Publication Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Soziale Bewegungen / Organisierung - Europa - Westeuropa Wo ist die Bewegung, wenn sie gebraucht wird?

Nuit Debout steht für Proteste gegen Korruption und eine sehr, sehr weit von ihren politischen Idealen entfernte Präsidentschaftswahl

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Karina Kochan,

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March 2017

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Foto: Franziska Albrecht

In dieser einen Nacht ist die Pariser Place de la République erneut brechend voll. Die Presse spricht von Hunderten, die AktivistInnen von Tausenden, die – wie letzten Frühling – auf dem Boden sitzen und miteinander diskutieren. Worüber sie sprechen? Über den Sturz der plutokratischen Oligarchie (gr. ploutos: Reichtum) und die Errichtung einer von den BürgerInnen gewählten partizipativen Demokratie. Am Abend dieses 19. Februar oder, nach Nuit‑Debout‑Zeitrechnung, des 354. März, erwacht die Bewegung überraschend aus ihrem zehnmonatigen Dornröschenschlaf. Und die NuitsdeboutistInnen sind nicht aus der Übung gekommen: zwei Minuten Redezeit, mit den Händen wedeln als Zeichen der Zustimmung, die Unterarme kreuzen als Zeichen des Widerspruchs, mit den Fingern über dem Kopf ein Dach bilden als Bitte um Ruhe. Die alte Begeisterung und Freude, die frühere Hoffnung und Entschlossenheit der Massen, die Geschichte neu zu schreiben, erobern den überfüllten Platz. Doch schon am nächsten Morgen kehrt wieder seltsame Stille ein.

Diese Bewegung, die das Land gleichermaßen faszinierte und beunruhigte, feiert mitten im Präsidentschaftswahlkampf ihr einjähriges Bestehen. Doch wo ist Nuit Debout geblieben? Wo verbirgt sie ihren Erfahrungsschatz in Sachen Demokratie, nun, da sich die Situation zuspitzt? Werden die aufrechten Schlaflosen mit den großen Träumen auf die politische Bühne zurückkehren?
 

Den Herrschenden Angst machen

Die Bewegung beansprucht, ohne AnführerIn oder SprecherIn auszukommen, hat aber durchaus einen Initiator: das Kollektiv Convergence des luttes[1], welches die landesweite Mobilisierung gegen das Arbeitsgesetz und den Erfolg der Satire‑Doku Merci Patron![2] ausnutzte, um verschiedene politische Kämpfe mit dem Ziel zu vereinen, den Herrschenden Angst zu machen.

Vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit, der wachsenden sozialen Ungleichheiten und der Anschläge sowie des Ausnahmezustandes und des Erstarkens des Front National will das Kollektiv den BürgerInnen, die sich von François Hollande, dem selbsternannten Feind des Finanzkapitals, wegen dessen liberaler Politik verraten fühlen, eine Plattform bieten: WohnrechtsaktivistInnen, GlobalisierungskritikerInnen, Feministinnen, GegnerInnen des Flughafens Notre‑Dame‑des‑Landes, Goodyear‑Angestellten und sich gegen die Bildungsreform oder das Arbeitsgesetz aussprechenden LehrerInnen. Sie nutzen den Schwung einer für den 31. März angesetzten Demonstration gegen die Arbeitsrechtsreform für die Mobilisierung ihrer Protestversammlung. Zur allgemeinen Überraschung folgen tausende Menschen dem Aufruf in den sozialen Netzwerken und besetzen erstmalig die für ihre Forderungen symbolische Place de la République. Schon am nächsten Tag tut es ihnen das ganze Land gleich.
 

