Publication Geschichte Bürger, Bitten und Behörden

Geschichte der Eingabe in der DDR. von Felix Mühlberg Reihe: Texte der Rosa-Luxemburg-Stiftung; Bd. 11

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Texte (Archiv)

Author

Felix Mühlberg,

Published

February 2004

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Zwischen 1949 und 1989 hat – statistisch gesehen – fast jeder DDR-Haushalt eine Eingabe verfasst. Jährlich erreichten allein die oberste Staatsführung rund 70.000 Eingaben; insgesamt waren es wahrscheinlich fast eine Million. Diese Masse an Briefen ist ungewöhnlich. Aus heutiger Sicht wird das Eingabenschreiben der DDR-Bürger vor allem als obrigkeitshöriges Verhalten gedeutet, das sich so nur unter den Bedingungen einer „Fürsorgediktatur“ (Konrad Jarausch) entfalten konnte. Jedoch bietet selbst ein flüchtiger Blick auf die Eingaben ein differenzierteres Bild.

Dass Eingaben eine interessante historische Quelle sein könnten, darauf wurde ich zu Beginn der 90er Jahre durch eine Kollegin aufmerksam gemacht, die damals an der Herausgabe der „Zeitgeist-Sammlung“ des Deutschen Rundfunkarchivs arbeitete. Dabei handelt es sich um eine Auswahl von Zuschauerbriefen  aus den 80er Jahren. Normalerweise landeten solche Briefe und Eingaben nach drei bis fünf Jahren im Schredder, doch die damaligen Mitarbeiter hatten zu Recht den Eindruck, dass es sich um einmalige Dokumente mit Schilderungen des Alltagslebens handelt, die der Nachwelt erhalten bleiben sollten. Seit 1980 hoben sie deshalb die gesamten Briefe eines Monats (meistens Januar) auf.

Eingaben, also Beschwerdebriefe an Verwaltungen, die Medien, staatliche Institutionen und gesellschaftliche Organisationen, an Parteigrößen oder wichtige Kommunalpolitiker, sind eine bisher kaum beachtete Quelle zur Erforschung der DDR-Geschichte. Das ist umso überraschender, da schon die Beschäftigung mit wenigen Eingaben genügt, um die Vielfalt und Dichte der enthaltenen Informationen zu erahnen. So faszinierte mich die Briefsammlung, da in den überlieferten Eingaben der Zuschauer über fast alle Bereiche des Alltags, ihre Sorgen und Nöte in einer sehr direkten und unvermittelten Sprache berichten. In vielen Eingaben wird nicht nur das Problem und die Forderung vorgetragen. Sie enthalten oft auch Schilderungen des Lebens in der DDR, fast schon ethnographischen Tagebüchern gleich, die einen Einblick in den Alltag der Eingabenautoren ermöglichen. Dies macht die Eingabe als Quelle vor allem für sozial- und kulturgeschichtliche Untersuchungen zur DDR besonders wertvoll.

Wie keine andere Quelle dieser Zeit enthält sie Informationen zum erfahrungsgeschichtlichen Kontext des Alltagslebens. Konsumverhalten, Wohnungssituation, soziales Verhalten, Konflikte mit dem Staat, mentale Dispositionen und historische Veränderungen von individuellen Problemlagen oder Wünschen und vieles andere mehr lassen sich aus den Eingaben rekonstruieren.

Eingaben sind als Quelle für mentale Traditionsbestände und den Wandel von Norm- und Wertvorstellungen besonders aussagekräftig. Sie geben einen Einblick in das Leben derjenigen, die in anderen archivarischen Quellen kaum zu Wort kommen. Im Unterschied zu lebensgeschichtlichen Interviews, wie sie die Oral History nutzt, ist das Erlebte in den Eingaben noch frisch in der Erinnerung oder vielleicht sogar im Affekt aufgeschrieben worden. Es schreiben Personen, die sonst nie auf den Gedanken kommen würden, ihre alltäglichen Routinen und deren Störungen zu Papier zu bringen. Die Nähe zum Ereignis bei der Niederschrift und die personelle Identität von Betroffenem und Eingabenautor machen die Eingabe zu einer exponierten qualitativen Quelle.

Eingabenbestände sind mehr oder weniger umfangreich in den Archiven Ostdeutschlands überliefert. Eine sehr große und für Teilbereiche weitgehend vollständige Sammlung fand sich im Stadtarchiv Chemnitz. Auf die Auswertung dieses Bestandes konzentriert sich die vorliegende Arbeit, wobei zu vergleichenden Zwecken auch Eingabenüberlieferungen aus anderen Archiven herangezogen wurden.

