Publication International / Transnational - Europa Eurasischer Entwicklungspfad?

Die innen- und außenpolitische Situation Russlands im Jahre Sieben der Ära Putin. Text der Woche 18/2007 von Peter Linke.

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Peter Linke,

Published

May 2007

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Postkartenidylle...

Die Sowjetunion überholen ohne einzuholen 

Die offizielle Statistik könnte besser nicht aussehen. Seit 1999 ist Russlands Bruttosozialprodukt jährlich um 6 bis 7 Prozent gestiegen. Erstmals seit zehn Jahren lag 2006 die Inflationsrate unter 10 Prozent. Die Arbeitslosenquote hat sich bei 6 Prozent eingepegelt. Dank munter sprudelnder Petrodollar konnte sich Russland nicht nur international entschulden, sondern auch und vor allem seine Valutareserven von 12 Mrd. US-Dollar 1999 auf ca. 315 Mrd. US-Dollar Ende 2006 aufstocken.

Mit einem durchschnittlichen Quadratmeterpreis von 4200 US-Dollar gilt Moskau inzwischen als eine der teuersten Städte der Welt. Im Zentrum drängt sich eine Super-Boutique an die nächste. Luxuslimousinen verstopfen die Straßen. 56 Groß-Kasinos machen täglich Millionenumsätze.

Anfang 2007 lag Russlands Bruttosozialprodukt erstmals über dem der Sowjetunion im letzten Jahr ihres Bestehens. Und Russlands Erster Vizepremier Dmitri Medwedjew verkündete euphorisch: In den kommenden Jahren wird Russland nicht nur Frankreich, sondern auch Großbritannien überflügeln... 

Politische Stabilität 

Nachdem er sich im März 2004 in seinem Amt bestätigen lassen hatte, machte sich Präsident Putin systematisch an den Ausbau dessen, was gemeinhin als »Machtvertikale« bezeichnet wird. Ihren ersten Höhepunkt erreichte diese »Verwaltungsreform« im Dezember 2004 mit der Verabschiedung einer Reihe von Gesetzen, die perspektivisch sicherstellen sollten, dass nicht nur Russlands Gouverneure, sondern auch viele Abgeordnete direkt vom Präsidenten ernannt werden, während sich der Präsident selbst von einer ihm unterstellten Wahlkommission  in seinem Amt bestätigen lässt.

2005 wurden durch die Legislative eine Reihe politischer Initiativen zur Stärkung der präsidialen Macht auf den Weg gebracht: Bürgerinnen und Bürger haben nicht länger das Recht, Gouverneure selbst zu wählen und für parlamentarische Kandidaten aus Einmandatswahlkreisen zu stimmen; Parteien, die sich an Wahlen beteiligen wollen, müssen sich fortan bei der Registrierung strengeren Regeln unterwerfen (u.a. mindestens 50.000 Mitglieder nachweisen); die parlamentarische Hürde  bei Wahlen in die Staatsduma wurde von 5 auf 7 Prozent angehoben; künftig werden die Kandidaten für sämtliche Gouverneursposten vom Präsidenten bestimmt. Örtliche Parlamentarier haben zwar das Recht, diese abzulehnen – geschieht dies allerdings dreimal hintereinander, kann der Präsident seinerseits das Parlament auflösen. 2005 hat Putin über 30 Kandidaten vorgeschlagen, die von den Parlamentariern ausnahmslos akzeptiert  wurden.

Kreml-Kapitalismus

Auch für Russland Oligarchen sind neue Zeiten angebrochen. Nicht sie, sondern der Kreml bestimmt inzwischen, wo es wirtschaftlich lang geht. Sinnbild der neuen Verhältnisse: Die Veränderung des Russischen Unternehmerverbands (RSPP) vom einst einflussreichen Lobbyisten oligarchischer Interessen unter Jelzin zum Juniorpartner des Kreml unter Putin.

Lange Zeit hat die Bevölkerung Putins Maßnahmen zur Stärkung der »Machtvertikale« als Ausdruck präsidialen Bemühens um Stabilität nach der Ära Jelzin begrüßt. Bis heute sehen gut 70 Prozent der Russinnen und Russen Putin als Garant allgemeiner Stabilität. Eine Sympathie-Bekundung, die sämtlichen bisher als potentielle Nachfolger gehandelten Politikern nicht einmal ansatzweise gewährt wird, was den 2008 anstehenden Wachwechsel im Kreml zu einer Zitterpartie werden lassen könnte.