DIY‑Demokratie

TeilnehmerInnen wie BeobachterInnen werden von ansteckender Hoffnung ergriffen, auf dem Platz herrscht begeisterte Aufbruchsstimmung. AktivistInnen, SchülerInnen, AnwohnerInnen, Geflüchtete, leitende Angestellte, ArbeiterInnen – alle machen mit. Alle können auf den Vollversammlungen das Wort ergreifen, es gibt keine Tagesordnung und keinen Produktivitätszwang. Um das Plenum herum organisiert sich das Protestcamp: ArchitektInnen bauen Hütten, LandwirtInnen legen Gemüsebeete an, AnwältInnen bieten Rechtsberatung, KöchInnen zaubern Essen auf Spendenbasis, JournalistInnen erstatten aufrecht Bericht. Die Place de la République wird zum offenen Experimentierfeld. Nach den frühmorgendlichen Räumungen werden die Zelte und Planen, die Tonanlagen und Kochstellen kurzerhand wieder aufgebaut. Die Menschen kommen immer wieder auf die République, mit wachsender Motivation, trotz Kälte und Regen. Manche haben sogar ihre Arbeit gekündigt und sich dauerhaft auf dem Platz eingerichtet. Dank der Liveübertragung der Vollversammlungen über Periscope und der sozialen Netzwerke konnten Millionen Menschen online mobilisiert werden.

Nach ihren ersten drei Monaten hat sich das Interventionsrepertoire der Bewegung erweitert: Die AktivistInnen kehren zum Apéro vor Valls‘ Wohnsitz ein, veranstalten ein Picknick in einem Carrefour‑Supermarkt, besetzen Filialen von McDonalds oder der Bank BNP Paribas, blockieren geplante Abschiebungen, kapern das Théâtre de l’Odéon oder stürmen eine Sitzung des Conseil Municipal[3]. Nach dieser revolutionären Erfahrung, diesem berauschenden Gefühl, gemeinsam die Welt zu verändern zu können, fällt es vielen schwer, wieder ins normale Leben zurückzukehren. So erging es auch Camille, die die Bewegung seit ihrer Geburtsstunde begleitet hat und sich an magische Momente erinnert, beispielsweise eine Vollversammlung, die aufgrund einer Polizeiblockade ohne Tonanlage auskommen musste, woraufhin alle TeilnehmerInnen das Gesagte einfach an die hinter ihnen Sitzenden weitergaben. Voller Wehmut erinnert sich Camille an den Zauber dieses Augenblicks.

Doch die Bewegung blickt auch auf weniger glorreiche Momente zurück: In der Gemeinde Lannion hat Nuit Debout Enthauptungen von Abgeordneten inszeniert; der Essayist Alain Finkielkraut und Mitglieder der Bewegung gegen die gleichgeschlechtliche Ehe Les Veilleurs[4] beklagten, von einem Platz verwiesen worden zu sein, „auf dem Demokratie und Pluralismus herrschen sollten“.[5] Zahlreiche Aprilnächte waren zudem von gewaltsamen Ausschreitungen zwischen Polizei und NuitdeboutistInnen geprägt. Die Journalistin Aude Favre, die die Bewegung begleitet hat, findet für das Verhalten der Polizei kritische Worte: „Nuit Debout hat mir dir Augen über die Polizei und ihre Machenschaften geöffnet. Ich konnte beobachten, mit welchen Taktiken die BeamtInnen die Menschen sabotiert, blockiert und zermürbt haben“.[6]

Eine Definition von Nuit Debout gestaltet sich schwierig, wenn nicht unmöglich: Die Ziele der Bewegungen bestehen aus der Summe der Ziele ihrer Mitglieder, ihr Selbstverständnis aus jenem ihrer TeilnehmerInnen. Manche vergleichen sie mit den spanischen Empörten, der Occupy‑Bewegung oder auch der Besetzung des griechischen Syntagma‑Platzes 2011. Für den auf politische Geschichte spezialisierten Historiker Jean Garrigues hat die schwindende Durchsetzungskraft des politischen Systems ein Bedürfnis nach mehr Demokratie geweckt, vergleichbar mit einem kleinen Mai ’68 oder der Pariser Kommune.[7]

Bei allen Meinungsverschiedenheiten unter NuitdeboutistInnen liegt ihr gemeinsamer Nenner in ihrer linkspolitischen Positionierung sowie dem Willen zum Kampf gegen das System, den Ultraliberalismus und die durch ihn verschärften sozialen Ungleichheiten. Die Bewegung kämpft für eine von den BürgerInnen gestaltete direkte Demokratie und gegen das Artikulationsmonopol der Abgeordneten, ExpertInnen und großen Medienkonzerne. Die Bewegung hat sich längst dem Einfluss des Gründungskollektivs entzogen, und niemand weiß, welche Wege sie in Zukunft einschlägt.
 

