UTOPIE kreativ, H. 115/116
(Mai/Juni 2000),
S. 558-583Die in UTOPIE kreativ, Heft 114, dargelegten »Entlarvungen« der MfS-Hauptabteilung IX/111 führten zu weiteren Entdeckungen. Nach den in der Nachkriegszeit angestellten Untersuchungen der Verhaftung Ernst Thälmanns hatte die K 5 auf die Quartierleute Ernst Thälmanns, Hans und Martha Kluczynski, nicht ihren Bannstrahl gerichtet. Doch in der Einschätzung der Hauptabteilung XX/AG 1 vom 25. Januar 1968 hieß es, daß jene durch »Schwatzhaftigkeit« gegenüber ihrem Gartennachbarn Hilliges den Aufenthaltsort des in ihrer Charlottenburger Stadtwohnung untergetauchten KPD-Führers preisgegeben hätten. Äußerst verdächtig erschien ferner, daß die Kluczynskis durch die Nazibehörden zwar ein halbes Dutzend Mal verhört, aber nie strafrechtlich verfolgt worden waren. Weiterhin mutmaßte man, daß Martha Kluczynski Mitarbeiterin des KPD-Nachrichtendienstes unter Hans Kippenberger gewesen sei. Es wurde ihre Überprüfung angeordnet.2
Nachdem das chronische Lungenleiden ihres invaliden Mannes zu dessen Tod geführt hatte, war Martha Kluczynski am 1. Oktober 1950 vom Westteil Berlins nach Pankow übergesiedelt. Ein Erinnerungsbericht der nunmehrigen Parteiveteranin war 1961 zurechtgestutzt und unter dem Titel »Er wohnte bei uns« in einen Sammelband über Ernst Thälmann aufgenommen worden. Der Beitrag vermittelte das Bild einer Familienidylle, in dessen Mittelpunkt ein in jeder Beziehung fürsorglicher »Onkel« Thälmann stand, wie der 14jährige Sohn Günther seinen Ziehvater liebevoll nannte. Dieser habe besser als eine Hausfrau eingekauft, gern Fußballspiele besucht und sich seit seinem Einzug 1923/24 Marthas umfassender Fürsorge erfreut. Bezeichnenderweise stand in dem Text kein Wort über Thälmanns Verhaftung.3
Bei der Überprüfung Martha Kluczynskis stellte sich heraus, daß sie von einer anderen Stelle des MfS als IM »Schlosser« angeworben worden war. Fast zehn Jahre lang – von Mai 1956 bis Ende 1965 – hatte ihre »gut eingerichtete Wohnung« als konspiratives »Treffzimmer« der Stasi gedient, die dafür einen monatlichen Mietzuschuß von 30 DM gezahlt hatte, nebst Bezugsberechtigung für Braunkohlebriketts. In einer Beurteilung der Hauptabteilung III/2/D vom 6. Dezember 1956 heißt es, daß alle Treffpersonen »gerne« in diese konspirative Wohnung kämen. Martha Kluczynski habe wiederholt ihre »große Verehrung für Thälmann« zum Ausdruck gebracht, der bei ihr von 1924 bis zu seiner Verhaftung gewohnt hätte. Aus gesundheitlichen Gründen mußte 1965 das IM-Verhältnis beendet werden.4
Noch heikler wurde die Spurensuche der Hauptabteilung IX/11, als man an die höheren Ebenen des KPD-Nachrichtendienstes geriet. Davon zeugt der Fall Hermann Dünow (KPD-Deckname »Reinhold«). Am 18. Dezember 1933 durch den Verrat Kattners aufgeflogen, war er zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Ende April 1945 konnte er durch die Rote Armee aus dem Zuchthaus Brandenburg befreit werden. Nach dem Kriege stieg Dünow, der in der zweiten Jahreshälfte 1933 im Lande als Leiter des KPD-Nachrichtendienstes amtiert hatte, zum Oberst der Volkspolizei auf. Bereits im Juni 1945 in der Pressestelle des Polizeipräsidiums Berlin eingesetzt, baute er ab September 1946 die Pressestelle der Deutschen Verwaltung des Innern auf, deren damaliger 2. Vizepräsident Erich Mielke war. Im Ministerium des Innern übte Dünow die Funktion des Chefredakteurs der Zeitungen »Die Volkspolizei« und »Unser Signal« und ab 1956 bis zu seiner Berentung 1958 die des Leiters der Adjudantur aus.
Publizistisch trat der Veteran mit Erinnerungsberichten, unter anderem mit einem groß aufgemachten Jubiläumsartikel in »Neues Deutschland« anläßlich des 80. Geburtstages Ernst Thälmanns am 16. April 1966 hervor. Erstmals erfuhr die Öffentlichkeit anhand von sorgfältig beschnittenen Gestapounterlagen einiges über die Quartiere Thälmanns und die Rolle des Gatower Gartenkolonniekassierers Hermann Hilliges. Dieser wurde mit seinem »niederträchtigen Verrat« als der alleinige Schuldige an der Verhaftung Ernst Thälmanns ausgemacht.5 Damit schien das Geheimnis gelüftet, weshalb der KPD-Führer hatte festgenommen werden können.
