Vorbemerkungen
Bevor die Regierung der von Néstor Kirchner angeführten Justizialistischen Partei (Partido Justicialista) analysiert wird, halten wir es für notwendig, auf einige Aspekte der besonderen und komplexen Geschichte des Peronismus hinzuweisen, die uns die Schlüssel für die Erklärung der heutigen politischen Situation in Argentinien und die Parteienkrise liefern können.
1.- Während der ersten Regierungszeit von Präsident Juan Perón (l946-l955), führte der Justizialismus ein Gesellschaftsmodell in Argentinien ein, in dem die höchsten Wohlstandskennziffern und die gefestigsten Äußerungen politischer und ökonomischer Souveränität in der argentinischen Geschichte erreicht wurden. Die politische Organisation charakterisierte sich als eine Bewegung. Denn neben der Justizialistischen Partei als solcher - deren territoriale Verteilung auf Basiseinheiten in den Stadtvierteln beruhte - existierten ein Gewerkschaftszweig und eine Frauenorganisation. Später sollte eine Jugendorganisation dazu kommen. Zusätzlich formierten sich zahlreiche um spezifische Themen gruppierte freie Volksorganisationen: Universitätsangehöre, Behinderte, Künstler, usw. Am dauerhaftesten und bedeutendsten war vielleicht die gestärkte Würde der Arbeiter, die sich in der Erinnerung der Volksschichten fest einprägte. Ungeachtet der Kritiken, die zweifellos gegenüber dieser Periode angebracht werden können, erlauben statistische Daten und geschichtliche Ereignisse diese Charakterisierung. Sie wird in der Gegenwart von kaum jemand im Land in Frage gestellt.
2.- Nach dem Staatsstreich, durch den diese Regierung im September 1955 stürzt, beginnt die lange Widerstandsetappe angesichts der Ächtung, der der Peronismus 18 Jahre lang unterworfen war. Der Widerstand sollte im Wesentlichen von den Arbeitermehrheiten getragen werden, die als Fabrikdelegierte und in geheimen Stadtviertelgruppen organisiert waren und ab 1962 in der in diesem Jahr legalisierten Gewerkschaftsbewegung, obwohl der Peronismus auf politischer Ebene verboten blieb. Im Verlauf dieser Etappe spaltete sich die Gewerkschaftsbewegung und gruppierte sich nach kämpferischen oder mehr verhandlungsbereiteren Strömungen um. Es bildete sich eine breite Skala politisch-ideologischer Positionen heraus, deren interne Widersprüche sich noch vertiefen sollten. In all ihrer Unterschiedlichkeit akzeptierten die Strömungen jedoch die Führungsrolle, die General Perón von seinem Madrider Exil her ausübte. Etwa Mitte der sechziger Jahre beginnt eine Annäherung wichtiger Gruppen junger Leute aus den Mittelschichten - Kinder von antiperonistischen Eltern - die die Volksbewegung stärken. Am Ende dieser Dekade kommen zu den traditionellen Kampf- und Widerstandsformen peronistische Organisationen aus dem Universitäts- und Stadtviertelbereich sowie die Stadtguerilla hinzu. Nachdem er es schaffte, ein breites gesellschaftliches Bündnis zu artikulieren, gelingt dem Peronismus ab November 1972 mit der Rückkehr seiner Führungspersönlichkeit, der Abschaffung des Parteiverbots und dem nachfolgenden Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im März 1973 ein entscheidender Triumph. Die Kehrseite besteht jedoch in den sich verschärfenden internen Konflikten, in dieser rasend schnell verlaufenden Zeit, deren dramatischer Wendepunkt der Tod Peróns im Juli l974 ist.
3.- Im September 1973 hatte Perón die Präsidentschaftswahlen mit mehr als 60 Prozent der Stimmen gewonnen - es war zu einer Neuwahl aufgerufen worden, da er bei der Märzwahl nicht als Kandidat zugelassen war. Die Stimmen der Radikalen Partei und der anderen ihn unterstützenden Parteien addiert, erreichte das vom Präsidenten vorgestellte Projekt eine fast 90-prozentige Zustimmung. Doch es war zu spät. Peróns Alter und sein Gesundheitszustand ließen ihm nicht genügend Zeit, seine politischen Kräfte - deren Gewalttätigkeit bedenkliche Ausmaße aufwies - zu bändigen, denn zehn Monate nach Amtsantritt stirbt er. Gleichzeitig geschehen diese Ereignisse im Kontext einer restaurativen Gegenoffensive der USA, die mit Beratung von Henry Kissinger, dem Pentagon und der School of the Americas unter Richard Nixon und Gerald Ford begonnen wird. Mit dem Ziel, den angesichts der Niederlage in Vietnam angetretenen Rückzug aus dem asiatischen Südosten auszugleichen, fördern sie eine auf einander abgestimmte Welle von Militärputschen in Lateinamerika. Der Staatsterrorismus sollte das Instrument werden, jeden politischen oder sozialen Widerstand gegen die Wiederherstellung der US-Hegemonie über den Kontinent auszumerzen: Die Diktaturen in Uruguay, Bolivien, Chile und Peru begleiten in diesen Jahren den Staatsstreich in Uruguay und gesellen sich den schon installierten Diktaturen in Brasilien, Paraguay, Guatemala, Nicaragua und El Salvador hinzu, untereinander durch den Plan Cóndor koordiniert. Eine brutale Unterdrückung überzieht das gesamte Land und trifft besonders die kämpferischsten Strömungen des Peronismus - mit Toten, Verschwundenen, Haft, Folter, innerem und äußerem Exil - während bestimmte rechte Zirkel derselben Bewegung diese Maßnahmen unterstützen.
4.- Die Niederlage der argentinischen Diktatur im Malvinenkrieg 1982 und ihre folgende Schwächung führen zur Einberufung von Wahlen und die Wiedereinführung der Demokratie im Jahr 1983. Während des Wahlkampfes sollte sich zeigen, dass die Justizialistische Partei und die Mehrheit der Gewerkschaften von den rückschrittlichsten Strömungen kontrolliert wurden, von Figuren, die auf heftige Ablehnung bei der eigenen Basis stießen. Bei den Präsidentschaftswahlen erleidet die Partei die erste Wahlniederlage ihrer Geschichte gegen Raúl Alfonsín, Kandidat der Radikalen Bürgerunion (Unión Cívica Radical, UCR). Bei den Gouverneurs- und Abgeordnetenwahlen in l985 sind die als Peronistische Erneuerung (Renovación Peronista) zusammen geschlossenen Strömungen in der Mehrheit der Provinzen die Wahlsieger. Dabei treten sie außerhalb der Justizialistischen Partei an und verdrängen deren Gruppierungen später mit Modernisierungslosungen. Ab 1987 kündigt sich deutlich ein Debakel der Radikalen Bürgerunion an. Sie bekam immer weniger Zustimmung. Dies war eine Folge der ersten umgesetzten Anpassungsmaßnahmen, die vom IWF im Rahmen des sogenannten Plans für den Süden (Plan Austral) aufgezwungen wurden sowie der Verabschiedung des Gesetzes über die Gehorsamspflicht und des Schlusspunktgesetzes, die die Bestrafungsmöglichkeiten der Oberkommandierenden der Streitkräfte für den Völkermord der Diktatur einschränkte. Nachdem er die interne Ausscheidung der Justizialistischen Partei gewann, wird 1989 mit Carlos Menem der ExGouverneur von La Rioja und Mitglied der Peronistischen Erneuerung zum Präsidenten gewählt. Das Amt tritt er vorzeitig an - nach einem Putsch des Marktes, der zu einer Hyperinflation führt, die von der Plünderung von Supermärkten und die Regierbarkeit bedrohenden sozialen Unruhen begleitet wird.