Die Schlaflosen werden müde

„Die Besetzung des öffentlichen Raums war ein starkes Zeichen, aber kein Selbstzweck“, urteilt François Ruffin, ursprünglich Mitglied des Gründungskollektivs. „Ich verstehe die Entscheidungsstrukturen auf der République nicht mehr. Da wird gesagt, die Struktur von Nuit Debout müsse katalogisiert werden, mit allen wichtigen AkteurInnen, AGs und Unter‑AGs. Gut, aber wenn du heute 85 AGs zählst, dann sind morgen oder übermorgen vielleicht schon zehn neue dazugekommen.“[8] Auf der einen Seite drehen sich die Vollversammlungen mangels Tagesordnung oder Entscheidungsmacht im Kreis, auf der anderen Seite zersplittert die Bewegung gerade durch die Schaffung von Arbeitsgruppen zur Umsetzung von Worten in Taten in zahlreiche Untergruppen. Zudem hat Manuel Valls’ Entscheidung vom 10. Mai 2016, die Arbeitsrechtsreform mithilfe des Notstandsparagrafen 49.3 am Parlament vorbei umzusetzen, die Massen ernüchtert. Erschwerend hinzu kamen der Regen, abgebrochene Streiks, Erschöpfung, Ferien und Prüfungen, Ausgangssperren und Polizeigewalt sowie die zunehmend negative Berichterstattung, die ihren Höhepunkt erreicht, als gewaltbereite DemonstrantInnen die Fenster des Kinderkrankenhauses Hôpital Necker einschlagen. Bereits ab Juni zählt die Vollversammlung nicht mehr als eine Handvoll TeilnehmerInnen.

Doch für Camille, die immer noch jede Woche auf die République kommt, liegen die Gründe für das Abebben der Bewegung woanders. Nuit Debout habe das reproduziert, was sie am meisten ablehnte: selbstverliebte Führungspersönlichkeiten. So manche schlüpften eher unreflektiert in die Rolle der „kleinen Chefs“, was erhebliche Konflikte schürte, die neben den „nicht enden wollenden Diskussionen einer Vollversammlung ohne Abstimmungsmodus“ die „klugen Köpfe vergraulten“. Wie lässt sich eine selbstverwaltete Bewegung verwalten? Wer bekommt die AdministratorInnenrechte für Facebook? Wie kann eine Bewegung ohne Führungspersönlichkeit erfolgreich sein? Wie kann die eigene Identität definiert werden, ohne dabei andere auszuschließen? Auf all diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Für Antoine, der sich auch trotz allem immer noch engagiert, mangelt es in Frankreich an wirklichen Erfahrungen im Bereich horizontaler Entscheidungsstrukturen und selbstverwalteter, demokratischer Organisation.
 

Und heute?

Manche unbeugsamen Gruppen hören nicht auf, Widerstand zu leisten. Andere haben sich neuen Projekten zugewandt. In Valence, Brüssel, Quimper, Guimgamp und Le Havre hat sich Nuit Debout aufgelöst. Doch in Grenoble finden weiterhin wöchentliche Treffen statt (hier entstand ein Bauernhof‑ und Gartenprojekt sowie eine besonders aktive AG‑Gemeinwohl), in Straßburg werden Konzerte organisiert, in Martinique Filme vorgeführt, in Toulouse gibt es einen eigenen Online‑Fernsehsender und ein Interventionskollektiv, in Cergy finden regelmäßige Treffen in einem Café statt, in Marseille liegt der Schwerpunkt auf Geflüchtetenhilfe, in La Réunion gibt es monatliche Agoras, in Dunkerque wird der öffentliche Raum mit Fotos der BürgerInnen verschönert und in Montpellier wird gegen den Ausnahmezustand demonstriert.

Auf dem noch jungen Gemeinschaftsportal lokaler Initiativen Jour Debout[9] werden für den Tag des ersten Wahlgangs am 23. April alle Menschen, die „nicht ins WählerInnenverzeichnis eingetragen sind, nicht an die Urnen gehen oder ungültig wählen und die sich nicht mit der Wahl als einzigem Mittel zur gesellschaftlichen Teilhabe zufriedengeben“,[10] zu Versammlungen auf den öffentlichen Plätzen des Landes aufgerufen, um ihrer Forderung nach echter Demokratie Nachdruck zu verleihen.