Im achtbändigen Standardwerk zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung aus dem gleichen Jahre hatte es noch lediglich geheißen, daß Ernst Thälmann den Faschisten am 3. März 1933 in die Hände gefallen war, was in dieser schwierigen Situation einen harten Schlag für die Partei bedeutet habe.6 Dünow wiederholte zwei Jahre später in der Publikation »Kampf um Deutschland« die These vom »Hilliges-Verrat«.7 Obwohl er aus eigenem Erleben es besser wußte, wurden weiterhin entscheidende Umstände und Vorgänge vertuscht. Wäre der KPD-Nachrichtendienst 1933 sofort einem entsprechenden Hinweis nachgegangen, so hätte man gleich auf die Denunziation von Hermann Hilliges stoßen können. Doch das war damals unterblieben. Auch stellt sich die Frage, woher Dünow plötzlich 1966 sein »Beweismaterial« gegen Hilliges hatte?
Über den »Fall Kattner«, in den er selbst verstrickt gewesen war, fiel hingegen kein Wort. Dafür stellte sich bei den Untersuchungen 1968 heraus, daß der Nachrichtendienstveteran Hermann Dünow als GI »Altmann« – geheimer Informator mit der Registriernummer 2352/54 – im Dienst der Spitze des MfS8 stand. Denn Generalleutnant Mielke und sein Stellvertreter Beater (Hauptabteilung V) hatten ihn am 15. September 1954 für einen Spezialauftrag angeworben, den Vorgang »Illegale«. Beide legten Wert darauf, den Kenner der KPD-Geheimdienst-Interna persönlich abzuschöpfen. Dünow wurde auf ehemalige Widerstandskämpfer angesetzt – vor allem auf einen, den das MfS unter dem Namen »Springer« »bearbeitete« und dessen Identität bis heute im Dunkeln liegt. »Springer« wurde schon durch seinen Mitarbeiter »Fritz« ausgehorcht.
Zwar hatten auch in der DDR die stalinistischen Säuberungen von Westemigranten, anderen Widerstandskämpfern und Abweichlern bis Frühjahr 1954 ihren Höhepunkt erreicht – wie man sieht, wirkten sie aber noch nach. Worum ging es? »Springer« – auch unter Tarnnamen wie »Schach« und »Sicht« geführt – war von höchster MfS-Stelle zum »parteifeindlichen Residenten des amerikanischen Geheimdienstes« und zum gefährlichen »Trotzkisten« deklariert worden. Es soll sich um einen ehemaligen illegalen Leitungsfunktionär der KPD gehandelt haben.9 »Springer« und »Reinhold« (beziehungsweise »Altmann«) kannten sich aus dieser Zeit offensichtlich sehr gut. »Springer« soll nach der schrittweisen Emigration des Politbüros der KPD ab Mai 1933 das verbliebene Restsekretariat (»Kammer« beziehungsweise »Sicht«) übernommen haben, um die Verbindungen sowohl zur im Aufbau befindlichen KPD-Auslandsleitung in Paris als auch zu den Führungsgremien im Lande aufrechtzuerhalten. Dazu waren insbesondere Kontakte zum Verbindungswesen Herbert Wehners (»Osten«) und zu diesem im Rahmen der illegalen Landesleitung der KPD nötig, die ab Herbst mit der illegalen Sekretariatsvertretung zu einem Dreierkopf mit Wehner in Deutschland verschmolz. Nach der Lesart der NS-Behörden und dem Stasi-Puzzlespiel war »Sicht« zunächst ebenfalls für die Zusammenarbeit mit dem Reichskurierleiter und nicht zuletzt mit dem KPD-Nachrichtendienst und damit für den Kontakt zu Hermann Dünow zuständig gewesen. Dieser und »Sicht« behaupteten, daß sie mit zwei weiteren Genossen verantwortlich gewesen seien für die Organisierung und Absicherung der illegalen Reichsfunktionärskonferenz der KPD in Ziegenhals Anfang Februar 1933. Die ganze Zeit über habe sich Dünow mindestens einmal wöchentlich mit dem Sekretariatsvertreter getroffen. »Sicht« sei auch Teilnehmer der turbulenten Aussprache zwischen der illegalen Landesleitung und dem Nachrichtendienst am 25. Dezember 1933 in Spindlersmühle gewesen, als Herbert Wehner die Vertrauensseligkeit Dünows und der versagenden KPD-Abwehr gegenüber dem Spitzel Kattner zum Anlaß für die Forderung zur Reorganisation des Nachrichtendienstes genommen hatte. Durch Kontrolle der Post »Springers« in die USA – an den »Agenten Dallin« in New York – sowie über die Berichte von »Fritz« hatte das MfS herausgefunden, daß »Springer« sich sehr lobend über Dünow ausgesprochen hatte, während er sich ansonsten über die Funktionäre von Partei, Wirtschaft und Verwaltung »in einer niederträchtigen Art« äußerte. Gegenüber allen leitenden Funktionären der Partei sei er, so wurde registriert, »mit Wut und Haß erfüllt«. Er habe sogar Dünow anwerben wollen.10
Am 15. September 1958 wurde die Verbindung abgebrochen. Lapidar hieß es: »Dünow erschien nicht zum Treff«. Der Abschlußbericht der Hauptabteilung II/2 vermerkte: »Dem Gen. Minister Mielke teilte Dünow ebenfalls nichts Interessantes über die Person des Springer mit«.11 Hing dieser Ausgang vielleicht damit zusammen, daß Ulbricht vor dem V. Parteitag der SED im Sommer 1958 – und nach den Schauprozessen im Gefolge der Kriminalisierung Wolfgang Harichs und Walter Jankas – die Partei endgültig gleichgeschaltet hatte und eines deutschen »Slansky-Prozesses« nicht mehr bedurfte? Wenn dem so ist, dann könnte der Auftrag für Hermann Dünow etwas mit den Anklagen in der DDR zu tun gehabt haben, waren doch auch andere KPD-Funktionäre aus der Widerstands- und Emigrationszeit der Zusammenarbeit mit dem angeblichen amerikanischen Agenten Noel Field beschuldigt worden.12