5.- Von den ersten Tagen seiner Regierung an wird deutlich, dass Präsident Menem ein Bündnis mit den stärksten einheimischen und ausländischen Finanz- und Wirtschaftsgruppen sowie den korrupten, die CGT kontrollierenden Gewerkschaftsfraktionen geschlossen hat. Zugleich knüpft er engere Bande mit politischen Kräften und Vertretern der neoliberalen Rechten Argentiniens und erhält starke Rückendeckung der USA. Ebenso treibt er die Hoffnungen und die Unterstützung der ärmsten Schichten an, die an seine Versprechungen glauben, soziale Gerechtigkeit und nationale Souveränität wieder auf die traditionellen Banner zu schreiben. Aber die Politik Menems im Namen des Peronismus soll zu einem völlig umgekehrten Bild der ersten Regierungsperiode Peróns werden. Ihr Resultat ist eine gigantische Beraubung von Gesellschaft und Nation zugunsten der Gruppen des Finanz- und Wirtschaftskapitals. Begleitet wird dies durch ein beispielloses Korruptionsniveau in der Politik und im Gewerkschaftssektor. Die Mittel aus Privatisierungserlösen und einer sich innerhalb weniger Jahre verdoppelnden Auslandsschuld erlaubten es Menem während seiner ersten Amtszeit, einen hohen Zustimmungsgrad zu erreichen. Mit der Komplizenschaft der Radikalen Bürgerunion konnte er seine Strategie voran treiben. Dank des mit Raúl Alfonsin vereinbarten Olivenbaumpaktes (A.d.Ü. 1), der eine Teilreform der Verfassung zum Ziel hatte, gelingt Menem 1995 seine Wiederwahl. Alles schien darauf hin zu weisen, das er den Höhepunkt der öffentlichen Macht erreicht hatte: Er kontrollierte die Regierung, das Parlament und das Justizsystem. Der Oberste Gerichtshof war ihm völlig ergeben, er hatte die Unterstützung der ökonomisch entscheidenden Gruppen, des IWF, der Weltbank und der nordamerikanischen Regierung sowie die Zustimmung von 50 Prozent der Wähler. Doch zwei Jahre später beginnt diese Macht sich zu verflüchtigen: Der Peronismus verliert 1997 die Parlaments- und 1999 die Präsidentschaftswahlen. Gegenwärtig stößt Carlos Menem auf eine Ablehnung von 78 Prozent. (1)
6.- Die Regierung von Fernando De la Rúa, dem Vertreter des Bündnisses zwischen UCR und der Frepaso - einer Mitte-Links-Allianz, die sich den Kampf gegen Straffreiheit und Korruption verschrieben hatte - hielt die neoliberale Politik Menems aufrecht - eingeschlossen die Ernennung von Domingo Cavallo, dem Kopf der menemistischen Wirtschaftspolitik, als Wirtschaftsminister ein. Dies führte zu ihrer beschleunigten Schwächung. Bei den Parlamentswahlen im Oktober 2001 erreichten die sogenannten Proteststimmen (voto bronca) - unausgefüllte oder absichtlich ungültig gemachte Stimmzettel - fast 40 Prozent. Zwei Monate später geschehen die Ereignisse des 19. und 20. Dezember. Unter diesen Umständen, dem Zusammenbruch der Radikalen und dem Verschwinden der Frepaso, hält sich nur noch die Justizialistische Partei, die besonders in den Provinzen stark ist. Ihre Differenzen, Abkommen und Machtauseinandersetzungen untereinander einmal beiseite gelassen, so waren sowohl Adolfo Rodríguez Saá als auch Eduardo Duhalde und Néstor Kirchner - die drei auf De la Rúa folgenden Präsidenten von den Justizialisten während der Regierung Menem jeweils Gouverneure (von San Luis, Buenos Aires und Santa Cruz) und unterstützten den Wirtschaftskurs von Minister Cavallo, insbesondere die Privatisierungen.
7.- Die Krise vom Dezember 2001 belegt, dass die Argentinien seit der Militärdiktatur aufgezwungenen ökonomischen Strategien das Land in eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Katastrophe geführt hatten. Entsprechend verurteilte eine Bevölkerungsmehrheit die politische und gewerkschaftlichen Führungskräfte, die Banken, die einheimischen und ausländischen Konzerne, den IWF und die USA. Einige vergleichende Statistiken von 1974/75 und 2002 erlauben, das Ausmaß der Katastrophe auf zu zeigen: In diesen Jahren steigt der Anteil der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze von sieben auf 56 Prozent. Die Arbeitslosigkeit wächst von drei auf 21 Prozent, dazu kommen 20 Prozent Unterbeschäftigung und 40 Prozent der insgesamt Beschäftigten, die mit unsicheren Arbeitsverhältnissen leben müssen. Die Reallöhne sinken um 65 Prozent. Während 1974 mehr als 90 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung Sozialversicherungsschutz genoss, so kommt dieser Anteil in 2002 nicht mehr über 20 Prozent hinaus. Die Auslandsschulden wachsen von 7,8 Millarden Dollar auf 170 Milliarden Dollar an, obwohl in dieser Zeit etwa 200 Milliarden Dollar Schuldendienst geleistet und mehr als 90 Prozent des öffentlichen Vermögens veräußert werden. Die Anpassungspläne des IWF führten zu einer beeindruckenden Verringerung der öffentlichen Ausgaben für Bildung, soziale Sicherheit und Gesundheit. Dies zu einem Zeitpunkt, an dem Arbeitslosigkeit und unsichere Beschäftigungsverhältnisse Millionen Familien den Verlust ihrer Sozialversicherung einbrachten und sie dazu zwangen, sich in immer schlechter ausgestatteten Krankenhäusern behandeln zu lassen. Öffentliche Unternehmen, Dienstleistungen und Ressourcen wurden dank der Komplizenschaft zwischen den nutznießenden Gruppen und den für diese Auslieferung verantwortlichen Politikern unter für das Land skandalösen Bedingungen privatisiert. Ein Beispiel sind die Gasvorkommen von Loma de la Lata, ein auf 40 Milliarden Dollar geschätzter potentieller Reichtum, dem Unternehmen Repsol für 300 Millionen Dollar überlassen. Ähnliche Proportionen wiederholten sich bei fast allen Privatisierungen. (2)
Teil I.- Charakterisierung der Partei
Diesen Hintergrund berücksichtigend, muss die Orientierung der Justizialistischen Partei unter der Regierung von Néstor Kirchner im Kontext einer doppelten Krise - der ökonomisch-sozialen und der politischen - bewertet werden. Einerseits werden die schwerwiegenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen Argentiniens aufgrund fast drei Jahrzehnte lang aufgezwungener neoliberaler Politik eine tiefgreifende Neudefinition der gesellschaftlichen Klassen und Gruppen zum Ergebnis haben: Ein hoher Anteil der Industriearbeiter und Dienstleistungsbeschäftigten wurde zu Arbeitslosen, Marginalisierten, Piqueteros und Cartoneros (A.d.Ü. 2) - mit Organisationsformen, die sich an territorialen Aspekten und nicht mehr nach Arbeitsorten ausrichten. Währenddessen bilden große Gruppen der Mittelklassen Bestandteil des Phänomens der neuen Armen, deren Lebensstandard und Dynamik sozialer Beziehungen einen substantiellen Niedergang erfahren haben. Angesichts der Dimension dieses Phänomens - in nur 25 Jahren fiel die Hälfte der Bevölkerung unter die Armutsgrenze (statt sieben nun 56 Prozent) und etwa 85 Prozent der Bevölkerung verarmten in unterschiedlichem Ausmaß - haben die mit einer traditionellen Klassenstruktur verknüpften Verhaltensweisen drastische Änderungen erfahren.