Und in Paris? Hier gab es in den Wintermonaten verschiedene kleinere Treffen: Sonntags fanden ab 14 Uhr auf der Place de la République Vollversammlungen statt und mittwochs wurde zum Koordinierungstreffen in das Projektzentrum Les Grands Voisins eingeladen. Wie viele andere auch ist Antoine von den jüngsten Entwicklungen enttäuscht: „Ich besuche die Versammlung nur noch widerwillig, um sicherzustellen, dass es überhaupt weitergeht. Es war schon einmal schlimmer, aber diese Treffen bringen uns einfach nicht weiter“.

Wie zahlreiche andere übriggebliebene NuitdeboutistInnen widmet er sich aktuell einem neuen Projekt, von dem er sich mehr erhofft als von den aktuellen Versammlungen: Er beteiligt sich an der Vorbereitung einer verfassungsgebenden BürgerInnenversammlung, um den Verfassungstext neu zu schreiben, wie dies in Island bereits geschehen ist. Zu diesem Zweck wurden im Frühling im ganzen Land Beschwerdelisten ausgelegt. Die Stimmen der BürgerInnen wurden von Nuit Debout in Rennes anlässlich des nahenden einjährigen Bestehens der Bewegung am 1. April in Form einer Broschüre mit dem Titel Vorschläge des 32. März veröffentlicht. Diese Vorschläge umfassen neben einer Senatsreform beispielsweise die Berücksichtigung von Stimmenthaltungen bei den Auszählungen, per Losverfahren besetzte SchöffInnengerichte, eine Neudefinition des Parlamentsvorbehaltes, ein Verbot der Ämterhäufung und eine zeitliche Begrenzung der Abgeordnetentätigkeit. Bei der Ausarbeitung dieser Vorschläge haben sich die AktivistInnen fachkundige Unterstützung bei ExpertInnen wie Loïc Blondiau, Dimitri Courant, Yves Sintomer, Jacques Testart oder Florence Gautier geholt und sich mit BürgerInneninitiativen wie beispielsweise dem Edgar Morin nahestehenden Kollektiv Les jours heureux[11] zusammengetan. Wie soll die gerechte Gesellschaft aussehen? Wie kann das Gute Leben jenseits des Wohlstandes erreicht werden? Insbesondere die von Habermas inspirierten AktivistInnen stellen sich viele Fragen über den Ausstieg aus dem autoritären Regime und der aktuellen republikanischen Oligarchie, während doch gerade in den nächsten Wochen eine ideale Gelegenheit zum politischen Wandel ansteht: die Präsidentschaftswahl.
 

Die Wahl hacken!

In Frankreich dreht sich momentan alles um die Fillon‑Affäre. Dem ehemaligen Premierminister wird vorgeworfen, durch Scheinbeschäftigung seiner Frau und Kinder fast eine halbe Million Euro eingesackt zu haben – das in der Vermögenserklärung nicht aufgeführte Darlehen in Höhe von 50.000 Euro und die mysteriösen 48.500 Euro für geschenkte Luxusanzüge nicht mitgerechnet. Hinzu kommen die ebenfalls wegen Scheinbeschäftigung und Veruntreuung eingeleiteten Ermittlungen gegen den Front National[12], die Zersplitterung der großen Parteien und, als wäre das nicht schon genug, der Parlamentsbeschluss bezüglich einer auf zwölf Jahre verkürzten Verjährungsfrist bei Veruntreuung, Korruption, Unterschlagung öffentlicher Mittel und anderen verheimlichten Straftaten.

Angesichts dieser Umstände will Nuit Debout die Wahl hacken[13], doch über die geeignete Methode herrscht Uneinigkeit. Soll mit der massenhaften Stimmabgabe zugunsten Mélenchons für einen Überraschungseffekt gesorgt werden? Der Front National mit Hamon ausgekontert werden? Eine Nuit‑Debout‑Partei gegründet werden? Die Illusion von Demokratie mit leeren oder ungültigen Stimmen demaskiert werden? Letztlich passiert nichts, da es an Konsens und treibenden Kräften fehlt. Dennoch ist Nuit Debout am Abend des 19. Februar zurück, die Place de la République proppenvoll, die Vollversammlung eröffnet.
 

Ist Nuit Debout zurück?