Die Anwerbung Hermann Dünows fiel in eine Zeit, in der sich der – zunächst nur abgeschobene – Franz Dahlem in der Gefahr befand, Hauptangeklagter in einem Schauprozeß zu werden. Nachdem die Gestapo Ende 1933 mit der Verhaftung von Hermann Dünow und von Rudolf Schwarz die Spitzen des Nachrichtendienstes und der Abwehr der KPD aufgerollt hatte, war Dahlem Anfang 1934 nach Deutschland entsandt worden, um die illegale KPD-Organisation zu dezentralisieren. Wie standen zwanzig Jahre danach Hermann Dünow und Franz Dahlem zueinander? Wie es im Vorschlag der MfS-Hauptabteilung V/1 vom 3. August 1954 heißt, sollte Dünow von Generalleutnant Mielke und dem Genossen Beater aufgesucht und ihm erklärt werden, »daß er auf Grund seiner exponierten Funktion in der Lage wäre, uns wertvolle Hilfe zu leisten. Hierbei ist Dünow bei einer Unterhaltung über alte Mitglieder des illegalen Parteiapparates zu befragen. Ob davon welche zu Verrätern wurden, was diese jetzt machen. Sollte Dünow hierbei von Schach sprechen, so ist eine Perspektive vorhanden, über Dünow an Schach heranzukommen.« In diesem Vorgang »Illegale« würde bereits »als Hauptagent der Trotzkist Schach operativ bearbeitet«.13
Überhaupt geben sowohl die Behandlung als auch die Rolle Hermann Dünows nach seiner Befreiung aus der Haft so manches Rätsel auf. Die K5 und dann das MfS wußten über die Schatten in Dünows Vergangenheit genau Bescheid – so beispielsweise über seine umfassenden Aussagen vor der Gestapo. Sie hatten zu den zahlreichen Verhaftungen im Nachrichtendienstbereich der KPD und zur Aufdeckung dessen illegaler Struktur beigetragen. Im Anwerbungsprotokoll von Hauptmann Buchholz (Hauptabteilung V/1) vom 3. August 1954 wird dazu festgestellt, daß Dünow der Gestapo eine ausführliche Schilderung des gesamten illegalen Parteiapparates gegeben habe, daß er ferner im »Fall Kattner« versagte.14 Für Hermann Dünow spricht jedoch, daß er über Kassiber den Spitzelverdacht gegen Alfred Kattner erhärtete und nicht den KPD-Plan zu dessen Erschießung verriet.
Zudem gab es Beschwerden von Parteimitgliedern, daß Hermann Dünow nach Kriegsende nicht sofort den Weg zur Partei gefunden, sondern sich zunächst in Berlin-Neukölln, seinem Heimatbezirk, »verkrochen« hätte. Vielleicht gab es dafür sogar einen Grund? Denn »Springer« und andere vermuteten, daß Dünow im Sommer 1945 »in sowjetischem Auftrag« seine Tätigkeit in der Presseabteilung des Berliner Polizeipräsidiums aufgenommen habe. Als Leiter einer Gruppe mit ausgesuchten deutschen Genossen hatte er im Juli 1945 im Auftrag der SMAD das schwerbeschädigte Gestapo-Hauptquartier in der Prinz-Albrecht-Straße ausgeräumt, das dem amerikanischen Besatzungssektor zugehörte, und die Registrierung von zwei Wagenladungen an Akten betrieben.15
Neben Dünows Schicksal gab es noch eine weitere Odyssee, die in die Dienste des MfS führte. Es handelte sich um Karl Langowski – in der zweiten Jahreshälfte 1933 der engste Mitarbeiter Dünows. Er hatte sich in geselligen Runden von Kattner ausspitzeln lassen. Zum Treff mit Dünow war er im Schlepptau der Gestapo erschienen, so daß die mit Kattner ausgeheckte Falle der NS-Geheimpolizei zuschnappen konnte. Die Vernehmer hielten »Joseph I« – einen der besten Absolventen der militärpolitischen Schule in Moskau – für das »schwächste Glied« im Gefolge aller Verhaftungen. Die MfS-Rechercheure werteten aus, daß Langowski durch »umfassende Aussagen« zur »weiteren Aufklärung des AM-Apparates« durch die Gestapo und zu Festnahmen im Jahre 1934 beitrug, dazu in späteren Prozessen als Zeuge gegen seine Genossen auftrat.16
Zu 15 Jahren Zuchthaus durch die NS-Justiz verurteilt, belasteten Verdächtigungen und Rückschläge den weiteren Lebensweg Karl Langowskis nach dem Kriege. So durfte er bereits am Vereinigungsparteitag von KPD und SPD zur SED im April 1946 nicht teilnehmen, da nach eigenen Aussagen »irgendwelche Dinge gegen ihn vorliegen«17. Er wirkte zwar unermüdlich als Aktivist der ersten Stunde, besuchte Partei- und Verwaltungsschulen, kam jedoch nie über kommunalpolitische und betriebliche Funktionen hinaus. Das könnte durchaus mit Beschuldigungen durch Dünow zusammenhängen, der ebenso wie Langowski zeitweilig im Zuchthaus Lukkau inhaftiert gewesen war. In einem Schreiben vom 27. August 1946 an Richard Staimer, den Schwiegersohn Wilhelm Piecks und zunächst Leiter der Polizei in Berlin-Prenzlauer-Berg, dann Vorsitzender des Zentralausschusses der Gesellschaft für Sport und Technik in der DDR – hatte Dünow behauptet, daß Langowski im Zuchthaus als Spitzel Verrat geübt hätte. Seine schriftlichen Bezichtigungen sollten an entsprechende sowjetische Organe, speziell den »Kapitän Dollgerow«, weitergeleitet werden.