... und traurige Realität

Deindustrialisierung

Öl, Gas, Metalle und Holz machen unverändert 80 Prozent des russischen Exports aus. Damit bleibt Russlands wirtschaftliche Dynamik hochgradig abhängig von Weltmarktpreis-Schwankungen. Das industrielle Wachstum ist mit 4 Prozent seit Jahren rückläufig. Von industrieller Erneuerung, insbesondere im Hochtechnologie-Bereich, ist nach wie vor nichts zu spüren.

künstliche Opposition 

Die Duma-Wahlen 2004 bedeuteten das faktische Aus jeglicher ernsthafter parlamentarischer Opposition. Die neue Allmacht der Exekutive wurde von Putin & Co. freilich schnell als Problem begriffen, gab es fortan doch keinerlei institutionalisierte Möglichkeit, die Verantwortung für unpopuläre Maßnahmen auf möglichst viele Schultern zu verteilen.

Einen Ausweg sah man in der Schaffung einer künstlichen Opposition in mehreren Schritten: von der Installierung einer so genannten »Gesellschaftskammer« als quasi Duma-Kontrollorgan über die Verkündung so genannter  nationaler Projekte  als Beleg für die soziale Kompetenz der Exekutive bis hin zum Projekt »Gerechtes Russland« als linkes parteipolitisches Standbein des Kreml und damit als Vehikel zur weiteren Schwächung der russischen Linken sowohl marxistisch-leninistischer (KPRF) als auch prowestlich-neomarxistischer (Alterglobalisten etc.) Prägung.

Krieg der Administrationen

Über Jahre stetig ausgebaut wurde das System der parallelen Regierungen.  Zunächst gab es zwei Ministerpräsidenten: einen realen, politischen Premier in Person von Präsident Putin und einen technischen Vorsitzenden des Ministerrats in Person von Michail Fradkow. Aus dieser Struktur resultierten zwei vollwertige exekutive Spitzenorgane: die russische Regierung und die präsidiale Administration.

Waren beide Organe jedes für sich genommen schon ziemlich komplex strukturiert, wurden sie darüber hinaus zusätzlich von diversen Allianzen durchdrungen, woraus sich eine extrem komplizierte und dynamische Struktur verschiedener Zentren realer Macht und Entscheidungsfindung ergab. Im Ergebnis existierten bereits Ende 2004 innerhalb der technischen Regierung, des so genannten Weißen Hauses, mindestens zwei Ministerräte: die Regierung Fradkow  und ein nicht immer geschlossen auftretender, politisch jedoch realer finanz-ökonomischer Block  unter Führung von Finanzminister Alexei Kudrin und Wirtschaftsminister German Gref.

Hinzu kam ein so genannter Rat für nationale Projekte ohne Fradkow  unter tatkräftiger Führung des Putin-Vertrauten Igor Schuwalow. Schließlich und endlich tauchte mit der Ernennung der Putin-Vertrauten Dmitri Medwedjew und Sergei Iwanow zu Ersten Vize-Premiers ein dritter  und vierter Ministerpräsident  auf, was zur Neuordnung der regierenden Koalitionen  nicht nur innerhalb des Weißen Hauses , sondern auch im Verhältnis der Regierung zur präsidialen Administration führte. Mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2008 kann davon ausgegangen werden, dass sich diese machtpolitischen Rochaden in den kommenden Monaten erheblich zuspitzen werden.

Russlands Gesellschaft – eine tickende Zeitbombe

Russlands neuer Reichtum  konzentriert sich im Wesentlichen auf Moskau, Petersburg und wenige andere Großstädte. Das Land insgesamt hat (bisher) herzlich wenig vom Wirtschaftsboom der letzten Jahre.

Der reale Kaufkraftverfall über die letzten drei Jahre beträgt rund 25 Prozent. Besonders dramatisch gestiegen sind die Preise für Lebensmittel, Benzin, medizinische Betreuung und öffentliche Güter. Mehrere Jobs anzunehmen, um die Familie durchzubringen, ist für viele russische Frauen und Männer die Regel.

