionspartner ganz sicher verzichtet hätten. Obwohl Kompromiss-Papiere, zeigen sie deutlich die Handschrift jener in der grünen Partei, die radikale Forderungen zum Klimaschutz vertreten und für regulierende Eingriffe eines starken Staates in den Markt plädieren.

Drittens konnten Die Grünen in der thüringischen Landeshauptstadt auf den neuen Schulterschluss mit den sozialen, globalisierungskritischen Bewegungen verweisen. Dafür stand, dass bei den Castor-Blockaden in Gorleben am Wochenende zuvor nahezu die gesamte Bundesprominenz der Partei medienwirksam vor Ort war und damit die Anti-AKW- und Umweltbewegung stärkte. Dafür stand die intensive Befassung mit den Themen Energiewende, globale Finanzmarktkrise und Menschenrechte. Dafür steht, dass die Partei ausgewiesene Repräsentanten der sozialen, globalisierungskritischen Bewegungen als neue Mitglieder und als Kandidaten für die Europa-Wahlen gewinnen konnte. Ein Schachzug, mit dem Die Grünen hoffen können, im letzten Jahrzehnt verlorene Wählerstimmen aus diesem Lager zurückzuholen.

Jochen Weichold

Anhang

1. Zusammensetzung des Bundesvorstandes der Grünen

Amt

seit der BDK in Erfurt 2008

von 2006 bis 2008

Bundesvorsitzende:

Roth, Claudia

Roth, Claudia

Bundesvorsitzender:

Özdemir, Cem

Bütikofer, Reinhard

Politische Geschäftsführerin:

Lemke, Steffi

Lemke, Steffi

Bundesschatzmeister:

Strehl, Dietmar

Strehl, Dietmar

Beisitzerin und Frauenpolitische Sprecherin:

Rothe-Beinlich, Astrid

Rothe-Beinlich, Astrid

Beisitzer:

Spitz, Malte

Spitz, Malte

2. Zusammensetzung des Parteirates der Grünen

seit der BDK in Erfurt 2008

von 2006 bis 2008

Al-Wazir, Tarek

Al-Wazir, Tarek

Beck, Volker

Beck, Volker

Bell, Arvid

Bütikofer, Reinhard

Hajduk, Anja

Harms, Rebecca

Harms, Rebecca

Hermenau, Antje

Hermenau, Antje

Höhn, Bärbel

Höhn, Bärbel

Kretschmann, Winfried

Künast, Renate

Kuhn, Fritz

Lemke, Steffi

Künast, Renate

Loske, Reinhard

Lemke, Steffi

Özdemir, Cem

Loske, Reinhard

Ratzmann, Volker

Roth, Claudia

Roth, Claudia

Sager, Krista

Schick, Gerhard

Schopper, Theresa

Schopper, Theresa

Seeliger, Julia

Trittin, Jürgen

Trittin, Jürgen