Noch 1946 erfolgte die Verhaftung durch die SMAD – jedoch mit anschließender Rehabilitierung. Im Frühjahr 1947 wies Langowski bei einem Treffen mit Dünow – anläßlich einer Zusammenkunft ehemaliger Brandenburger Häftlinge – dessen Vorwürfe zurück.18 Aber ein ominöser Unfalltod seiner Frau bewirkte den Parteiausschluß; Anfang 1957 wurde er wieder in die SED aufgenommen.19
Dann wirkte Karl Langowski vom Sommer 1957 bis Mitte Januar 1963 als »GI« der MfS-Kreisdienststelle Fürstenwalde. Als »Franz« arbeitete er mit drei Stasi-Mitarbeitern zusammen. Er war mitverantwortlich für die Überwachung seines Betriebes und der Gaststätte in seinem Wohnhaus. Unter der Losung »Straßenfeger« und dem Wortspiel »Was ist mit der Straße vor Ihrem Hause los? – Ich weiß, die muß mal gefegt werden!« erfolgte die gemeinsame Kommunikation. Dafür gab es monatlich 30 DM »Treffkosten«. Auf Grund seiner beruflichen und gesellschaftlichen Belastung als Leiter des Verkehrsbetriebes für Schöneiche und Woltersdorf wurde Langowski schließlich die erbetene Beendigung der Zusammenarbeit mit dem MfS gewährt, zwei Jahre vor seinem Tod.20
Die Fälle Martha Kluczynski, Hermann Dünow und Karl Langowski zeugen davon, wie in der DDR das sensible Problem des Verrates an die Gestapo in äußerst makabrer Weise instrumentalisiert wurde. Das MfS entschied, wer Verräter war oder nicht. In den Recherchen gegen alle drei war Verrat festgestellt worden. Aber wegen ihrer Nützlichkeit wurden den Altkadern die »Sünden« vergeben.21 Das Damoklesschwert, bei Unwilligkeit doch noch zur Rechenschaft gezogen zu werden, blieb natürlich.
Hatten diese konsequenten Antifaschisten Schwierigkeiten mit ihrer neuen Rolle, oder war ihnen ihr Auftrag selbstverständlich? Welche Rolle spielte dabei der Kalte Krieg, der in den fünfziger Jahren eine besonders heiße Phase durchmachte? Dieses Psychogramm bedarf noch der Aufhellung.
Die seit dem Jahre 1968 von den Hauptabteilungen IX/11 und XX betriebenen Untersuchungen über die Umstände der Verhaftung Ernst Thälmanns brachten das MfS in eine Zwickmühle, denn man war ungewollt in die abgeschottete Sphäre des IM-Systems geraten, dessen Tarnung grundsätzlich nicht gefährdet werden durfte.
Selbstverschuldete Verluste beim Übergang in die Illegalität
Im Interesse der SED-Führung trug das MfS maßgeblich dazu bei, daß in der Parteigeschichtsschreibung keine ernsthafte Analyse der Verhaftung Thälmanns erfolgte. Nach dem in UTOPIE kreativ, Heft 114 geschilderten Ablauf könnte es so scheinen, als ob der 3. März 1933 für die KPD-Spitze lediglich unglücklich verlaufen sei. Die Quellen belegen aber, daß es sich insgesamt nicht nur um die Aneinanderreihung ungünstiger Zufälle handelte. Die Festnahmen waren durch den Führer der KPD und seine engere Umgebung faktisch vorprogrammiert und hätten bereits eher erfolgen können.
