Sozialpolitische Themen in der öffentlichen Meinung. von Dietmar Wittich
Manuskripte 46 der RLS
Inhalt
Einleitung: Von Reformen zu »Reformen«
1. Wirtschaftsentwicklung und Arbeitslosigkeit – Ist die Lage besser
als die Stimmung
2. »Wir versaufen unser’ Oma ihr klein Häuschen ... «
3. Ist Gesundheit Privatsache?
4. Rechnen schwach: Über Subventionen und Steuern
5. Neoliberales: Das Abgelehnte erhält den Zuschlag
Tabellenanhang
Einleitung: Von Reformen zu "Reformen"
Menschen können sich in unserer komplizierten Welt mit ihrer Flut an Informationen und Botschaften nur orientieren, wenn sie sich solcher Deutungsmuster bedienen, die ihnen helfen, sich zurecht zu finden. Es handelt sich dabei um relativ stabile Denkformen, die es ermöglichen, die Dinge zuzuordnen und sie nach Bedeutung zu unterscheiden. Sie werden oft als Klischees bezeichnet oder als Vorurteile denunziert (was sie auch sind). In der Sprache der Wissenschaft heißen diese Deutungsmuster »Topoi«, vererbte oder sozialisierte Denk- und Sprachformen, die sozial unterschiedlich verteilt sind, sich als außerordentlich stabil erweisen, aber auch kulturellen Modeströmungen unterworfen sein können.
Eines dieser Deutungsmuster besagt, Deutsche seien fleißig, ordentlich und pünktlich, oder sie sollten es sein. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich dazu allerdings als Gegenstück ein anderes Deutungsmuster gesellt: Deutsche seien leistungsfeindlich, anspruchsorientiert und lebten vorzugsweise auf Kosten der Allgemeinheit. Mit der Stabilisierung der neoliberalen Hegemonie hat sich dieses Topoi immer stärker durchgesetzt. Es lässt sich als die Mär von der »sozialen Hängematte« beschreiben. Sie suggeriert eine Spaltung der Gesellschaft – allerdings eine, die nicht zwischen Oben und Unten oder Arm und Reich, sondern zwischen Leistungswilligen und Leistungsfähigen einerseits sowie Leistungsverweigerern und Leistungsunfähigen andererseits verläuft.
Außerdem wurden vorhandene Topoi umgedeutet. Das ist nicht zuletzt dem Deutungsmuster »Reform« widerfahren. Traditionell war dieser Begriff mit Verbesserungen im sozialen Bereich, mit sozialem Ausgleich, mehr Gleichstellung der Geschlechter, Förderung für Kinder und Jugendliche, besserer Versorgung und Betreuung für Kranke und Alte, Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsprogrammen usw. verbunden.
Allerdings sind die Zeiten einer solchen Reformpolitik, die noch die Regierungszeit Willy Brandts kennzeichnete, in Deutschland längst vorbei – auch wenn zum Ende der Regierung Kohl von sozialdemokratischer Seite in Aussicht gestellt und versprochen worden war, zu einer Reformpolitik in diesem Sinne zurück zu kehren. Die Regierung von SPD und Grünen haben nicht nur diese Versprechen nicht eingelöst, sie haben mit ihrer politischen Praxis den Reformbegriff endgültig diskreditiert. Er wurde gründlich umgedeutet, es geht nicht mehr um Verbesserungen im sozialen Bereich, sondern im Gegenteil, als Reformen werden jetzt die Kürzungen und Einsparungen im sozialen Bereich ausgegeben – nach dem Motto, »die sozialen Sicherungssysteme seien zu reformieren, um sie zu erhalten«. Aus der Reform wurde die »Reform«.