Diese Arbeit wurde erst durch die hervorragende Unterstützung des Chemnitzer Stadtarchivs möglich. Ein besonderer Dank gilt Birgit Schubert, die unermüdlich große Mengen an Eingabenakten für die Nutzung zugänglich machte. Auch der Leiterin des Archivs, Gabriele Viertel, möchte ich danken. Sie machte es überhaupt erst möglich, die Eingaben zu sichten.

Mit Brunhilde Hanke, der ehemaligen Oberbürgermeisterin von Potsdam und Staatsratsmitglied, mit Karl Bönninger, Emeritus für Verwaltungsrecht an der Universität Leipzig und Julius Leymann, ehemaliger Mitarbeiter der Rechtsabteilung des Staatsrates, führte ich Zeitzeugeninterviews. Sie gaben mir viele Hintergrundinformationen und wertvolle kritische Hinweise. Kurt Merkel hat die Arbeit in verschiedenen Stadien lektorierend betreut und mit Ina Merkel befand ich mich in einem langjährigen Diskussionsprozess. Martina Weyrauch und Jochen Geyer verdanke ich interessante Einsichten in verwaltungspraktische und rechtstheoretische Zusammenhänge. Rudolf Boch bot mir mit einer Mitarbeiterstelle überhaupt erst die Grundlage, an seinem Lehrstuhl eine Arbeit zur Geschichte der Eingaben zu realisieren und begleitete mit großer Akribie und vielen Hinweisen diese Arbeit. Ihnen allen sei an dieser Stelle noch einmal recht herzlich gedankt.

Ein ganz besonderer Dank gilt Marcus Merkel für den Satz und der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die den Druck dieses Buches ermöglichte.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Die Eingabe in der DDR. Zum Forschungsstand

Konfliktpotentiale und Lösungsformen. Zur Fragestellung

Im Konflikt mit dem Staat

Petitionen und Beschwerden. Zur Vorgeschichte

Gesetzlich verankertes Petitionsrecht / Das Beschwerderecht in Verfassungen deutscher Länder im 19. Jahrhundert / Petitionsrecht in der Bundesrepublik Deutschland / Petitionsrecht als Veröffentlichungsrecht

Verwaltungsgerichtsbarkeit (Verwaltungsrechtspflege)

Verwaltungsrecht im 19. Jahrhundert / Die Entwicklung in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ / Exkurs: Zur Verwaltung (errare humanum est)

Die Geschichte der Eingabengesetzgebung in der DDR

Die ersten Verwaltungsstrukturen nach 1945

Beschwerderegelungen bis zur ersten Eingabenverordnung / Das Beispiel Sachsen/Neue Vorstellungen von Verwaltung / Exkurs: „Querulanten und Quengler“ / Verwaltung als „Diener des Volkes“

Die Präsidialkanzlei des Präsidenten der DDR

Die erste Eingabenverordnung von 1953 / Die Bearbeitung der Eingaben durch die Präsidialkanzlei/Benachrichtigungskarte der Präsidialkanzlei des Präsidenten der DDR von 1955 / Zu den Eingaben an die Präsidialkanzlei/Eingaben als Korrektiv politischer und verwaltungstechnischer Entscheidungen / Die Präsidialkanzlei im Verhältnis zu anderen staatlichen Institutionen

Eingaben an die Volksvertretungen. Die Volkskammer

Universelles Beschwerderecht oder Verlust von Rechtsbewusstsein? Eingabenregelung in der Ulbricht-Ära

Der Eingabenerlass von 1961 / Die Renaissance der Eingabe in den 60er Jahren / Der Eingabenerlass 1969 — Räte versus Exekutive / Beschwerdeausschüsse: Vermittler zwischen Legislative und Exekutive? / Beschwerdeausschüsse bei den Räten / Veränderungen im Eingabenerlass von 1969 Eingabenregelung in der Honecker-Ära

Das Eingabengesetz von 1975 / Verwaltungskontrolle in anderen sozialistischen Ländern in den 70er Jahren / Die Rezession der Eingabe als politisches Korrektiv / Verwaltungsgerichte in der DDR – Ausblick

Eingaben nach 1989

Statistik

Versuch einer Schätzung DDR-weiter Eingabenzahlen / „Im Sinne der Bürger entschieden“

Die Eingabenkultur

Die Eingabe als Quelle

Zur Überlieferung der Eingaben in den Archiven / Quellenauswahl / Methodisches Vorgehen

Die rhetorische Dimension in den Eingaben

Rollenzuweisung, die persönliche Anrede / Die Selbstdarstellung / Der Bezug auf Normen und Werte / Einsicht in die Notwendigkeit / Die Drohung / Eine Eingabenschriftstellerin

Eine mikrohistorische Analyse

Kommunikationsstrukturen: Einwohner – Bürgermeister – Kreis

Privates und Gesellschaftliches. Zum Zusammenhang von Moral und Eigentum

Zusammenfassung

Eingaben als Erfahrungsgeschichten eines gestörten Alltags

Quellenverzeichnis