Auch wenn diese Situation als vorübergehend eingestuft werden kann und sie möglicherweise zu einer Umstrukturierung auf neuen Grundlagen tendiert, so ist das heutige Argentinien durch eine ausgeprägte Atomisierung charakterisiert. Es agieren Neubildungsfaktoren des sozialen Gewebes durch gemeinschaftlichliche Organisationsformen, die auf den Werten von Solidarität und Gegenseitigkeit fußen. Bisher entwicklen sie sich ohne ein Netzwerk, das sie untereinander verstrebt: So der Fall der zahlreichen von Nachbarschaften organisierten Volksküchen; der nach ihrem Aufschwung 2002 übrig gebliebenen Stadtviertelversammlungen; der von den Arbeitern zurück eroberten Unternehmen; der Arbeitslosenorganisationen mit ihren unterschiedlichen Strömungen (einige mit politischen Vorzeichen, andere nicht); der Gruppen, deren Familienangehörige Opfer des gatillo fácil (den Finger schnell am Abzug haben, d.Ü.) oder anderer Formen polizeilicher Straffreiheit wurden, die zahllosen Jugendlichen das Leben gekostet hat; der gegen die Verschacherung ihrer Felder kämpfenden Landfrauen; der Kleinbauern in den Provinzen Misiones oder Chaco; der indigenen Gruppen; der Bauernbewegungen mit ihren Landforderungen; usw. Dazu gezählt werden müssen die Menschenrechtsorganisationen, die ihre Aktionskraft behalten haben. Diese neuartigen Erfahrungen sozialer Neubildung weisen ihre eigenen Aufbau-Zeitpläne auf, die nicht auf die Wahlkalender abgestimmt sind. Im allgemeinen halten sie Distanz zu den politischen Parteien in all ihren Ausdrucksformen. Eher tendieren sie dazu, den Einfluss dieser Parteien auf ihre Aktivitäten ausdrücklich zu vermeiden, denn in zu vielen Fällen führten die Partei- oder Wahleinflüsse zu schwierigen internen Problemen.
Andererseits hat die Repräsentativitätskrise der politischen Parteien, die sich im Land seit Ende der neunziger Jahre verschärfte, mit den Ereignissen im Dezember 2001 und der Losung "alle sollen abhauen, bis kein Einziger übrig bleibt" (“que se vayan todos, que no quede ni uno solo”) einen Höhepunkt erreicht. Zwar findet die Breite der sozialen Bewegungen, die im Verlauf des Jahres 2002 aufeinander abfolgen, keine neuen Organisations- und Repräsentationsformen, die in der Lage sind, Alternativen auf dem Feld der Politik und Wahlen darzustellen und die Parole bezüglich einer Ablösung des Großteils der kritisierten Führungsriegen und Kandidaten umzusetzen. Doch an der angeschlagenen Glaubwürdigkeit der traditionellen Parteien hat sich nichts geändert. Der Zerfall der Radikalen Bürgerunion und der Frepaso, die kurz zuvor noch die Wahlen gegen den Peronismus gewonnen hatten, lassen letzteren als einzige überlebende politische Kraft übrig, wenn auch gespalten und geschwächt. Die Links- und Mitte-Linksparteien wie der Restbestand der Frente Grande, die Kommunistische Partei, die Sozialistische Partei mit ihren Strömungen, die Arbeiterpartei und andere trotzkistische Gruppen haben es nicht geschafft, an einem Strang zu ziehen. Sie wiederholen spalterische Verhaltensweisen, die ihre geringe Glaubwürdigkeit noch weiter minieren.
In diesem Kontext definiert sich die relative Stärke der Justizialistischen Partei. Sie hat einen Kampf zwischen internen Fraktionen durch gemacht und weist eine besondere Anpassungsfähigkeit ihrer Führungskräfte auf, sich an der Seite derjenigen einzurichten, die als Sieger aus dieser Konfrontation hervor gehen. Ein Großteil der alten Menemisten liefen zu Eduardo Duhalde während dessen Präsidentschaft über. Sie unterstützten die Kandidatur von Néstor Kirchner, der bei den Präsidentschaftswahlen im April 2003 den Rückhalt von Duhalde gegen den Kandidaten Carlos Menem hatte. Der Pakt mit Duhalde war für die Kandidatur Kirchners entscheidend. Letzterer hatte noch in 2002 und bis zu dieser Vereinbarung Duhalde als den Präsidenten angeklagt, der die brutalste Anpassung in Argentinien durchgeführt habe - aufgrund der Art der Abwertungspolitik - und der letzte Vertreter der alten Politik sei. Er schlug keynesianische Instrumente zur Einkommensumverteilung vor, übte scharfe Kritik an Menem und Cavallo und schlug ein Zusammengehen mit fortschrittlichen Kräften für die Bildung eines nationalen Bündnisses vor. Doch Ende 2002 konsolidiert sich die Allianz Kirchner-Duhalde, der es geschuldet ist, dass eine wichtige Gruppe von Duhalde-Kadern als Minister oder Staatssekretäre Kabinettsmitglieder sind und andere im Parlament agieren. Einmal an der Regierung, nimmt Kirchner seinen Kampf mit Duhalde wieder auf, der von zahlreichen Führungsmitglieder verlassen wird, die sich dem amtierenden Präsidenten annähern. Diese Flexibilität in den ideologischen Definitionen - die es den Figuren erlaubt, neoliberale Strategien mit zu tragen oder an der Korruption beteiligt zu sein und sich kurz darauf Positionen anzuschließen, die diesen Strategien und Verhaltensweisen angeblich kritisch gegenüber stehen - macht es schwierig, das gegenwärtige Profil des Peronismus zu kennzeichnen. Dieser bezieht sich nach wie vor positiv auf die Persönlichkeiten von Perón und Eva Perón sowie weiterer traditioneller Symbole - trotz des Abgrundes, der heutige Peronisten von den im Verlauf von 30 Jahren von dieser Führungsfigur sowohl im Amt als auch aus dem Exil getroffenen Entscheidungen und von seiner konkreten Politik trennt.
Die durch die Profile und Strategien der krisengeschüttelten politischen Parteien geschaffene Verwirrung kam in den Präsidentschaftswahlen vom April 2003 zum Ausdruck. Ein bedeutender Teil der fortschrittlichen Wähler, die im Oktober 2001 diese fast 40 Prozent des voto bronca ausmachten, stimmten gegen die Möglichkeit eines Sieges von Menem oder López Murphy - Kandidat des rechten Flügels der UCR mit einem deutlich neoliberalen Profil - da eine etwaige ballotage zwischen beiden die Absegnung neoliberaler Strategien bedeutet hätte. Sie stimmten weniger für Néstor Kirchner oder andere Kandidaten. Einige nannten dies die Abstimmung des Entsetzens (voto espanto), in Anspielung auf das Gedicht von Jorge Luis Borges, wo es heißt "uns eint nicht die Liebe, sondern das Entsetzen". Die vom Menemismus geschmiedeten sozialen Allianzen hatten sich genauso aufgelöst wie die, die UCR und Frepaso erreichten und die einen hohen Anteil der Mittel- und Unterschichten angesprochen hatten, die vorher für den Peronismus stimmten. Gleichzeitig beteiligten sich an den peronistischen Pakten zu Gunsten von Kirchner oder Menem mehrere Gouverneure aus Provinzen wie Jujuy, Salta, Tucumán, La Rioja, Corrientes, Neuquén und Santiago del Estero. Dort herrschen wahrhaftige politische Feudalwesen, die die Bevölkerung durch Klientelformen kontrollieren, die mit einer ständigen Einschüchterung der Oppositionellen kombiniert werden - ohne dass es möglich ist, diese Gouverneure in ideologischer Hinsicht oder aufgrund politischer Verhaltensweisen zu unterscheiden. Juan Carlos Romero, der Gouverneur von Salta, der im Verdacht steht, in Drogenhandel und andere trübe Geschäfte verwickelt zu sein und in seiner Provinz Regierung, Parlament, Justizwesen, Polizei, Grenzpolizei und Medien kontrolliert, war beispielsweise an der Seite Menems Kandidat für das Vizepräsidentenamt und ist jetzt Verbündeter von Präsident Kirchner.