Was waren die Ursachen, welche Faktoren spielten bei der Verhaftung des Thälmann-Stabes eine Rolle?22
Einen wichtigen Punkt bildete die Quartierfrage. Es rächte sich, daß nach den Turbulenzen, die der Reichstagsbrand ausgelöst hatte, der KPD-Führer das Problem der Absicherung seiner illegalen Arbeits- und Lebensbedingungen in vielfacher Weise unterschätzt hatte. Die erneute Benutzung der völlig ungeeigneten Kluczynski-Wohnung führte ins vorhersehbare Debakel. Das bekannte »Kommunistennest« in der Lützower Straße 9 mußte zwangsläufig zur selbstgestellten Falle werden. Es spricht für die KPD, daß es in diesem Falle keinen Verrat gab, denn zu dieser Zeit breitete sich das Denunziantentum stark aus.
Noch auf der Ziegenhalser Beratung hatte Thälmann seinen Genossen Erscheinungen von »Legalitätsduselei« vorgeworfen. Thälmann selbst mißachtete alle Warnungen vor Hausdurchsuchungen in seiner Nachbarschaft und tat diese in seiner bekannten drastischen Art als »Scheißhausparolen« ab. Der KPD-Führer bewies viel Mut und Durchhaltevermögen, überschritt dabei allerdings die Grenze zu Blindheit und Leichtsinn, womit er maßgeblich selbst zu seinem Verhängnis beitrug. Eingeigelt war er seit Ende Februar offensichtlich der verschärften Lage nicht mehr ganz gewachsen – trotz aller Bemühungen zur Aufrechterhaltung der Aktionsfähigkeit der Partei über seinen persönlichen Mitarbeiterstab. Seine Vorstellungen von einem Parteiverbot reichten nicht aus, um die Winkelzüge Hitlers und Hindenburgs sowie das Ausmaß des NS-Terrors auch nur zu erahnen. Aber das konnte damals wohl kaum jemand.
Als entscheidender Faktor für den Erfolg der Polizei gegen die Führungszentrale der KPD erwiesen sich die Pannen im Sicherheitssystem der Partei, so daß man von seinem totalen Versagen am 3. März 1933 sprechen muß. Gerade nach dem totalen Überraschungsschlag des Reichstagsbrandes, als sorglose Funktionäre massenweise von der Polizei aus ihren alten Quartieren hatten herausgeholt werden können, hätte man endlich die notwendigen Schlußfolgerungen ziehen müssen. Selbst das zur Zeit des Reichstagsbrandes tagende Politbüro war an diesem Abend nicht erreichbar gewesen. Manchmal hätte es schon ausgereicht, wenn man sich an die Faustregeln aus der Zeit der Illegalitätsvorbereitungen seit 1932 gehalten hätte – beispielsweise das Wohngebiet zu verlassen und sich von der Familie zu trennen, außerdem nicht unbedingt den Quartierbeschaffungsapparat der Partei in Anspruch zu nehmen, ohne nochmalige Überprüfung der bereitgestellten Quartiere.
Änne Kerff (Kristina Kjossewa), eine ehemalige Mitarbeiterin des KPD-Nachrichtendienstes und Sekretärin Hans Kippenbergers, gestand später ein: »Wir hatten keine wirklichen Vorstellungen vom Faschismus und waren an die Legalität gewöhnt. Zum Beispiel kam auch Genosse Kippenberger spät nachts in meine Wohnung. Am nächsten Morgen fuhr er mit der Straßenbahn von Reinickendorf durch die Badstraße zum U-Bahnhof Gesundbrunnen. Dort traf er auf einen Genossen seiner Zelle, der ihm riet, sich schleunigst aus dem Staube zu machen und das alles, indem er schon in der Nacht vom Reichstagsbrand wußte«.23
Welche Absicherungsvorkehrungen hatten die Nachrichtendienst- und Quartierbeschaffungsspitze der KPD unter Hans Kippenberger und Hermann Dünow am 3. März 1933 getroffen? Noch befangen im Denken und Handeln früherer Illegalitätsperioden während der Weimarer Republik blieb die Sicherheitsdoktrin für die neue Lage unzureichend. Sie hatte zwei folgenschwere Schwachstellen, die die Verwundbarkeit der KPD bewirkten. Die eine Schwachstelle war die illegale Quartier- und Bürobeschaffung, die ohne wirkliche Absicherung arbeitete. Die Quartiere befanden sich zumeist bei mehr oder weniger bekannten KPD-Familien. Viele standen seit langem schon unter Beobachtung oder konnten durch zielgerichtete Erkundung leicht festgestellt werden. Dennoch waren seit dem Sommer 1932 selbst die vielgenutzten Quartiere nicht mehr auf ihre Sicherheit hin überprüft worden, auch jene nicht, die von ZK-Mitgliedern und Funktionären des Parteiapparates genutzt wurden. Auch auf einige vorgesehene illegale Unterkünfte für Ernst Thälmann traf dies zu. Die Lützower Straße 9 war vom Nachrichtendienst allerdings von vornherein in die Kategorie »ungeeignet« eingestuft worden und vom Quartierbeschaffungsapparat nie als illegales Versteck vorgesehen gewesen. Es gab für Ernst Thälmann letztlich keine zusätzlichen Schutzmaßnahmen, wenn man von Alfred Kattner absieht, der gelegentlich Thälmann begleitete.
