Publication Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Parteien / Wahlanalysen - Deutsche / Europäische Geschichte - Wirtschafts- / Sozialpolitik Wahlen mit Hartz IV - Was brachten die Wahlen im Saarland, in Brandenburg, Sachsen und Nordrhein-Westfalen?

9 Thesen

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October 2004

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Berlin, 28. September 2004

 

Thesen

  1. Die aktuellen Stimmenverluste der „Volksparteien“, die „Erosion der politischen Mitte“ haben nicht nur strukturelle Ursachen (zerfallende parteigebundene Milieus im Westen, geringe Wählerbindung im Osten), sondern sie sind weitmehr Ausdruck fehlender Akzeptanz der Agenda 2010. Elitenprojekt gegen eine breite Sozialstaatsunterstützung in der Bevölkerung. Nicht zuletzt mit und durch die Proteste gegen Hartz IV ist der Anspruch, „alternativlos“ zu sein, erschüttert.
  2. Das Schönreden der Wahlergebnisse, das Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen der eigenen massiven Stimmenverluste hat Orwellsche Ausmaße angenommen und wirkt wie eine zynische Verhöhnung der Wähler. Der Sinn besteht nicht zuletzt darin, den verbreiteten Missmut der Bürgerinnen und Bürger über Hartz IV und die Agenda 2010 nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen.
  3. Die Verluste der großen Agenda-Parteien sind zwar massiv, aber die Wahlergebnisse genügen ihnen bisher in allen Bundesländern zum Weiterregieren: Abschmelzen, aber kein Erdrutsch. Dies auch weil die Partei der Nichtwähler die größten Zuwächse erfahren hat.
  4. Grüne und FDP haben sich als Klientel-Parteien präsentiert und konnten teilweise in ihren Zielmilieus Zugewinne erzielen. Grüne haben – entgegen des interessierten Geschwätzes von Bütikofer – nicht hinzugewonnen, weil sie Hartz IV konsequent vertreten haben, sondern weil ihr Klientel davon kaum betroffen ist.
  5. Gemeinsam mit den stabilisierten Klientelparteien werden die geschrumpften großen bzw. nicht mehr so großen Agenda-Parteien auf absehbare Zeit mehrheitsfähige Koalitionen auf allen Ebenen zu Wege bringen und unterstützen, denn sie vereinen noch immer 70-80 % der Wählerstimmen auf sich. Ideologische und programmatische Differenzen sind ohnehin in vielen Politikbereichen marginal. Unter machtpolitischen Gesichtspunkten ist daher verständlich, weshalb sich alle vier Agenda-Parteien regelmäßig als Sieger präsentieren können.
  6. Die SPD hat den Abschied von ihrem „Markenkern“ soziale Gerechtigkeit, der ja mit einigen Mühen innerhalb der BT-Fraktion und den Partei-Funktionären durchgepaukt wurde, erstaunlich gut verkraftet. Dies wohl vor allem deshalb, weil die Union ihrem Arbeitnehmerflügel keine Chance zur Profilierung gab und dort, wo sie über einen Wählerstamm verfügte, die Option Nichtwahl bevorzugt wurde.
  7. Insgesamt ist es der PDS nicht gelungen, dieses Vertretungsvakuum zu füllen und vom Widerstand gegen Hartz IV im erwarteten Umfang zu profitieren. Die Gründe dürften sehr unterschiedlich sein (fehlende Westverankerung, Porsch/Stasi etc.), aber sie wird von vielen nicht als die alternative linke Volkspartei wahrgenommen. Sie bekommt zwar bei den Montagsdemonstranten die mit Abstand besten Noten und kann dort auch ihre Wählerschaft verbreitern, aber sie sind insgesamt mit Werten zwischen befriedigend uns ausreichend doch bemerkenswert schlecht (die anderen landen zwischen 5 und 6, übrigens auch DVU und NPD). Dies dürfte auch mit dem Beteiligungsdilemma der PDS zu tun haben. Da sie ja aktuell in zwei Bundesländern und in zahlreichen Kommunen in der Regierungsverantwortung, ist für die WählerInnen und Demonstrierenden unklar, ob die Sozialdemokratisierung der PDS bedeutet, auch den Agenda-Weg – sei es zähneknirschend, sei es überzeugt - mit zu gehen. Vor allem fehlt es an griffigen, öffentlich wahrgenommenen sozialpolitischen Alternativen.
  8. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, weshalb in Sachsen und Brandenburg rechtsextreme Parteien gerade von den am meisten benachteiligten Bevölkerungsgruppen und von Jugendlichen als „ihre“ Protestpartei gewählt wurde. Angesichts einer selbst bei den eher links orientierten Montagsdemonstranten relativ hohen Ausländerfeindlichkeit müssen wir damit rechnen, dass die gegen Globalisierung, Osterweiterung, Hartz IV zu errichtende „ausländerfreie, deutsche Volksgemeinschaft“ wegen ihrer Schlichtheit anziehend wirkt. Dies gilt vor allem dort, wo im ländlichen Bereich oder in den Plattensiedlungen rechte Jugendkulturen im Alltag dominieren – eine Situation, die durch Schrumpfungsprozesse und die Abwanderung von mobileren und besser qualifizierten Jugendlichen massiv unterstützt wird.
  9. Offen bleibt, ob es den Parteien, besonders auch der PDS in Zukunft gelingen wird, dass mit den Hartz IV Protesten offensichtlich gewordene Repräsentationsdefizit zu füllen. Es hat ja mehrere Dimensionen:
    - politische Form: Parteien vs. projektorientiertes Engagement; professionelle Funktionärspartei („Kartellpartei“) vs. Netzwerkpartei (CDU auf dem Dresdener Parteitag 2003)
    - „Mehr Demokratie wagen“: Die wachsende Kluft zwischen Parteipolitik und Protestpolitik, aber auch dem gestiegenen Interesse an Sachvoten und vielfältigen Beteiligungsformen vor allem auf kommunaler Ebene („Bürgerkommune“) verweisen auf die Notwendigkeit einer „Demokratisierung liberaler Demokratie“, auf eine Demokratiebewegung – auch dies ist ja eine Botschaft der Hartz-Proteste
    - Schließlich geht es um progressive und solidarische Alternativen zum neoliberalen workfare-Programm und um Formen (Sozialforen, soziale Bündnisse etc.) die dazu taugen, diese gemeinsam zu entwickeln.