Im Zuge dieser Dynamik hat die Justizialistische Partei die Gestalt einer Struktur bzw. eines Apparates mit Berufskadern und Pfründeempfängern angenommen, die eine geringe reale Verwurzelung in der Basis aufweisen. Allerdings nutzen sie die von den entsprechenden Autoritäten verteilte Sozialhilfe, um sich eine Klientel heran zu ziehen, die verpflichtet ist, an Veranstaltungen teil zu nehmen oder sie zu wählen. Dies ist die Form, ihre Wahl- und Direktorenposten auf Bundes-, Provinz- und Gemeindeebene zu bewahren, verbunden mit vielfältigen, nicht immer transparenten Beratungstätigkeiten und Geschäftsgelegenheiten. Berücksichtigt man, dass außer den Programmen jeder Provinz das landesweite Haushaltsunterstützungs-Programm Jefes y Jefas de Hogar fast zwei Millionen Leistungsberechtigte abdeckt und nur zehn Prozent des Budgets durch unabhängige Piquetero-Organisationen verwaltet werden, während der Rest von Gouverneuren, Regierungsdirektoren, oder politischen Stadtviertelchefs verteilt wird, lässt sich das Ausmaß der Klientelwirtschaft abschätzen. Diese Manipulationsinstrumente gegenüber den Bedürftigen haben das Verhalten der peronistischen Basis transformiert, das in einem traurigen Kontrast zur Geschichte der Partizipation, Kreativität und Selbstorganisation steht, die die Widerstandetappe zwischen 1955 und 1973 auszeichnete. Bis jetzt deutet nichts darauf hin - abgesehen von den auf die Parteikontrolle ausgerichteten Konfrontationen und Bündnisse - dass ein Wille besteht, die Dynamik und aktuelle Verfassung der Justizialistischen Partei zu reformieren. Die Wahlkampfdiskurse beziehen sich nicht auf eine das Land betreffende Strategie oder Vorstellung, sondern konzentrieren sich ausschließlich auf einer Kritik der Maßnahmen, die zur Krise führten und auf die Verurteilung der Korruption der Menem-Regierung sowie neuerdings auch der Kirchners in der Provinz Buenos Aires, die Hauptrivalen der Kirchner-Strömung bei den kommenden Wahlen im Oktober 2005.
Parte II.- Die Partei an der Regierung
In diesem Flechtwerk - in dem es vielleicht nicht angebracht ist, die Regierung Kirchner als links zu charakterisieren - ist es jedoch möglich, klare Unterschiede zwischen dem Präsidenten und dem Menemismus bezüglich der Menschenrechte und der am Staatsterrorismus beteiligten Offiziere der Streitkräfte fest zu stellen. Ebenso bezüglich der Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofes, an dem vier Mitglieder durch angesehene Juristen ohne Verbindungen zum Präsidentamt ersetzt wurden. Es gilt ebenso für die Abschaffung der automatischen Gleichschaltung mit den USA: was die Verurteilung Kubas oder die Beziehungen mit Venezuelas Präsident Chávez angeht; die ALCA-Gründung angesichts des Mercosur; den Irakkrieg; die Versuche, eine Überwachung der lateinamerikanischen Demokratien durch die Organisation Amerikanischer Staaten (ÖA) aufzuzwingen oder die Erlaubnis für die Präsenz von mit Immunität versehenen nordamerikanischen Truppen auf einheimischen Territorium. Diese Maßnahmen entfernen Kirchner von der Politik Menems. Sie belegen ebenso Sensibilität, einen mehrheitlichen Wahrnehmungszustand im Land zu interpretieren, der in verschiedenen Umfragen reflektiert ist. Von seinem persönlichen Einsatz für die Menschenrechte abgesehen, konnte Präsident Kirchner aufgrund der Stärke und des Prestiges, die die mit dem Thema befassten Organisationen erreicht haben, entschlossen vorgehen. Dazu kam die zunehmend schwächere Stellung der Verantwortlichen für den Genozid gegenüber der nationalen und internationalen Öffentlichkeit und sogar gegenüber ihren Waffenkameraden.
Gleichzeitig zeigen angesichts der abnehmenden sozialen Mobilisierungen, die in 2002 ihre besondere Dynamik entwickelten, viele der kritisierten Politiker wieder in der Annahme Präsenz auf der öffentlichen Bühne, dass alles vorbei sei. Zweifellos hat das Risiko, öffentlich ausgebuht oder beschimpft zu werden (ser escrachado) im Vergleich zum erwähnten Jahr deutlich abgenommen. Aber die öffentliche Mehrheitsmeinung hat sich nicht in gleichem Maße geändert. Eine von der BBC London im November 2004 in 21 Ländern durchgeführte Umfrage zur Ablehnung bzw. Akzeptanz der Figur des Präsidenten George Bush, verortete Argentinien auf dem zweiten Platz mit einer Negativmeinung von 79 Prozent.(3) Mit ähnlicher Ausrichtung veranstaltete der IWF vor Kurzem ein internes Seminar, auf dem er sich fragte, warum die USA in Argentinien mehr gehasst werden als selbst in Vietnam.(4) Im August 2004 offenbarte das Consultingunternehmen Analogías - der Linkslastigkeit völlig unverdächtig - dass die Gruppen mit dem schlechtesten Image im Land in abnehmender Reihenfolge der Finanzsektor (zwölf Prozent positives und 85 Prozent negatives Image), die privatisierten Unternehmen (zehn Prozent und 88 Prozent) und das Auslandskapital (acht Prozent und 90 Prozent) sind.(5) Wenn berücksichtigt wird, dass diese drei Sektoren die Stützen des neoliberalen Modells waren und Argentinien angeblich in die Erste Welt führen sollten - so der bis zum Überdruss wiederholte Einheitsdiskurs der oligopolistischen Medien - dann darf man behaupten, dass die neoliberale Hegemonie durchbrochen ist, selbst wenn sich dies in der politischen Dynamik nicht widerspiegelt.
Die Rede vor dem Parlament bei der Amtsübernahme und der öffentliche Auftritt Fidel Castros als Redner auf der Freitreppe der Rechtsfakultät der Universität von Buenos Aires im Mai 2003 sowie bestimmte Entscheidungen in den ersten Regierungstagen - die Entlassung von 26 an der Repression der Diktatur beteiligten Heeresgeneräle - erweckten große Erwartungen. Die Popularität Néstor Kirchners wuchs weit über die 23 Prozent hinaus, die er im ersten Wahlgang erhalten hatte - es gab keine ballotage nachdem sich der Kandidat Carlos Menem zurück zog - und stärkte unerwartet eine kraftlos geborene Regierung. Die durch diese Wende der Justizialistischen Partei skizzierten Linien deuteten auf die Bekämpfung der Straffreiheit, der Korruption, der von Konzernen und Banken empfangenen Pfründe, der Arbeitslosigkeit, des Lohnverfalls und der Armut. Tendenziell richteten sie sich auf die Beantwortung der verschiedenen Forderungen der Demonstrationsmärsche in 2002. Es wird versucht, ein neues Schema gesellschaftlicher Bündnisse aufzubauen, fähig, die verarmten und erbitterten Mittelschichten, die Arbeiter und die Volksorganisationen - insbesondere die Arbeitslosen - zu integrieren, die von der neoliberalen Politik hart attackiert wurden. Es muss erneut darauf hingewiesen werden, dass Kirchner - als Gouverneur von Santa Cruz - sich Menem in den letzten Jahren von dessen Regierung entgegen gestellt hatte. Allerdings unterstützte er seinerzeit die Privatisierungen und setzte sich stark für die Erdölunternehmen, vor allem Repsol, ein. Als später Präsident Duhalde die Öl- und Gasexporte mit einer 20-prozentigen Steuer belegte, um Einnahmen zur Linderung der Krise zu erzielen, machten Gouverneur Kirchner und seine Kollegen Juan Carlos Romero aus Salta und Jorge Sobisch aus Neuquén sowohl im Parlament als auch in der Regierung lobby-Arbeit mit der Absicht, die Entscheidung zu annullieren. (6)
Der neue Präsident hält als Wirtschaftsminister Roberto Lavagna im Amt, der diesen Posten während der Duhalde-Regierung inne hatte. Er zeigt damit die Absicht, einer Wirtschaftspolitik Kontinuität zu verleihen, die bedeutende Erfolge aufwies: So verhinderte sie eine vorhersehbare Hyperinflation, in dem sie der Peso-Währung wieder zur Geltung verhalf. Es gab ein deutliches Wachstum des Bruttoinlandsproduktes, obwohl das Land im default (A.d.Ü. 3) verharrte und keine Auslandskredite erhielt. Der Export von Erdöl, Getreide und genverändertem Soja, deren Preise sich erhöhten, verzeichnete einen Anstieg und die Industrieproduktion, der Handel sowie das Bauwesen erholten sich aufgrund der durch die Abwertung gesunkenen Kosten. Lavagna war auch der Minister, der im Rahmen des Streits im Innern des herrschenden Blocks über die Lastenverteilung dieser Abwertung dessen verschiedenen Fraktionen auf Kosten der unteren Einkommensschichten entgegen kam. Den großen einheimischen und ausländischen Unternehmen wandelte er ihre Schulden in Pesos im nationalen Kreditsystem um und gewährte ihnen Steuernachlässe. Durch diese Zahlungserleichterungen kamen 139 Firmen dieser Wirtschaftsgruppen - darunter Repsol, Techint, Pérez Companc, Fate, Ford, Arcor, Pescarmona, Fiat, Renault, Acindar, Bridas, Soldati, Yoma, Telefónica, Telecom, Roggio, Römmers, Macri, Fortabat, Eurnekian und die Clarín-Gruppe - in den Genuss von Subventionen in Höhe von 12 Milliarden Dollar. Den Banken wurde aufgrund der asymetrischen Peso-Umwandlung eine Entschädigung von weiteren 12 Milliarden Dollar gezahlt - die Wertdifferenz zwischen der Eins-zu-Eins-Umwandlung von Dollarkrediten in Pesokredite und dem 1,4 Verhältnis bei der Umwandlung der Dollarkonten in Pesokonten. Die Banken dürfen zudem weiterhin das lukrative Geschäft der Pensionsfonds verwalten. Faktisch übernahm der Staat einmal mehr die Schulden und Verpflichtungen der stärksten Unternehmen und Banken: Da die Stammsitze der ausländischen Banken sich weigerten die Dollarschulden ihrer Tochtergesellschaften anzuerkennen, fiel der Entschluss sie zu entschädigen - ohne die Tatsache zu berücksichtigen, dass sie ein Jahrzehnt lang außerordentliche Gewinne aus den hohen Peso/Dollarzinsen ziehen konnten. Den Sparern und Einlegern dagegen wurden Staatschuldscheine mit zehnjähriger Einlösefrist übergeben.