Russlands Menschen sind in der Masse arm: Rund zwei Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb bzw. dicht an der Armutsgrenze, darunter 80 Prozent der Familien mit zwei oder mehr Kindern und 60 Prozent der Landbevölkerung.  2 bis 3 Millionen Kinder sind obdachlos.

Hinzu kommen demographische Probleme und Gesundheitsdefizite nie da gewesenen Ausmaßes:

Die Russische Föderation ist eines der wenigen Länder der Erde mit mittlerer Einkommenssituation, in dem die Lebenserwartung der Bevölkerung stetig sinkt: Gegenwärtig beträgt die Lebenserwartung russischer Frauen und Männer 66, für Männer lediglich 58 Jahre, womit sie 12 Jahre geringer als in den USA ist.

Zwischen 1992 und 2003 ist die russische Bevölkerung um 6 Millionen auf rund 143 Millionen geschrumpft. Sollte sich der gegenwärtige Trend niedriger Geburten- und hoher Sterblichkeitsraten fortsetzen, dürfte sich Russlands Bevölkerung bis 2025 um insgesamt 18 Millionen verringern.

Besonders gefährdet sind Russlands Männer: Sie leben 16 Jahre weniger als Männer im Westen und 14 Jahre weniger als russische Frauen.

Mit 60 Prozent sind nicht ansteckende Krankheiten, insbesondere verursacht durch übermäßigen Tabak- und Alkoholkonsum, sowie Unfälle Todesursache Nr. 1.

Die Todesrate ist bei nicht ansteckenden Krankheiten dreimal bzw. bei Unfällen fünfmal so hoch wie in der Europäischen Union.

Mit 994 Fällen je 100.000 Einwohner wies Russland 2002 eine der höchsten Todesraten in der Welt bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf (zum Vergleich: USA: 317, Portugal: 363, Brasilien: 225). 52 Prozent aller Todesfälle resultieren aus Herz-Kreislauferkrankungen (USA: 38 Prozent, Portugal: 42 Prozent, Brasilien: 32 Prozent).

Die Todesrate bei Lungen- und Magenkrebs liegt ebenfalls weit über dem EU-15-Durchschnitt. Typisch dabei eine hohe Letalität, insbesondere innerhalb des ersten Jahres nach Erstellen der Diagnose.

1998 waren 6 von 10 männlichen Erwachsenen Raucher  mehr als doppelt so viel wie in den USA und Großbritannien. Zwischen 2002 und 2004 verringerte sich der Anteil der Raucher an der männlichen Bevölkerung von 65 Prozent auf 61 Prozent, während sich der Anteil der Raucherinnen an der weiblichen Bevölkerung von 7,3 Prozent auf 15 Prozent mehr als verdoppelte.

1999 lag der Alkoholverbrauch pro Kopf der erwachsenen Bevölkerung bei 10,7 Liter (USA  8,6 Liter, Großbritannien 9,7 Liter), wobei 75 Prozent auf Spirituosen entfielen (USA  40 Prozent, Großbritannien  44 Prozent). 2002 hatte sich der jährliche Alkoholverbrauch bei Männern auf 14,5 Liter, bei Frauen auf 2,4 Liter und bei Jugendlichen auf 1,1 Liter erhöht. 2004 konsumierten 70 Prozent der Männer, 47 Prozent der Frauen und 30 Prozent der Unter-Zwanzigjährigen regelmäßig Alkohol.

Ein zunehmendes Problem sind Alkoholvergiftungen. Besonders betroffen sind ländliche Gebiete, wo die Todesrate mit 128 Fällen je 100.000 Einwohner doppelt so hoch wie im gesamten Land ist.

In den letzten zehn Jahren sprunghaft angestiegen ist der illegale Drogenkonsum. Anfang 2005 wurde die Anzahl der Konsumenten auf rund 500.000 geschätzt.

Mit 20,6 Fällen je 100.000 Einwohner ist die Todesrate bei Verkehrsunfällen höher als in allen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken und knapp doppelt so hoch wie in den anderen G-8-Staaten.