Die Rückkehr von Nuit Debout wird – ohne, dass er dies beabsichtigt hätte – von Vincent Galtier eingeleitet, einem über die Entwicklungen des Wahlkampfes empörten und von den Protesten in Rumänien inspirierten Bürger, den zuvor niemand kannte. Zu seiner großen Überraschung folgen 50.000 Menschen seinem Facebook‑Aufruf zur Anti‑Korruptions‑Demo auf der Place de la République. Von dieser Resonanz überfordert, bittet er jene um Unterstützung, die über die nötige Erfahrung verfügen: Nuit Debout. Mit seiner Bitte um logistische Hilfe für die Tontechnik, Zelte, Moderation und Anmeldung der Demonstration hat er die Bewegung wieder zum Leben erweckt. Auch Antoine ist an diesem Abend gekommen und tief bewegt, die Aufbruchsstimmung des letzten Frühlings erneut zu erleben. Doch am nächsten Morgen gehen alle wieder ihren üblichen Beschäftigungen nach. Die folgenden Versammlungen werden nur spärlich besucht und Nuit Debout verschwindet wieder von der Bildfläche.

Momentan kann niemand sagen, ob die Bewegung zurückkehren wird. Zu ihrem einjährigen Bestehen waren ursprünglich Konzerte, Vollversammlungen und die Vorstellung der Vorschläge des 32. März geplant. Das Problem: Am selben Tag organisiert ein der Parti Socialiste nahestehendes Kollektiv auf dem Platz ein Festival des BürgerInnenengagements. Ihr Ziel: Die Demokratisierung des freiwilligen Gesellschaftsdienstes und des Engagements in Vereinen. Es soll Konzerte, Verköstigung auf Spendenbasis, Workshops und ein Dorf der Initiativen geben. Die NuitdeboutistInnen beobachten diesen merkwürdigen Klon ihrer eigenen Veranstaltung voller Sorge vor politischer Vereinnahmung und können sich nicht auf das weitere Vorgehen einigen. Soll die eigene Versammlung trotzdem auf der République stattfinden oder besser an einem anderen Ort? Auf Facebook haben sich bislang nicht mehr als 300 TeilnehmerInnen angemeldet.

Obgleich keineR der PräsidentschaftskandidatInnen die Bewegung explizit zitiert, ist doch ihr Einfluss nicht zu übersehen. Niemand hätte gedacht, dass Jean Lassalle die 500-Unterschrifften-Klausel übersteht. Er war derjenige Abgeordnete, der Nuit debout getroffen und vor dem Parlament gesungen hat, als die Bewegung gegen die Verwendung des 49.3 dort eine Sitzblockade organisierte. Und bereits im Jahr 2013 reiste er 5.000 Kilometer mit seinen Hoffnungsheften zu Fuß durch Frankreich, um den französischen Bürgern das Wort zu geben. 

Benoît Hamon organisierte eine Live‑Agora in Blois und rief einen BürgerInnenrat ins Leben, dessen Vorschläge in seinen Wahlkampf einfließen sollen. Er greift die von Nuit Debout ausführlich diskutierte Idee des bedingungslosen Grundeinkommens auf und schlägt einen BürgerInnenparagraphen 49.3 vor. Emmanuel Macron wiederum befragte 100.000 FranzösInnen nach ihren Wünschen und gibt sich sehr bürgerInnennah. Auf der Internetseite laprimaire.org[14] tritt mit Charlotte Marchandise eine Kandidatin an, die von den BürgerInnen direkt im Internet gewählt wurde. Mélenchon für seinen Teil berief auf seiner Onlineplattform L’avenir en commun[15] eine verfassungsgebende Versammlung ein, bei der in einem ersten Schritt 100.000 BürgerInnen einen Katalog aus 357 Maßnahmen entwickelten, bevor schließlich weitere 1000 BürgerInnen – von denen zwei Drittel per Losverfahren ernannt wurden – zehn emblematische Vorschläge auswählten. Der Front National, der die Bewegung letztes Jahr am liebsten verboten hätte, und François Fillon, der meint, sie habe Paris ins Chaos gestürzt, haben auf eine Vereinnahmung verzichtet.