Auch wenn die Tarife der privatisierten öffentlichen Dienstleistungen - Telefon, Strom, fließendes Wasser, Mautgebühren, etc. - wieder in Pesos berechnet wurden und sie nicht deckungsgleich zur Aufwertung des Dollars (von einem auf drei Pesos) stiegen, so durften die Ölgesellschaften die Treibstoffpreise um mehr als 100 Prozent erhöhen. In ähnlichem Verhältnis verteuerten sich Mehl, Brot, Fleisch, Milch und Speiseöl - exportfähige einheimische Produkte - und beeinträchtigen den Grundwarenkorb für Lebensmittel. Gleichzeitig fror das Wirtschaftsnotstandsgesetz die Löhne ein.(7) Außerdem wird dem Druck der Banken und des IWF nachgebend das Insolvenzgesetz aufgehoben, das für einen bestimmten Zeitraum die Versteigerung des verschuldeten Vermögens verhinderte. Ebenso wurde das Gesetz über Wirtschaftskriminalität annulliert, mit dem das Verhalten der Banken gerichtlich belangbar gewesen wären. Diese belogen ihre Kunden, in dem sie versicherten, ihre Einlagen seien über die Stammsitze geschützt. Die Form, in der die Abwertung ab 2002 durchgeführt wurde, etablierte so eine Reihe relativer Preise zum Nachteil derjenigen, die Einkünfte in einheimischen Pesos haben - Löhne, Pensionen, Sozialhilfen - und zum Vorteil derjenigen, die Dollarkonten im Ausland unterhielten oder über Exporte und oder andere Zahlungsvorgänge Diviseneinnahmen erzielen. Auf diese Weise wurde die Abwertung ein weiteres Mal durch die Bevölkerungsmehrheit bezahlt. Dazu zähnnlten auch die kleinen und mittleren Sparer, Opfer der Kontenbeschlagnahme (corralito) durch Cavallo, die ein Volumen von 20 Milliarden Dollar betraf. Den Großeinlegern dagegen gelang es, mit der Komplizenschaft der Banken der Beschlagnahmung zu entgehen, ohne von der Regierung sanktioniert zu werden.
Verschiedene Analytiker stimmen überein, dass das Bankenverhalten und die Kapitalflucht der Hauptgrund für den Ausbruch der Sozial- und Wirtschaftskrise war, gegen die Argentinien ankämpft. Ab Februar 2001 bis zum Einfrieren der Konten durch den corralito Ende November, flossen etwa 16 Milliarden Dollar aus dem Land. Von Dezember 2001 bis April 2002 waren es trotz der Einschränkungen des corralito weitere 13 Milliarden an Einlagen. Die Kapitalflucht erreichte in 14 Monaten 29 Milliarden Dollar. Sie sah sich durch IWF-Kredite in derselben Frist begünstigt, die gegen das eigene Statut der Institution verstießen, das Kredite an Länder verbietet, in denen ein signifikanter Divisenabfluss zu verzeichnen ist. Seine Verantwortung verleugnend pochte der IWF weiterhin auf noch härtere Anpassungsmaßnahmen und dieselben Mechanismen, die zur Krise führten. Die Beziehungen zum Fonds, zumal im Kontext einer nicht mehr handhabbaren Auslandsschuld, wurden daher zur politischen Priorität von Präsident Kirchner. Die Regierung erhielt breite Unterstützung für ihre standfeste Position gegenüber dem IWF - obwohl diese Institution zum bevorzugten Gläubiger erklärt wurde und die vorgesehenen Zahlungen niemals ausgesetzt wurden - sowie gegenüber den Besitzern der Schuldscheine, die die europäischen Banken ihren von den hohen Zinsen angezogenen Kunden übertragen hatten. Nach ausgiebigen Verhandlungen vereinbarte man einen Austausch der Schuldscheine in default mit einem Abschlag von etwa 30 Prozent. Dieser Anteil ist bedeutend geringer als der ursprüngliche Abschlagsvorschlag von 75 Prozent, der sich auf den realen Wert der Schuldscheine bezog, die einmal hoch rentabel waren: D.h., es handelte sich um eine spekulative Risikoinvestition. Während die Regierung versichert, eine Schuldenverringerung von 62 Milliarden Dollar erreicht zu haben - die Differenz zwischen der Nominalschuld nahe 188 Milliarden Dollar und der in den Verhandlungen vereinbarten 126 Milliarden - hinterfragen die Kritiker unter diesen Umständen, dass die illegalen IWF-Kredite während der Kapitalflucht legitimiert und ein höherer Wert als der Realwert der Schuldscheine in default anerkannt wurden. Andernfalls hätten die Schulden erheblich stärker reduziert werden können.(8)
Die Abwertung, die aufgrund der niedrig gehaltenen Löhne die internen Dollarkosten reduzierte, ermöglichte die Wiederbelebung der Produktion im Land. Der Rückstoß-Effekt aufgrund der BIP-Schrumpfung im Vorjahr führte zu einem Wachstum von 8,8 Prozent in 2003 und neun Prozent in 2004, für 2005 wird ein geringfügig niedrigere Zahl erwartet. Dieses Wachstum geschah in einer Periode, in der es aufgrund des default keine Auslandskredite gab, es aber auch nicht zu einer Kapitalflucht kam. Dies zeigt, dass das Problem Argentiniens nicht darin besteht, Devisen aus dem Ausland anzuziehen, sondern das Ausbluten seiner Ressourcen zu verhindern. Um dieses Wachstum zu fördern, wurde keine innovative Politik entwickelt, da die internen Kosten aus eigenem Antrieb eine Erholung in Bauwesen (26 Prozent), Handel (13 Prozent), Transport- und Kommunikationssektor (11,8 Prozent) und der Industrie (10,8 Prozent) begünstigten. Dabei konzentrierte der Bausektor 60 Prozent der Bruttoinvestition auf sich. Der Boom bei den Exportpreisen für Treibstoffe und genverändertes Soja führten aufgrund der Zölle und größerer Steuereinnahmen zu einem höheren Haushaltsüberschuss als erwartet. Anteil an diesem hatten aber ebenfalls Abwertung und Inflation. Sowohl die Bundesregierung als auch die Provinzen konnten bei Lohn- und Pensionszahlungen sowie der Sozialhilfe einsparen, die real sanken, so wie es die Neoliberalen gefordert hatten.