Die neoliberale Hegemonie, mit der wir es seit einiger Zeit zu tun haben, basiert darauf, dass es ihren Protagonisten gelungen ist, ein antisolidarisches Gesellschaftsbild und ein egoistisches Menschenbild zu implementieren und wirksam zu verbreiten. Gezeichnet wird eine Gesellschaft, die geprägt wird durch den erbarmungslosen Ellenbogenkampf um den größtmöglichen privaten Anteil am gesellschaftlichen Reichtum. Diese Gesellschaft gehört den Reichen, Mächtigen und Schönen. Der dazu passfähige Mensch hat egoistisch zu sein, als Erfolg gilt, möglichst viel in die eigene Tasche zu wirtschaften und das möglichst ungehindert. Das legitimatorische Gegenbild ist das vom faulen Menschen, der in der sozialen Hängematte lümmelt.
»Reform« ist, was dazu dient, diese Gesellschafts- und Menschenbilder in der politischen Praxis durchzusetzen. Diese Bilder von Gesellschaft und Mensch sind inzwischen binsenweisheitliche Denkformen von überrollender Einfachheit, und sie laufen auch permanent bei jeder aktuellen Botschaft – subversiv oder ganz offen – mit. Sie sind der Hintergrund der alltäglichen ideologischen Aggressionen, machen die realen Menschen wehrlos und reproduzieren die neoliberale Hegemonie.
In den zurückliegenden Wochen sind besonders viele »Reform«-Projekte öffentlich gemacht, durchgezogen oder kurz einmal aus dem Hut gezaubert worden. Dabei ging es nicht um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sondern um die Bekämpfung der Arbeitslosen, um Rentenkürzungen, Erhöhung von Beiträgen für die gesetzliche Sozialversicherung, um eine ganze Gesundheits-»Reform«, um Subventionsabbau, um Kürzung der Pendlerpauschalen, um Steuererhöhungen usw. Es handelt sich um ein ganzes Bündel von Maßnahmen zu Kürzungen und Einsparungen im sozialen Bereich, die zum Teil alle betreffen, zum Teil große Gruppen, zum Teil aber auch Minderheiten.
Diese gesamte Betriebsamkeit des Umbaus der Sozialsysteme als Abbau bewegt die öffentliche Meinung erheblich, immer wieder werden neue Botschaften über soziale Grausamkeiten verbreitet. Entsprechend aufmerksam verhält sich die Meinungsforschung. Denn eigentlich interessieren sich Politiker und Parteien dafür, was das Volk über das denkt, was sie tun oder beabsichtigen; aber es soll nicht öffentlich werden. Die öffentliche Meinung über aktuelle Sozialpolitik öffentlich zu machen, ist das Anliegen dieser Studie, zu untersuchen und kompakt darzustellen, was die darüber denken, die gemeint sind, wenn die soziale Hängematte ins Spiel gebracht wird.
Das Ergebnis ist: Insgesamt wird die ganze Richtung aktueller sozialpolitischer Kürzungs- und Sparpolitik mehrheitlich in der deutschen Bevölkerung abgelehnt. Obwohl das so ist, obwohl die Botschaften im Einzelnen nicht geglaubt und die Lösungsvorschläge zurück gewiesen werden, fällt gegenwärtig zugleich eine Mehrheit neoliberaler Hegemonie mit ihren Deutungsmustern zum Opfer, die Akzeptanz konservativer Politkangebote und ihrer Akteure ist so groß wie lange nicht.
Das Meinungsforschungsinstitut EMNID hat zwischen dem 24. September und dem 23. Oktober dieses Jahres solche aktuellen Vorhaben oder Vorschlägen zu Kürzungen und Einsparungen im Bereich der Sozialpolitik nahezu täglich zum Gegenstand von Erhebungen gemacht. Daten aus diesen Untersuchungen wurden für diese Studie zur Nachnutzung erworben. Die Daten umfassen insgesamt mehr als 6.500 Fälle. Sie wurden mit SPSS ausgewertet, berechnet und statistisch geprüft. Die einbezogenen Fragen und die Ergebnisse sind im Tabellenanhang dokumentiert.