Die Selbstmordrate liegt ebenfalls weit über dem EU-Durchschnitt. Mit 38,2 Fällen je 100.000 Einwohner unter der männlichen Bevölkerung zwischen 15 und 19 Jahren  ist sie hinter der Litauens mit 38,4 Fällen die Zweithöchste im gesamten mittelosteuropäischen und postsowjetischen Raum.

Auch die Zahl der Gewaltverbrechen mit Todesfolge ist in den letzten zehn Jahren erheblich angewachsen und zählt heute mit rund 30.000 Fällen  zu den höchsten weltweit, wobei rund 30 Prozent der Täter und 12 Prozent der Täterinnen zum Zeitpunkt der Tat unter erheblichem Alkoholeinfluss standen.

Selbstmord, Gewaltverbrechen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit Todesfolge sind nicht zuletzt Ergebnis erheblichen psychosozialen Stresses infolge inhumaner wirtschaftlicher Transformationsprozesse sowie der systematischen Zerstörung sozialer Sicherungsnetze in den letzten 15 Jahren.

Ein weiteres gravierendes Problem russischer sozialer Realität sind HIV/AIDS und Tuberkulose, die in den letzten Jahren epidemische Ausmaße angenommen haben.

2005 starben in Osteuropa und Zentralasien 53.000 Erwachsene und Kinder an AIDS – fast doppelt so viele wie 2003. Zunehmend betroffen sind Frauen. 2005 lebten schätzungsweise 420.000 Frauen im Alter von +15 Jahren mit AIDS – ein Drittel mehr als 2003.

Ende 2005 waren in Russland offiziell rund 350.000 AIDS-Infizierte registriert. Real dürften es jedoch ungefähr 940.000 sein. Mindestens drei von vier in den letzten 10 Jahren registrierten AIDS-Infizierten waren Drogenkonsumenten unter 30 Jahren, die nicht sterile Spritzen verwendeten. Immer häufiger infizieren sich Frauen. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der 2004 registrierten AIDS-Infizierten betrug 38 Prozent. Besonders betroffen: junge Frauen im Alter von 15 bis 20 Jahren. Ihre Zahl übertraf 2004 erstmals die ihrer männlichen Altersgenossen. Häufigste Infektionsursache: ungeschützter Geschlechtsverkehr mit infizierten Partnern. Medizinisch behandelt wurden 2005 lediglich 5000 von insgesamt 100.000 Bedürftigen.

Mit 115 neuen Fällen je 100.000 Einwohner im Jahre 2004 belegt Russland im Ranking der weltweit 22 Staaten mit hohem Tuberkulose-Risiko derzeit den 12. Platz. Besonders gravierend: die TB-Gefahr in russischen Gefängnissen.

Russlands demographischer Niedergang und gesundheitliche Defizite haben weitgehende gesellschaftliche Konsequenzen: Reduzierung des arbeitsfähigen Bevölkerungsanteils bei gleichzeitiger Zunahme des Altenanteils, Destabilisierung familiärer Strukturen infolge zunehmend divergierender Lebenserwartungen von Frauen und Männern und damit allzu früher Witwenschaft (bereits heute ist der Bevölkerungsanteil von Witwen im Alter von 30 bis 44 Jahren viermal höher als in den USA), wachsende territoriale Disparitäten infolge stark divergierende Geburten- und Sterberaten, ungleichmäßiges Bevölkerungswachstum und unterschiedlicher Lebenserwartung in verschiedenen Regionen und unter verschiedenen sozialen und ethnischen Gruppen sowie Gefährdung der nationalen Sicherheit infolge massiver Probleme bei der Rekrutierung wehrtauglichen Personals sowie Entvölkerung ganzer Regionen.

Bedroht wird die Stabilität des gegenwärtigen politischen Regimes aber auch durch das pathologische Misstrauen breiter Bevölkerungskreise gegenüber den existierenden staatlichen Institutionen sowie den möglichen Nachfolgern des noch amtierenden Präsidenten.