(9) Der reale Rückgang der öffentlichen Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Sozialversicherung - sie sanken um 29 Prozent - erklärt mehr als die Hälfte des von der Regierung ausgewiesenen Haushaltsüberschusses in den Jahren 2003 und 2004. Für 2005 ist die Tendenz praktisch gleich.(l0) In dem die Verzerrung der relativen Preise sich verstärkte, spitzten diese Entscheidungen die soziale Polarisierung im Land zu: Von 2002 bis 2004 wuchs der Abstand zwischen den 10 Prozent Reichsten und den 10 Prozent Ärmsten um das Dreißigfache, in der Haupstadt erreichte die Lücke das Fünfzigfache. 1974 betrug dieser Abstand in Argentinien 12; in Schweden liegt er derzeit bei 6.l und in Japan bei 7. In 2004 sank der Anteil der Arbeitseinkommen am BIP auf 21,5 Prozent ab und in 2005 auf 20 Prozent - der niedrigiste Anteil in der Geschichte. Noch 2001 lag er bei 27,9 Prozent und in 1974 bei 49 Prozent. (11)
Das ausdrückliche Ziel von Präsident Kirchner ist es, einen seriösen Kapitalismus zu konsolidieren, der eine nationale Bourgeoisie schafft und fördert, die bereit ist, zusammen mit ausländischen Unternehmen zu agieren und zur Entwicklung bei zu tragen, ohne dem System der Pfründe und Korruption zu verfallen, das die einheimischen und ausländischen Gruppen des Wirtschafts- und Finanzkapitals in den vergangenen Jahrzehnten anwandten. Die Rolle des Staates definiert sich im Wesentlichen über folgende Maßnahmen: die Förderung öffentlicher Bauten und Wohnungsprogramme, um Beschäftigung zu schaffen; die Subventionsvergabe an Unternehmer zur Ankurbelung der Investitionen; die Sicherstellung eines Haushaltsüberschusses, dessen Hauptbestimmung in der Bedienung der Schuldenverpflichtungen liegt; verstärkte Kontrolle über die privatisierten Unternehmen und die Banken, um Missbräuche zu vermeiden; die Politik der Exportzölle in den Branchen, wo eindeutig außerordentliche Gewinne entstehen; die Bewilligung von beschäftigungswirksamen Sozialprogrammen, insbesondere durch die Förderung von Mikrounternehmen; die Handhabung von Wechelkurs sowie der Lohn- und Preispolitik mit dem Ziel, die inflationären Tendenzen zu neutralisieren. Klar ist zudem, dass die Privatisierungen in allen Bereichen aufrecht erhalten werden sollen, ohne den bei der Konzessionsvergabe begangenen Unregelmäßigkeiten oder den nicht eingehaltenen Verträgen - die Regel in den vergangenen 15 Jahren - nach zu gehen. Dies ist besonders bedenklich im Energiesektor, da die steigenden Ölpreise riesige Gewinne produzieren - die Förderung eines Barrel kostet etwa sechs Dollar und der Exportpreis liegt bei 60 Dollar - und davon trotz der Zölle mehr als zwei Drittel in den Händen der Großkonzerne verbleiben. Das neugegründete staatliche Unternehmen Enarsa hat sich zu einem reinen Untersuchungs- und Evaluierungsbüro neuer Konzessionen an den Privatsektor gewandelt. Ursprünglich war es dazu bestimmt, für den öffentlichen Sektor neue Fördergebiete zu erschließen und die bisher nach dem Verfahren eidesstaatlicher Versicherung ablaufende Ölförderung zu kontrollieren sowie zusammen mit PDVSA und Petrobras Bestandteil eines lateinamerikanischen Unternehmens zu werden.(l2)
Mit der selben Ausrichtung bewilligte ein Dekret - ohne vorherige Debatte oder Einbeziehung des Parlamentes - eine zehnjährige Konzessionsverlängerung für diejenigen, die die oligopolistische Kontrolle über die Medien ausüben. Als er die Maßnahme ankündigte, erklärte der Präsident, es sei sein Traumziel gewesen "dass wir erreicht haben, dass die Medien sich in argentinischen Händen befinden". Doch er unterließ es zu sagen, dass sich unter diesen argentinischen Händen die von Figuren wie José Luis Manzano befinden - bekannt wegen seines Ausspruches “Ich raube für die Krone” während der Menem-Jahre und wegen seiner Verbindungen mit den Mafien von Mas Canosa in Miami - und die Hände von Raúl Moneta, dadurch bekannt, die Banco von Mendoza zu plündern und mit trüben Bankgeschäften Korruptionsgelder zu waschen.(l3) Andererseits besteht abgesehen von den Exportzöllen keine Absicht, das Steuersystem des Landes umzugestalten, das als eines der weltweit rückschrittlichsten gilt: Die Einnahmen der Gewinnbesteuerung machen in den USA 15 Prozent des BIP aus, in Frankreich und Deutschland 12 Prozent, in Brasilien 8 Prozent und in Argentinien nur 5 Prozent. Die niedrige Beitreibung bei der Gewinnbesteuerung ist der Steuerhinterziehung und zahlreichen Ausnahmen zugunsten der Kapitalkräftigsten geschuldet: Weder finanzielle Vergünstigungen von Personen noch die erhaltenen Aktiendividenden werden besteuert, ein Fall, der weltweit nur ganz selten vorkommt. Außerdem kommt ein Großteil der Beitreibungen in dieser Rubrik von den mittleren Einkommensschichten, die eine durchschnittliche Steuerlast von 34 Prozent tragen, während sie bei den hohen Einkommen bei 25 Prozent liegt.(l4) Wenn die Ausrichtung dieser Maßnahmen in ihrer Gesamtheit bewertet werden, dann können wir behaupten, dass der Vorschlag des seriösen Kapitalismus - weit davon entfernt, alternative Prinzipien zu propagieren - die grobschlächtigsten und missbräuchlisten Auswüchse zu korrigieren sucht. Im allgemeinen bewahrt er aber das in Argentinien in den drei letzten Dekaden eingeführte neoliberale Modell: Die ideologische Festlegung ist kohärent mit dem Regierungsteam, in dem die Hauptfigur, der Kabinettschef Alberto Fernández, aus einer politischen Gruppe mit dem Namen Peronismus für die Unterstützung Cavallos kommt.