Die zweite Schwachstelle war das Nebeneinander und die mangelnde Koordinierung zwischen dem illegalen Verbindungswesen Herbert Wehners, der zentralen Quartierbeschaffung über Albert Gromulat und dem Nachrichtendienst unter Hans Kippenberger – und Hermann Dünow. Engstirniges Ressortdenken, bürokratische Verkrustungen und persönliche Querelen wirkten äußerst hemmend.24 So kam es, daß ausgerechnet am 3. März für das Stabsquartier Thälmanns kein Objekt- und Personenschutz gegeben war, auch nicht das einfachste Warn- und Fluchtsystem. Selbst der Transport in das Jagdhaus »Horrido« bei Grunow (Märkisch-Buckow), wofür das Parteiauto weithin sichtbar in unmittelbarer Nähe der Lützower Straße parkte, sollte offensichtlich ohne Deckung erfolgen. Das Polizeiüberfallkommando hatte nicht damit gerechnet, Thälmann hier zu finden. Es fragt sich, warum der Sicherheitsapparat einerseits den Parteivorsitzenden aus dem ungeeigneten Quartier herausholen wollte, und andererseits dieses nicht schützte? Glück im Unglück war, daß der KPD-Führer nicht in die Hände der von Hilliges eingeschalteten SA-Motorstaffel 1 fiel.
Bei allem Für und Wider, die eigentliche Ursache des Versagens liegt aber viel tiefer. Zweifellos ist es ein historisches Verdienst der deutschen Kommunisten, daß sie nach der ersten Überraschung über den Zeitpunkt der Berufung Hitlers zum 13. Reichskanzler der untergehenden Weimarer Republik und trotz des Ausbleibens des Generalstreiks von Anbeginn am konsequentesten und opferreichsten den Widerstand entfalteten – als andere noch zögerten, das NS-Regime tolerierten oder gar kapitulierten und überliefen. Doch erhebt sich die Frage, ob eine solche Massenpartei wie die KPD überhaupt in die Illegalität überführt werden konnte. Man denke an die nahezu 360000 Mitglieder, die 28 Bezirksleitungen mit ihren über 1000 Unterbezirksleitungen, den 6000 Straßenzellen und 2200 Betriebszellen (11 Prozent der Mitglieder), den Stamm der 1000 Apparatmitarbeiter, die 100 bekannten Reichstagsabgeordneten sowie Tausende von Landes- und Kommunalpolitikern, schließlich die Avantgardisten in den Dutzend Massenorganisationen.25
Die »Regierung der nationalen Konzentration« unter Hitler überstand dank einer elastischen Taktik die ersten kritischen Tage ohne größere Probleme. Es wurde von einem offiziellen Parteiverbot zunächst Abstand genommen, um die gespaltene Linke nicht zur gemeinsamen Gegenwehr zu provozieren und über die wahren Absichten des Regimes zu täuschen. Man versuchte statt dessen, die Arbeiterbewegung und die gesamte Opposition mit gezielten und sich steigernden Überraschungsschlägen schrittweise zu zerschlagen. Im Wettlauf mit der Zeit konnten die eigene Konsolidierung und die Destabilisierung der Gegenseite vorangetrieben werden.
Dies wurde vom Hauptgegner KPD in gewisser Weise ungewollt erleichtert. Denn eine kritische Analyse verdeutlicht, daß das äußere Bild der Thälmann-Partei des Herbstes und Winters 1932/33 als eines mitreißenden antifaschistischen Massenkatalysators, der am radikalsten die Interessen der am meisten unter der Weltwirtschaftskrise leidenden Teile des deutschen Volkes vertrat, täuschte.26 Erhebliche politische, strukturelle und personelle Defizite waren verdeckt. Der »Bolschewisierungsprozeß« auf Druck der Komintern, Stalins Fremdsteuerung und eigene Schwankungen hatten zu einer Deformierung und – vor allem – zu einer politischen Isolierung der starken deutschen Partei geführt. Die drittstärkste Kraft im Parteiengefüge der Weimarer Republik glich einem Koloß auf tönernen Füßen. Nachträglich hat Herbert Wehner einige der Probleme auf den Punkt gebracht: »Äußerlich betrachtet, war die KPD eine starke, kämpferische Partei, die ihre Kraft effektiv einzusetzen verstand. Im Inneren war sie ein Gefüge von Apparaten, eine Maschinerie, die wohl tauglich zur Durchführung von Beschlüssen, aber unfähig zur schöpferischen Meinungsbildung und Austragung von Auffassungsverschiedenheiten war. Die Parteikörperschaften waren in den dreißiger Jahren erstarrt und bestanden meist nur noch als Statisterie für die Sekretariate, die alle politischen und organisatorischen Fragen entschieden«.27
Ein wesentliches Defizit der KPD war, daß die Partei mit strukturellen Problemen zu kämpfen hatte und unzureichend auf den Übergang in die Illegalität vorbereitet war. Angesichts der verstärkten öffentlichen Präsenz, die die Partei in der Endphase der Weimarer Republik hatte erreichen können, konnte das jedoch ohnehin nicht der Fall sein – zumal auf den Kampf gegen die neue Herrschaftsform in Deutschland internationale Erfahrungen mit dem Faschismus nur begrenzt anwendbar waren. Die KPD hielt sich an bewährte Rezepte und an das Vorbild der vom Zarismus verfolgten Bolschewiki. Mit etwas mehr Flexibilität hätten diese Mängel durchaus kompensiert werden können.