Besonders verachtet werden die Wirtschafts- und Verwaltungseliten des Landes, die sich in den neunziger Jahren das sowjetische Staats- und Volksvermögen unter den Nagel gerissen haben. In den Augen der Bevölkerung in keinster Weise legitimiert, ist dieses Vermögen eine tickende Zeitbombe, die beim geringsten Anlass – ein jähes Absacken des Ölpreises, ethnisch motivierte Gewalt oder ein plötzliches Machtvakuum im Kreml – explodieren und damit Russland in eine noch tiefere Krise stürzen kann.

 
Kein »System Putin« nach Putin

Dem nachhaltig entgegenzuwirken, wird im Rahmen des Putinschen technokratischen Modernisierungsansatzes a la Weltbank nicht möglich sein. Das »System Putin« dürfte nach Putins Abgang 2008 eine erhebliche Transformation erfahren. Wohin die Reise gehen könnte, an dieser Frage versucht sich insbesondere die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK), die sich als Speerspitze einer von ihr als dringend gebotenen geistig-ideologischen Erneuerung Russlands versteht.

Russland auf der Suche nach sich selbst...

Russland vor einer »geistigen Wende«

Drei Säulen sind es, auf denen nach Meinung der ROK das erneuerte Russland ruhen sollte:

1. Auf einem neuem Irrationalismus, der von der Dominanz des Geistigen über das Materielle ausgehen müsse: »Wenn wir nur auf die Mehrung des materiellen Reichtums orientieren«,  so das Oberhaupt der ROK, Patriarch Alexei II Anfang März 2007, »geben wir Russland dem geistigen Verfall preis und steuern damit früher oder später in eine neue politische, wirtschaftliche und ökologische Krise«.  Zweifellos müsse Russland irgendwie modernisiert werden, mahnte an gleicher Stelle ROK-Chefideologe Kirill, Metropolit von Smolensk und Kaliningrad, keinesfalls jedoch auf westliche Art und Weise, da sonst das Gleiche herauskomme wie unter Peter dem Großen und Lenin...

2. Auf einer neuen Gemeinschaftlichkeit, im Rahmen derer die Reichtümer des Landes allen Menschen zugute kommen müssten: Auch wenn es Russland heute gut geht, so Kirill, »wird es als einheitliches Land nicht überleben, wenn es nicht die gähnende Kluft zwischen Reichtum und Armut, wie es sie in keinem anderen entwickelten Land gibt, überwindet... Die Einkünfte aus dem Verkauf der Reichtümer, mit denen uns der Schöpfer gesegnet hat müssen in das Land und seine Menschen investiert werden... Ja, wir brauchen eine solide Finanzreserve, die das Land vor Weltmarktschwankungen und globalen politischen Prozessen schützt. Aber wir werden keine Zukunft haben, wenn die Öl- und Gasrubel heute nicht genutzt werden...«

3. Auf einem neuen Wertekanon, der den universellen Anspruch westlicher Werte in Frage stellen müsse: Früher oder später,  warnte Kirill bereits im April 2006, »wird uns der Prozess der Globalisierung vor die Notwendigkeit stellen, eine einheitliche Meinung hinsichtlich allgemeiner, fundamentaler Werte zu formulieren, da sich auf andere Weise das Leben in einem einheitlichen zivilisatorischen Raum kaum gestalten lassen wird. Gleichwohl meine ich, verdient die Frage Beachtung, inwieweit die säkularen liberalen Werte, wie sie heute existieren, den Status universeller Werte in Anspruch nehmen bzw. ob diese Werte ohne entsprechende Korrekturen die Grundlage für die Herausbildung neuer Beziehungen zwischen den Menschen, Ländern und Völkern im Zeitalter der Globalisierung bilden können?«

Dass die ROK mit diesen Ansichten ihr Ohr durchaus an den Massen hat, zeigen Umfragen des renommierten Lewada-Zentrums vom Dezember 2006 zum Platz Russlands in der Welt. So ist die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung der festen Meinung, dass sich Russland auf einem besonderen Entwicklungspfad bewegt.  Auf die Frage »Ist Russland Teil der westlichen Zivilisation?«  antworteten 15 Prozent der Befragten mit Ja. 70 Prozent hingegen meinten, Russland gehöre zu einer besonderen (»eurasischen oder orthodox-slawischen«) Zivilisation, weshalb der westliche Entwicklungsweg für das Land nicht in Frage komme...