Dennoch muss wiederholt werden: Im internationalen Bereich distanziert sich die Politik Kirchners von der Menems, die sich den USA bedingungslos unterordnete und zur Neutralisierung des Mercosur führte. Die gegenwärtige Regierung räumt den Mercosur-Vereinbarungen höheren Stellenwert ein als dem Druck, die Gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA einzuführen. Brasilien bleibt einer der bevorzugten Partner Argentiniens. Diese Entscheidung ist nicht frei von Problemen, da der Mercosur auf Grundlage eines neoliberalen Konzeptes geschaffen wurde, das die Wettbewerbsidee über den gegenseitigen Nutzen oder die Ergänzung stellt. Was einem Land nutzt, schädigt so das andere Land und umgekehrt. Dazu kommt ein begrenzter Markt als Folge von Armut und Arbeitslosigkeit, von denen die Mitgliedsländer, vor allem Brasilien und Argentinien, betroffen sind. Ein Beispiel sind die Spannungen, die durch die Quoten für Hühnerfleisch und elektrische Haushaltsgeräte entstanden: Wenn die in Armut und völliger Mittellosigkeit lebenden fast 80 Millionen Brasilianer und 20 Millionen Argentinier sich diese Produkte leisten könnten, dann bestünde das Problem nicht in der entsprechenden Quotensenkung, sondern darin, wie die Produktion in beiden Ländern hoch gefahren werden könnte. Bisher hat die vorherrschende Orientierung der Wirtschaftspolitik beider Regierungen eine Neuformulierung des Mercosur auf einer neuen Basis verhindert, auf der eine nachhaltige Integration und sowohl die gemeinsame Entwicklung als auch die Umkehrung von Armut und Arbeitslosigkeit angestoßen werden könnte. Dagegen gehen die von Venezuela verfolgten Abkommen von einer anderen Konzeption aus: Statt die Öltanker weiter in Houston reparieren zu lassen oder sie den transnationalen Konzernen abzukaufen, vereinbarte das staatliche Unternehmen Schiffdocks und -Werften Venezuelas (Diques y Astilleros Navales de Venezuela) mit dem nationalen argentinischen Werftunternehmen Astilleros Río Santiago, den eigenen Reperaturbetrieb auf zu nehmen und den Bau zweier Tanker - die Ölderivate transportieren - weiter zu verfolgen: erste Schritte, gemeinsame lateinamerikanische Unternehmungen zu schaffen. Astilleros Río Santiago wurde von seinen Arbeitern und Fachkräften gegen die Privatisierungswelle verteidigt und zählt auf hochqualifizierte Arbeitskräfte, die mit der Ausbildung von mehr als 1 000 neu eingestellten Arbeitern beauftragt sind. Das Unternehmen benötigt allerdings Investitionen in Maschinenpark und Infrastruktur. Diese werden vom argentinischen Staat getätigt, Venezuela ist bereit, einen Teil davon zu übernehmen.(l5)
Das drängenste Problem Argentiniens bleibt der schlimme Niedergang der "sozialen Sicherheit für Alle", wenn darunter das Recht der Bürger auf eine ausreichende und gesunde Ernährung, würdige und gut bezahlte Arbeit, Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, eine wirklich als solche erlebbare Kindheit, eine angemessene Wohnstatt und unverseuchter Habitat, geschützte Altersjahre sowie die Möglichkeiten für Erholung und die persönliche Entfaltung verstanden werden. Auf das Ausmaß von Arbeitslosigkeit, unsicheren Beschäftigungsverhältnissen, Armut und absolute Mittellosigkeit in der argentinischen Gesellschaft hat es bis jetzt keine innovativen Anworten von der Regierung Kirchner gegeben. Der Rückgang der in diesen Bereichen in 2002 erreichten Höchstwerte, ist den Möglichkeiten geschuldet, die sich aufgrund der Abwertung aus dem entscheidenden Sinken der Produktionskosten sowie dem begleitenden Wachstum einiger Branchen eröffneten. Letztere nutzten die niedrigen Löhne und fragten Arbeitskräfte nach. Ende 2004 war die Arbeitslosenrate von 21 Prozent in 2002 auf auf 16,2 Prozent gefallen (12,1 Prozent Arbeitslosigkeit ohne Unterstützungszahlungen und 4,1 Prozent Nichtbeschäftigte, die über das Programm Jefes y Jefas de Hogar 50 Dollar monatlich erhalten). Die Unterbeschäftigung ging im selben Zeitraum von 20 Prozent auf 14,5 Prozent zurück. Das bedeutet: Im gesamten Land haben etwa fünf Millionen Menschen Beschäftigungsprobleme, das sind mehr als 30 Prozent der Erwerbstätigenbevölkerung. Dazu kommt, dass zwar mehr als die Hälfte der neu geschaffenen Arbeitsplätze regulärer Art sind. Doch 48,9 Prozent der Beschäftigten - weitere fünf Millionen Arbeiter - sind schwarz beschäftigt, sie besitzen weder Arbeitsrechte noch Sozialversicherung. Wenn diese verschiedenen Probleme berücksichtigt werden, kann man davon ausgehen, dass zwischen 65 und 70 Prozent der Erwerbtätigenbevölkerung des Landes, die aus ungefähr 14 Millionen Menschen besteht, äußerst ungünstige Arbeitsbedingungen vorfindet.(l6)
Trotz der proklamierten Regierungsberufung, die Einkommensverteilung zu verbessern, sanken die durchschnittlichen Reallöhne von Ende 2001 bis Ende 2004 um 25 Prozent. Anfang 2005 betrug das Durchschnittseinkommen derer, die als Freiberufler, Geschäftsinhaber, Selbstständige oder Beschäftigte - regulär beschäftigt oder nicht - arbeiteten 654 Pesos (etwa 220 Dollar) pro Monat. Diese Summe befindet sich unterhalb der als Armutsgrenze definierten 763 Pesos (260 Dollar). Da es sich um einen allgemeinen Durchschnittswert handelt, der die höheren Einkommen von Geschäftsinhabern, Beschäftigten mit Hochschulabschluss und regulär beschäftigten Arbeitern einschließt, bedeutet das Einkommen der restlichen Mehrheit, dass sich diese Beschäftigten in extremer Armut oder Mittellosigkeit befinden. Schätzungsweise konnten nur 20 Prozent der Arbeitskräfte wieder das Lohnniveau vor der Krise von 2002 erreichen - vor allem diejenigen, die in den Exportunternehmen und den oligopolistischen Firmen tätig sind, die ihrerseits außerordentliche Gewinne aufgrund der relativen Preise nach der Abwertung erzielten. Die übrigen 80 Prozent dagegen leiden unter einem mehr oder weniger großen Kaufkraftverlust, mit einer Inflation, die zwischen Anfang 2002 und Mitte 2005 die Ziffer von 62 Prozent erreichte. In der schlimmsten Situation befinden sich die fast fünf Millionen schwarz beschäftigten Arbeiter mit durchschnittlich 343 Pesos (120 Dollar) monatlich, so eben über der Grenze zur Mittellosigkeit. Die Zahlungen des Programmes Jefes y Jefas de Hogar verharren bei l50 Pesos, was der Hälfte des Grenzsatzes für die Bestimmung der Mittellosigkeit entspricht. Diese Zahlen können auch erklären, warum trotz verbesserter Arbeitsindikatoren die Armut und die Mittellosigkeit nach wie vor das Bild eines ungeheuer ungerechten Landes zeigen. Seit Ende 2004 vervielfachten sich die Mobilisierungen für Lohnerhöhungen unter anderem in folgenden Branchen: Metall, Lebensmittel, Öl, U-Bahn, Transportwesen, Banken, Eisenbahnen, staatliches Gesundheitswesen, Lehrpersonal, Universitäten, öffentliche Verwaltung auf Bundes- und Provinzebene. In der Regel handelte es sich um zwei Protestarten: einerseits die von den Gewerkschaften angeführten und andererseits die von Gruppen oder Gewerkschaftsdelegierten mit kritischer Position gegenüber ihrer Führung, die abseits der amtlichen Gewerkschaftsorganisationen agieren. Dies zeugt von einem tiefgreifenden Wandel in der Dynamik der Gewerkschaftsbewegung. Eine Bewegung, die sich in Folge von Bürokratisierung und Korruption der Führungen fragmentiert hat, während die fortschrittlichsten Teile wie die CTA sich aufgrund hoher Arbeitslosigkeit und Pauperismus in ihrer Verhandlungsmacht geschwächt sehen.(l7)