Zwar ist der Kampf gegen die Arbeitsrechtsreform letzten Endes erfolglos geblieben und der Platz wieder wie leergefegt, doch Jean Garrigues ist sich sicher, dass Nuit Debout Geschichte schreiben wird: „Die jungen Leute haben die Demokratie angekurbelt und wichtige neue Impulse gegeben“. Der auf soziale Bewegungen spezialisierte Soziologe Manuel Cervera‑Marzal erkennt in den Versammlungen den Auslöser für die Politisierung zahlreicher BürgerInnen, die nach dieser Erfahrung im Roya‑Tal Geflüchtetenhilfe leisteten oder die Stühle der HSBC beschlagnahmten. Die Journalistin und Nuit‑Debout‑Aktivistin Aline Pailler sieht das Erbe der Bewegung in einem Mehr an Freude, Respekt, Diskussionskultur und Loyalität.[16]

Wird Nuit Debout mit dem Frühlingsbeginn und neuen, konkreten Forderungen wieder auf der politischen Bühne erscheinen? „Das weiß ich nicht“, antwortet Antoine. „Die Unzufriedenheit ist immer noch groß. Wir warten auf den 1. April, die Sonne und die Lust, uns wieder zusammenzutun. Eigentlich würden sich alle wünschen, dass es weitergeht, aber wer versteht schon Nuit Debout? Immerhin wurden wir vorgewarnt, dass die Revolution wellenartig verläuft.“ Nuit Debout im cevenolischen Alès formuliert es so: „Es braucht nicht viel, um die Sterne wieder zum Leuchten zu bringen.“

 
Karina Kochan ist eine deutsch-französische Journalistin. Sie schreibt über Umwelt und Politik für die Deutsche Welle, ARTE und den Tagesspiegel. Mit Elise Amchin, hat sie Kikeriki gegründet, der Umweltpodcast der Frankreich und Deutschland vergleicht.

Aus dem Französischen von Jo Schmitz und Annika Schmidt‑Glenewinkel

lingua•trans•fair

 



[1] Zu Deutsch etwa Gebündelte Kämpfe (A. d. Ü.).

[2] Zu Deutsch Danke, Chef! (A. d. Ü.).

[3] Zu Deutsch Gemeinderat (A. d. Ü.).

[4] Zu Deutsch Die WächterInnen (A. d. Ü.).

[5] De Mallevoüe, Delphine: La très courte Nuit debout d'Alain Finkielkraut, Le Figaro, 17.4.2016, unter: http://www.lefigaro.fr/actualite-france/2016/04/17/01016-20160417ARTFIG00161-la-tres-courte-nuit-debout-d-alain-finkielkraut.php, freie Übersetzung.

[6] O.V.: Rencontre avec Sylvain et Aude, réalisateurs de „Nuit Debout, le documentaire“, Gazette Debout, 6.1.2017, unter: https://gazettedebout.fr/2017/01/16/docu-nuitdebout-france5/, freie Übersetzung.

[7] O.V.: Nuit Debout, France 5, 17.1.2017, unter: http://www.france5.fr/emissions/le-monde-en-face/diffusions/17-01-2017_539457.

[8] O.V.: Nuit Debout, France 5, 17.1.2017, unter: http://www.france5.fr/emissions/le-monde-en-face/diffusions/17-01-2017_539457, freie Übersetzung.

[9] Zu Deutsch etwa Aufrecht durch den Tag (A. d. Ü.).

[10] O.V.: Jour Debout, 2017, unter: http://jourdebout.net/, freie Übersetzung.

[11] Zu Deutsch etwa Glückliche Zeiten (A. d. Ü.).

[12] O.V.: Affaires Fillon, Le Pen. Une campagne présidentielle dénaturée, Le Monde, 4.2.2017, unter: http://www.lemonde.fr/idees/article/2017/02/03/une-campagne-presidentielle-denaturee_5074035_3232.html, freie Übersetzung.

[13] O.V.: Piratons la présidentielle de 2017, Gazette Debout, 8.7.2016, unter: gazettedebout.fr/2016/07/08/piratons-presidentielle-de-2017/, freie Übersetzung.

[14] La Primaire: zu Deutsch die Vorwahl (A. d. Ü.).

[15] Zu Deutsch etwa Unsere gemeinsame Zukunft (A. d. Ü.).

[16] O.V.: Nuit Debout, France 5, 17.1.2017, unter: http://www.france5.fr/emissions/le-monde-en-face/diffusions/17-01-2017_539457.