Auf die Frage nach den Besonderheiten demokratischer Strukturen in verschiedenen Ländern, antworteten im März 2006 lediglich 10 Prozent der Befragten, dass sich alle Länder auf einem Weg in Richtung Demokratie bewegten. 78 Prozent hingegen meinten, »jedes Land geht seinen eigenen Weg zur Demokratie«  Auf die Frage »Welchen Staatstyp favorisieren Sie für Russland?«  antworteten 34 Prozent: »Einen Staat ähnlich den Ländern des Westens« (marktwirtschaftlich organisiert, mit Privateigentum, demokratischen Strukturen etc.); 28 Prozent »einen sozialistischen Staat mit kommunistischer Ideologie wie die UdSSR« . Und 27 Prozent »einen Staat mit besonderer Struktur«.  Für lediglich 15 Prozent der Befragten fallen westliches Ziel und europäischer Weg zusammen. 16 Prozent wollen einen eigenen Weg in Richtung Westen gehen. Auf den »eigenen Weg« (was immer sich dahinter verbergen mag) bestanden insgesamt 53 Prozent der Befragten, von denen wiederum 23 Prozent meinten, dieser Weg führe zu einem Staat mit besonderer Struktur.  Ganz allgemein lässt sich einschätzen, dass unter Putin die Zahl derjenigen, die einen »eigenen Weg« gehen wollen, erheblich zugenommen hat.

Russlands Suche nach einer Neudefinition »universeller Werte« jenseits der westlichen Diskurstradition widerspiegelt sich vor allem im Verhältnis zur islamischen Welt: 2005 ist das Land der Organisation der Islamischen Konferenz als Beobachter beigetreten. Ende März 2006 tagte in Moskau erstmals die so genannte Strategiegruppe »Russland und die islamische Welt.« Unter Vorsitz des ehemaligen russischen Außenministers und Premiers Jewgeni Primakow berieten rund zwanzig hochrangige Vertreter moslemischer Staaten über Möglichkeiten eines gleichberechtigten »Ost-West«-Dialogs.

Insgesamt jedoch bleibt die von der ROK betriebene »geistige Wende« ein zweischneidiges Schwert: Einerseits leistet die ROK mit ihrer Forderung nach einem neuen Irrationalismus einer ohnehin längst ausufernden modernisierungsfeindlichen Neomystifizierung gesellschaftlicher Realität massiv Vorschub.

Neue Chancen für NGOs

Andererseits hat die von der ROK angestoßenen Werte-Debatte  der Exekutive endgültig vor Augen geführt, dass nicht nur die staatlichen, sondern auch und vor allem die existierenden zivilgesellschaftlichen Strukturen nicht ausreichen, die sozialen Probleme in den Griff zu bekommen.

Bereits 2005 initiierte der Kreml weit reichende Maßnahmen zur beschleunigten Schaffung einer »Zivilgesellschaft von oben«. So installierte er eine so genannte Gesellschaftskammer, deren Mitglieder  – darunter 42 direkt vom Präsidenten ernannte Personen – nicht nur in der Duma behandelte Gesetzentwürfe kontrollieren sowie die Umsetzung bereits verabschiedete Gesetze beobachten, sondern auch und vor allem die Gesellschaft zur Teilnahme an der Realisierung der »nationalen Projekte« Putins bewegen sollen, was auch die finanzielle Unterstützung von NGO-Arbeit bedeutet.

Die zentrale Frage der Zukunft freilich lautet: Wird der Kreml auch dann noch akzeptieren, dass NGOs gut für die Exekutive sind, weil sie helfen, die Gesellschaft zu stabilisieren, wenn NGO-Tätigkeit öffentliches Interesse für Menschenrechtsfragen jenseits rein sozialer Belange befördert?

... und neuen alten Partnern

Der lange Schatten der GUS

Weitestgehend einig ist man sich in Moskau darin, dass es ein erneuertes Russland ohne regionale Integrationsprozesse mit weiten Teilen des postsowjetischen Raums nicht geben wird.

Bisher freilich gibt es aus Moskauer Sicht wenig Positives zu vermelden.

So haben die Krisenreaktionskräfte der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (ODKB) im Vorfeld und während der Bischkeker Tulpen-Revolution komplett versagt.