Ein Unicef-Bericht sagt aus, dass 62 Prozent der Kinder und Heranwachsenden unter 18 Jahren unterhalb der Armutsgrenze leben. Die Zahlen verschlimmern sich jedoch, je geringer das Alter. Von den fünf- bis zwölfjährigen Kindern sind fast 70 Prozent betroffen. In den armen Provinzen wie Chaco, Formosa, Salta, Jujuy und Catamarca ist die Lage härter. Auch wenn Ende 2004 die Kennziffern für Kinderarmut je nach Region zwischen ein und drei Prozent sanken, ist dieser Unterschied bedeutungslos, bedenkt man, dass sie sich im Nordosten Landes von 75,2 auf 74,2 Prozent, im Nordwesten von 73,8 auf 70,7 Prozent und im Großraum Buenos Aires von 65,7 auf 61,9 Porzent verringerte. Laut Unicef ist das Ernährungsrisiko besonders hoch für 58,2 Prozent der Kinder unter zwei Jahren und schätzungsweise weist die Hälfte dieser Kinder bereits Blutarmut mit unterschiedlichen Schweregraden auf. Andererseits hat die Kinderarbeit zugenommen und betrifft fast zwei Millionen Kinder (l 939 288), was 31 Prozent der unter 15-jährigen entspricht. Dies drückt sich in einer Verschärfung der Bildungskrise aus: 50 Prozent der Heranwachsenden von 13 bis 17 Jahren verlassen die Schule, in der Provinz Buenos Aires stieg die Desertionsrate seit 2002 um 30 Prozent an. Der Unicef-Exekutivdirektor in Argentinien versichert:”Die Armut ist nirgendwo auf der Welt ein Problem fehlender Ressourcen: Nie zuvor gab es so viele Ressourcen und so viel Produktion von Reichtum. Das Problem ist, dass er nie so schlecht verteilt war. Was fehlt, ist der politische Wille." Auch auf diesem Feld ist keine innovative Regierungspolitik wahrnehmbar: Im Sozialministerium werden nicht nur die Hilfen im Kontext von Jefes y Jefas de Hogar beibehalten, ebenso werden Programme wie "Packen wir's an" ("Manos a la Obra") gefördert, die Nachdruck auf die Alternative Mikrounternehmen legen - welche in den neunziger Jahren zu mehr als 90 Prozent scheiterten. Dies geschieht auf Kosten der Unterstützung für Genossenschaften und andere kollektive Erfahrungen. Und obwohl der Bevölkerungsanteil unterhalb der Armutsgrenze von den 56 Prozent in 2002 auf derzeit 42 Prozent abgenommen hat, gibt es weiterhin einen Sektor von fast 20 Prozent, der sich direkt überhalb dieser Grenze befindet. Dies belegt, dass das Armutsdrama nicht mit wirksamen Maßnahmen angegangen wird.(l8)
Es ist ein besonderes Paradox: Die neue Regierung verfolgt weiter eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die die Auswüchse des Menemismus zu korrigieren sucht, aber keinen Willen erkennen lässt, die Leitlinien des neoliberalen Modells zu transformieren, während die am härtesten geschlagenen Gruppen in Argentinien ein großes Potential aus Talent, Kreativität und Innovation bewiesen haben, Lösungen für die kritische Situationen zu finden. Darunter ragen die wieder angeeigneten Unternehmen hervor, von ihren Besitzern erst geplündert und dann geschlossen. Die Arbeiter und Fachkräfte besetzten sie, organisierten sich in Genossenschaften und nahmen mit großer Effizienz die Produktion wieder auf. Arbeitsprozesse und Entscheidungsfindung sind horizontal strukturiert, ähnlich dem Verfahren der Qualitätszirkel in Japan. Trotz vielfacher Hindernisse und Bedrängnis haben sich diese Unternehmen zu 95 Prozent als erfolgreich erwiesen und einige von ihnen - Aluminium-, Traktoren- und Kühlschrankproduktion - exportieren und erfüllen internationale Qualitätsstandards. In klarem Gegensatz zum Neoliberalismus lag einer der Schlüssel darin, die Unternehmerkosten auszuschalten, d.h., den Gewinn der Kapitalbesitzer und die Gehaltszahlungen an die Führungsstruktur, die im Land 20 bis 25 Prozent der Kosten ausmachen. Damit wurde der parasitäre und anachronische Charakter dieser Kosten bewiesen. Bedenkt man, dass das durchschnittliche Einkommen der Arbeiter dieser Unternehmen bei 1 200 Pesos (etwas mehr als 400 Dollar) liegt und jeder Arbeitsplatz dort einen weiteren nach sich zieht, dann konnte eine aktive Politik für die Schaffung eines großen Bereiches kollektiver, mit Qualität arbeitenden Unternehmen in Agrar-, Industrie- und Dienstleistungssektor, über das ganze Land verteilt und mit der fachlichen Unterstützung der Universitäten in jeder Region, es erlauben, Armut und Arbeitslosigkeit in maximal drei Jahren zu beseitigen.
Präsident Hugo Chávez hat sich diese Initiative zu eigen gemacht. Er hat nicht nur Vertreter der wieder angeeigneten Unternehmen in der Absicht eingeladen, die Erfahrung an die Bedingungen seines Landes anzupassen, sondern ein Abkommen für einen Finanzierungsfonds vorgeschlagen, den Venezuela für argentinische Genossenschaften, Mikrounternehmen und wieder angeeignete Unternehmen beibringt. Die Idee ist es, Kredite mit sehr billigen Zinssätzen zu vergeben, damit diese Unternehmen gestärkt werden und nach Venezuela exportieren können: Im Fall der Zanola-Fabrik gibt es bereits einen Auftrag für 400 Traktoren unizo suya esta iniciativa y, además de convocar a representantes de empresas recup, die von Preis und Qualität her mit den transnationalen Fahrzeugherstellen konkurrieren und eine nachhaltige regionale Integration anregen.(l9) Diese Alternativen können mit der Gründung öffentlicher lateinamerikanischer Unternehmen ergänzt werden, die - materielle und menschliche Ressourcen verschiedener Nationen nach dem Beispiel der Europäischen Union summiert - in folgenden Bereichen entstehen könnten: lateinamerikanische Handelsflotte mit Schiffsproduktion; kontinentale Fluglinien, die die Produktion von Flugzeugen und ihrer Ausrüstung stärkt; Satelliten- und Telekommunikationssystem; Biotechnologie in Medizin, Arzneimittelherstellung, Landwirtschaft und Veterinärmedizin; Produktion neuer Stoffe und andere Sektoren. Die Folge wäre ein Impuls für Forschung in Wissenschaft und Technologie. Aus dieser Sicht wäre Telesur die erste Stufe, den Austausch sowie die kulturelle, künstlerische und intellektuelle Produktion Lateinamerikas zu potenzieren. Doch diese Strategien eines gesellschaftlichen Neuaufbaus und einer selbständigen kontinentweiten Integration, die sich auf Solidarität, Zusammenarbeit, kollektivem Denken, dem Respekt vor der Würde alle und jeder einzelnen Person Lateinamerikas stützen - antogonistisch zu den Werten des Wettbewerbs und des egoistischen Einzelgängertums - haben keine Priorität auf der gegenwärtigen Regierungsagenda, deren zentrale Vorstellung der seriöse Kapitalismus ist.
Auf dem aktuellen argentinischen Schauplatz ist es eine Kernfrage, ob mittelfristig der politische Konsens aufrecht zu erhalten ist, wenn in ihren wesentlichen Zügen eine wirtschaftlich-soziale Strategie beibehalten wird, deren Folgen dramatisch für die große Mehrheit der Bürger gewesen sind. Der Erfahrung der letzten zwanzig Jahre, sowohl im Land als auch fast überall in Lateinamerika, zeigt eine Entwicklung zur Konsensbildung und Führungskräften, die nach einigen Jahren an der Regierung zu beschleunigten Auflösungserscheinungen neigen, wenn an Stelle einer Antwort auf die sozialen Forderungen der Druck der wirtschaftlichen Machtgruppen, von IWF und Weltbank akzeptiert wird. Das sind unter anderem die Fälle von Sarney, Collor de Melo und Cardoso in Brasilien; Alfonsín, Menem und De la Rúa in Argentinien; Mahuad, Bucaram und Gutiérrez in Ecuador; Sanguinetti, Lacalle und Batlle in Uruguay; Lusinchi, Pérez und Calderas in Venezuela; Salinas de Gortari und Fox in Méxiko; Alan García, Fujimori und Toledo in Peru.
Buenos Aires, August 2005
(A.d.Ü.) 1 Pacto de Olivos; benannt nach der Gemeinde, in der sich die Präsidentenresidenz befindet.
(A.d.Ü.) 2 Piqueteros sind die Mitglieder der in Argentinien entstandenen Arbeitslosenbewegung; Cartoneros die naechtlichen Altpapiersammler, die die Mülltonnen durchsuchen, bevor diese morgens geleert werden.
(A.d.Ü.) 3 Keine Rückzahlung der Auslandsschulden