Allerdings war die Situation unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 tatsächlich schwierig, denn die Partei war offiziell noch legal. Die notwendige Nutzung der noch verbliebenen Möglichkeiten für eine Öffentlichkeitsarbeit insbesondere im Wahlkampf ließ kaum einen völligen Übergang in den Untergrund zu. Dies erwies sich als Zwickmühle im Wechselspiel von Halblegalität und Illegalität. Die neue Lage erschien, wie KPD-Redakteur Alexander Abusch empfand, als »geisterhaftes Dasein« zwischen Legalität und noch nicht dekretierter Illegalität, beim dem man stets hellwach sein mußte.28
Das Hauptproblem war eine illusionäre Strategie. Es gab die schillernde Forderung nach dem »revolutionären« Sturz des Hitlerfaschismus. Eine erwartete revolutionäre Krise sollte nach altem Patentrezept in den bewaffneten Aufstand übergeleitet werden, um auf diese Weise eine vermeintlich angeschlagene Hitlerregierung hinwegzufegen. So sollte das alte Traumziel verwirklicht und die Diktatur des Proletariats errichtet werden, wobei Ernst Thälmann eventuell eine noch nicht konkret untersetzte Zwischenstufe im Auge hatte. Von dieser Orientierung auf den revolutionären Sturz zeugten auch die von Alfred Kattner an Thälmann zu überbringenden drei Briefumschläge am 3. März 1933 mit Informationen des Nachrichtendienstes der KPD über die Situation in den paramilitärischen Organisationen des NS-Regimes. Werner Hirsch, spiritus rector des KPD-Führers, hatte sogar ein »revolutionäres« Aufstandsprogramm verfaßt, mit dem an den deutschen »Roten Oktober« vom Herbst 1923 angeknüpft werden sollte. Dazu hatten auch Beratungen mit John Schehr, Hans Kippenberger, Erich Birkenhauer und Herbert Wehner stattgefunden.
Auch nach Thälmanns Verhaftung blieb es dabei. Bereits im Oktober 1923 war ein deutscher »Roter Oktober« gescheitert. Thälmanns Nachfolger John Schehr glaubte, daß die Hitlerregierung höchstens zwei bis drei Jahre überstehen würde und dann die Zeit für die deutsche »Aurora« endgültig reif sei. Hans Kippenberger verfaßte im Ergebnis von Beratungen mit John Schehr im Sommer 1933 Dispositionen zur Verbesserung der militärpolitischen Arbeit der KPD. Gefordert wurde: »Bessere Anpassung an die Massenarbeit der Partei, schärfere Orientierung in Fragen der ideologischen und praktischen Aufstandsvorbereitung auf die Betriebe und die bewaffneten Massenformationen des Faschismus/SA, uniformierte Polizei, Heer, Marine«. Es sollten ganze SA-Stürme »revolutioniert« werden. »Als eine Aufgabe, dessen Gewicht in der militärpolitischen Arbeit und in der Gesamtarbeit der Partei gewaltig verstärkt werden muß, steht die ideologische und praktische Aufstandsvorbereitung im Mittelpunkt der gesamten LK – (militärpolitischen – R.S.) Arbeit«29.
Noch Anfang 1934 wurde die Anweisung der Pariser KPD-Leitung übermittelt, nicht die Reorganisationsbestrebungen der KPD im Lande voranzubringen, sondern das Schwergewicht der Tätigkeit auf die Organisation von sogenannten Oktoberzirkeln in den Betrieben zu legen, in denen theoretisch und praktisch die Aufstandsvorbereitungen vorangetrieben werden sollten. Träger des bewaffneten Aufstandes für ein Sowjetdeutschland sollte der Rote Frontkämpferbund sein. Alle Einwände wurden mit der Begründung von der Unanfechtbarkeit von Kominternbeschlüssen zurückgewiesen.30
Wegen der Offensivkonzeption zum »revolutionären« Sturz der Hitlerregierung wurde die defensive Schutzfunktion durch den ohnehin schon überforderten KPD-Nachrichtendienst vernachlässigt.
Versetzt man sich in die schwierige Situation der Parteimitglieder, so begünstigte eine im Grunde genommen abenteuerliche Generallinie, die die Partei in ein militärisches Blutbad hätte stürzen können, alte Denk- und Verhaltensweisen. Sie verführten zu unkonspirativen Leichtfertigkeiten und beeinträchtigten den Schutz der unmittelbaren antifaschistischen Arbeit. Selbst das Quartier von John Schehr in der Großbeerenstraße, bereits für Thälmann vorgesehen, wurde nicht ausgewechselt. Die zahlreichen Verhaftungen Anfang November 1933 wären vermeidbar gewesen.
