Das Einschwenken des Gerichts auf die eng geführte Anklageschrift der Bundesanwaltschaft und die Zurückweisung dutzender Beweisanträge der Nebenklage deuten auf das nahe Ende des spektakulären Verfahrens in München hin. Die Erwartungen und Ansprüche der vom NSU-Terror Betroffenen sind in keiner Weise befriedigt, vom Rest des Prozesses sind – trotz zum Teil turbulenter Kapriolen – keine neuen Erkenntnisse mehr zu erwarten. Verfassungsschutz und Ermittlungsbehörden kommen weitgehend ungeschoren davon.
Seit etwa anderthalb Jahren dokumentiert der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts (OLG) in München mit etlichen Dutzend formelhaften Ablehnungsbescheiden zu Beweisanträgen vornehmlich der Nebenklage sein gänzliches Einschwenken auf die Linie der Bundesanwaltschaft. Die Zuhörenden haben nicht schlecht gestaunt, weil im Zurückweisungsfuror unter anderem auch Beweisanträge zurückgewiesen wurden, die das Tatgeschehen in Kassel am 6. April 2006 betrafen. Wir erinnern uns: Am Tatort der Ermordung des Internetshop-Inhabers Halit Yozgat war auch ein Beamter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz anwesend: Andreas Temme. Nach einem halben Dutzend unglaublich zäher Vernehmungen vor dem OLG in München und weiteren verstockten Aussagen vor dem ersten Bundestagsuntersuchungsausschuss und dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss hat es der einstige behördliche Betreuer von Informanten aus der Naziszene tatsächlich geschafft, dass das Gericht ihn nicht nur als Zeugen aufgibt, sondern ihm auch noch – ohne Not – ein Glaubwürdigkeitszeugnis ausstellt: In einem der ablehnenden Beschlüsse hatte der Senat am 12. Juli 2016 festgestellt, dass die Richter_innen in den zahlreichen Vernehmungen Temmes einen «umfassenden persönlichen Eindruck» von ihm gewonnen hätten. Wie sie dann jedoch zu der grundsätzlichen Einschätzung gelangen konnten, Temme sei als Zeuge glaubwürdig, bleibt völlig schleierhaft. Die Anwält_innen der Eltern des Ermordeten hatten zuletzt im September 2016 ein Gutachten zu Schussgeräuschen beantragt, um zu beweisen, dass Temme lüge. Temmes Version geht so, dass er nach einem Erotik-Chat, den er vor seiner Frau verheimlichen wollte, das Internetcafé verlassen habe, ohne den hinter dem Tresen Sterbenden zu bemerken. Er, 1,90 Meter groß, habe sogar seinen Obulus von 50 Cent auf den Tresen gelegt, ohne die Blutspritzer darauf zu sehen. Das Knirschen der sich biegenden Balken ist weithin hörbar und doch kommt das Gericht zu dem Schluss: «Aus den Aussagen ergeben sich keinerlei Hinweise darauf, dass der Zeuge Temme und/oder eine Verfassungsschutzbehörde in die Tat zulasten von Halit Yozgat in welcher Form auch immer verwickelt sein könnten.»
Gericht und Bundesanwaltschaft hatten von Anfang an dafür gesorgt, dass der atemberaubende Fall Temme – ein Verfassungsschützer «zufällig» am Tatort einer rassistischen Mordserie, die danach endet – nicht allzu viel Aufmerksamkeit zuteil wurde: die Akten des Ermittlungsverfahrens gegen Temme als Tatverdächtigen sind bis heute nicht Teil der Verfahrensakten. Nebenklageanwälte, die das Material sichten wollten, mussten sich nach Karlsruhe zur Bundesanwaltschaft begeben, um Akteneinsicht zu erhalten, und sich darüber hinaus weiteres Material, wie etwa die Abhörprotokolle zu Temme, selbst zusammensuchen und neu transkribieren. Im Grunde setzt das Gericht damit fort, was der damalige Innenminister und heutige Ministerpräsident Hessens, Volker Bouffier (CDU), angefangen hatte: Er hatte unterbunden, dass die Nazi-Spitzel, die Temme damals führte, im Rahmen der Mordermittlungen zu Yozgat vernommen werden konnten: Der «Quellenschutz», so das Zauberwort der Verfassungsschutzbehörden, wiege schwerer als die Tataufklärung. Das Verfahren gegen Temme wurde dann auch auf Weisung des Innenministeriums rasch eingestellt. Bis heute steht die Frage im Raum, was für ein Zufall das gewesen sein soll, der einen ahnungslosen «Verfassungsschützer» minutengenau an einen Mordtatort führte.