Die so genannte Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft  (EwrAsES) hat sich in ihrer Rolle als Türöffner für Russlands Strommonopolist Vereinigte Energiesysteme in Zentralasien weitestgehend erschöpft.

Die russisch-weißrussische Krise Anfang 2007 hat überdeutlich gemacht, dass der von Moskau unter dem Banner eines russisch-belorussischer Unionsstaates geplante kalte Anschluss Weißrusslands an Russland alles andere als realistisch war.

Weitaus erfolgreicher: die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SchOS). Mit sechs regulären Mitgliedern – China, Russland, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Usbekistan – und vier Beobachtern – Iran, Indien, Pakistan, Mongolei – verfolgt diese nicht-weiße Regionalorganisation seit langem eine Agenda, die weit über den Kampf gegen den Terrorismus  und ähnliche Ideologismen hinausreicht, und hat damit durchaus Chancen, zum Kern einer effektiven euro-asiatischen Sicherheitsstruktur zu werden. Bis zu dem dafür notwendigen echten Schulterschluss zwischen Moskau und Peking ist es jedoch noch ein weiter Weg...

Ebenfalls ambivalent: der Einheitliche Wirtschaftsraum (JeEP), ein Projekt zur wirtschaftlichen Integration Russlands, der Ukraine, Kasachstans und Weißrusslands. Einerseits kläglich gescheitert am Versuch einer vereinheitlichten Gesetzgebung, bleibt der JeEP andererseits machtpolitischer Rettungsanker des überzeugten Eurasiers und kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew und damit Moskaus derzeit einzige reale Chance, wirtschaftspolitisch im postsowjetischen Raum zu punkten...

Schaffung eines einheitlichen Arbeitskräftemarktes

Langfristig freilich dürfte ein anderer Faktor die Reintegration weiter Teile des postsowjetischen Raumes bewirken: der chronische Arbeitskräftemangel in Russland, der eine geregelte Migration vor allem aus dem Kaukasus und Zentralasien zwingend notwendig macht. Bis 2015 wird Russlands arbeitsfähige Bevölkerung um 9 Millionen schrumpfen. Schon heute arbeiten in Russland rund 5,5 Millionen Migranten aus diversen GUS-Staaten. Eine offizielle Arbeitserlaubnis besitzen jedoch nur rund 700.000. Vor diesem Hintergrund kann das Anfang 2007 in Kraft getretene neue russische Migrationsgesetz durchaus als erster ernsthafter Versuch zur Schaffung eines einheitlichen GUS-Arbeitskräftemarktes gedeutet werden.

Pulverfass Kaukasus

Geopolitisch bleibt der Kaukasus eine Problemregion. Insbesondere seine fortschreitende Militarisierung sollte Anlass zur Sorge sein.

Aserbaidschan, Armenien, Georgien

Unter den ehemaligen Sowjet-Republiken am stärksten aufgerüstet hat Aserbaidschan: Neben 95.000 Mann starken Land-, Luft- und Seestreitkräften verfügt das Land über eine 2.500 Mann starke Nationalgarde sowie 12.000 Mann zählende Truppen des Innenministeriums. 2007 werden Aserbaidschans Militärausgaben erstmals umfangreicher sein als der gesamte Staatshaushalt seines Erzfeindes Armenien. Bakus wichtigster militär-strategischer Partner ist die Türkei. Die Erziehung der aserbaidschanischen Militärangehörigen erfolgt im Geiste des Pantürkismus, was Baku nicht daran hindert, intensiv mit der NATO zu kooperieren.

Armeniens Streitkräfte zählen insgesamt 53.500 Mann, die hauptsächlich an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze stationiert sind. Militärisch arbeitet Erewan eng mit Moskau zusammen. Angesichts der Spannungen zwischen Moskau und Tiflis gilt Armenien als langfristig einziger Stationierungsraum für russische Truppen im Südkaukasus.

Georgien hält rund 30.000 Mann unter Waffen. Hinzu kommen knapp 8000 Grenzschützer und 2300 Nationalgardisten. Sein Militärhaushalt wächst schneller als alle anderen Wirtschafts- und Industriezweige des Landes.

Berg Karabach, Südossetien, Abchasien

Ebenfalls hochgerüstet: die so genannten nicht anerkannten Staaten der Region: Berg Karabach (rund 20.000 aktive Militärangehörige und knapp 30.000 Reservisten), Südossetien (3000 Aktive, 15.000 Reservisten), Abchasien (rund 7000 Aktive und 28.000 Reservisten).

Türkei

Mit rund 600.000 Mann starken Streitkräften, ausgestattet mit modernster Technik, ist und bleibt die Türkei die führende Militärmacht im südlichen Kaukasus.

Infolge wachsender Spannungen im Verhältnis zu Washington, Tel-Aviv und Brüssel hat Ankara in jüngster Zeit Kurs auf eine Annäherung an Moskau genommen. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Annährung positiv auf die sicherheitspolitischen Verhältnisse in der Region auswirken wird.

Iran

Russlands wichtigster geostrategischer Partner im großkaukasischen Raum ist und bleibt freilich der Iran.

Trotz anhaltender Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Beurteilung des iranischen Nuklearprogramms sowie bei der Definition des rechtlichen Status des kaspischen Aquatoriums haben Moskau und Teheran ihre bilaterale Kooperation in den letzten Jahren merklich verstärkt.

Ende 2005 verständigten sich beide Länder auf die Lieferung hochmoderner russischer Tor-M1-Flugabwehrkomplexe, mehrerer Küstenschutzboote sowie auf die Modernisierung der in der Vergangenheit gelieferten MiG-29 und Su-24 im Umfang von 1,4 Milliarden US-Dollar. Verhandlungen über S-300-Flugabwehrkomplexe wurden Anfang 2006 wegen des eskalierenden so genannten Atom-Streits offiziell ausgesetzt.

Weiter ausgebaut wurde die Kooperation bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie: Neben der Weiterführung der Arbeiten am Kernkraftwerk in Bushehr erkundeten russische Firmen bereits 2004 Möglichkeiten für den Bau eines zweiten iranischen AKWs.

Neue Wege gehen beide Länder auf dem Gebiet der Elektroenergetik: Neben der Modernisierung der Wärmekraftwerke in Isfahan und Ahvas arbeiten  das iranische Staatsunternehmen TAVANIR und Russlands »Vereinigte Energiesysteme« unter anderem an Projekten zur Synchronisierung der Energiesysteme Russlands, des Iran, Aserbaidschans, Armeniens und Tadschikistans.

Nicht minder bedeutend: gemeinsame Transportinfrastrukturprojekte, vor allem das so genannte Nord-Süd-Projekt, das langfristig den Warenfluss aus Europa über Russland und den Iran nach Süd- und Südostasien absichern soll.

Ebenfalls verstärkt zusammengearbeitet wird auf dem Gebiet der Luft- und Raumfahrt: Gegenwärtig helfen russische Spezialisten bei der Entwicklung des iranischen Sochre-Nachrichtensatelliten, nachdem bereits im Oktober 2005 der iranisch-russische Forschungssatellit Sina-1 in den Weltraum geschossen wurde.

Schließlich und endlich der Gas- und Ölsektor: Neben der weiteren Erschließung des Gasfeldes von Süd-Pars arbeitet Gazprom bereits an einem weiteren Jahrhundertprojekt: einer von höchster Stelle abgesegneten Gasleitung Iran-Pakistan-Indien, während die russische Öl-Gesellschaft Tatneft auf der Golf-Insel Kish erhebliche Investitionen in die Zukunft tätigt...

Russland auf dem Weg in eine eigene Zukunft (anstelle eines Fazits)

Nach Jahren vergeblicher politischer und wirtschaftlicher Versuche, sich dem Westen als Partner und Verbündeter zu empfehlen, wächst auf allen Ebenen der russischen Gesellschaft der Wunsch, alternative Entwicklungspfade zu erkunden. Insbesondere das in diesem Zusammenhang zu Tage tretende Bemühen um eine Neudefinition »universeller Werte« sollte hierzulande nicht als Bedrohung, sondern als Chance gesehen werden, im offenen Dialog den eigenen Vorstellungshorizont um konzeptionelle Ansätze jenseits transatlantisch dominierter Begrifflichkeit zu erweitern.

Moskau im Frühjahr 2007