Entgegen der Dimitroffschen Mahnung war die KPD mehr Amboß als Hammer. Der erlittene Tempoverlust, den Ernst Thälmann bereits in Ziegenhals konstatiert hatte, nahm zu. Insofern verdient der ungebrochene, immer wieder aufflammende Widerstandsgeist der deutschen Kommunisten nach den Einbrüchen der Gestapo höchste Würdigung. Beeindruckend sind die Treue zur Partei und der Elan der meisten Funktionäre und vieler einfacher Mitglieder unter kärglichsten sozialen Lebensverhältnissen und Gefahren für die Familien.
Die kritische Aufarbeitung der Defizite der KPD schmälert keineswegs die Leistung deutscher Kommunisten bereits in der noch unüberschaubaren Anfangsphase des NS-Faschismus. Die kaum nachvollziehbaren Schwierigkeiten wie die Irrtümer verdeutlichen erst die ganze Größe einer neuen historischen Herausforderung. Vor allem aber zeigte sich abermals, daß sich die Reaktion letztlich wiederum als stärker erwies, obwohl sie nicht unverwundbar schien. Insofern ist die Diskussion eigener Fehler und Versäumnisse, die in der DDR mit viel Anstrengungen bekämpft wurde, unverzichtbar.
Wie das MfS die Geschichtsschreibung beeinflußte
Mit der Zeit wuchs für bestimmte geschichtswissenschaftliche Fragen das MfS in die Rolle des Zensors hinein – angefangen damit, daß relevante Akten unter Verschluß gehalten wurden, bis hin zur Reglementierung von Publikationen. Auf Weisung Erich Mielkes durften bis zuletzt aus den Staatsarchiven und auch aus anderen Archiven selbst für sowjetische Forschungsvorhaben keine Dokumente herausgegeben werden, die Thälmann hätten belasten können.31 Allerdings verfolgte die Hauptabteilung IX/11 die Thälmann-Spur selber. Am 29. August 1973 wurde ein umfangreicher Maßnahmeplan zur »Ermittlung aller Umstände der Ermordung Ernst Thälmanns und des Tatbeitrages aller daran beteiligten Personen« verabschiedet und eine vierköpfige Arbeitsgruppe dazu eingesetzt.32
Thälmanns Person rückte angesichts des 30. Jahrestages seiner Ermordung und der erneuten Aufnahme der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft Köln in den Mittelpunkt. Hinzu kam, daß eine grundlegende Biographie Ernst Thälmanns ausstand. Deshalb wurde die Zusammenarbeit mit dem Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (IML) intensiviert. Am 28. Mai 1975 erhielt dieses Institut einen Bericht über die Auffassung des MfS zu Thälmanns Tod. Daraufhin bat der stellvertretende Direktor des IML, Prof. Dr. Ernst Diehl, Anfang Juli 1975 die Hauptabteilung IX des MfS um eine Stellungnahme zu drei Abschnitten des Entwurfes einer Thälmann-Biographie. Im einzelnen ging es darum, wie Thälmanns Rechtsanwälte, seine Kurierverbindungen und die Umstände seiner Ermordung dargestellt werden sollten.33 In einem ausführlichen Antwortschreiben vom 15. Juli 1975, das vom Minister mit »einverstanden Mielke« freigegeben worden war, erging die Order, im Falle des Rechtsanwalts Helmut Külz dessen Zugehörigkeit zu faschistischen Organisationen im Text zu streichen. Bei der Behandlung des Verbindungssystems während der Haft sollte die Nennung des Namens Walter Trautzsch (»Edwin«) vermieden werden, da es sich angeblich um einen V-Mann der Gestapo gehandelt habe. Trautzsch war von August 1936 bis zu seiner letzten Begegnung mit Rosa Thälmann am 22/23. Dezember 1938 der am längsten tätige und wichtigste »Thälmann-Kurier« gewesen. Er hatte über Rosa und Irma Thälmann die wohl beste Verbindungsbrücke zwischen dem Parteivorsitzenden und der KPD-Führung via Paris nach Moskau aufrechterhalten. Auf Grund seines gefälschten Schweizer Passes wurde Trautzsch am 16. Februar 1939 beim Grenzübertritt nach Deutschland festgenommen und seitdem – auch in Moskau – als möglicher Gestapospitzel beargwöhnt.34
Den breitesten Raum der Einwände durch das MfS nahm die »Darstellung der Umstände der Vorbereitung und Durchführung der Ermordung Ernst Thälmanns« ein. Diese müßte »generell verändert werden«, da sich die gegenwärtige Fassung im wesentlichen auf die Aussagen der ehemaligen Häftlinge Marian Zgoda und Wladimir Spisar stütze, die sehr widersprüchlich seien. Außerdem sollte die Nennung der Mörder nicht erfolgen, da unterdessen einige Personen bekannt geworden wären, »die gegenwärtig aufgeklärt werden«. Es wurde die Übernahme eines wörtlich ausformulierten Textes von eineinhalb Seiten »vorgeschlagen«. Dieser reichte von der Ausarbeitung konkreter Pläne zur Liquidierung Thälmanns durch das Amt IV des RSHA seit dem Frühjahr 1944 bis zur Verbrennung seiner Leiche im Krematorium des KZ Buchenwald und den Vertuschungslügen des Naziregimes.
Den Empfehlungen folgte das IML nur bedingt. Die Kurierrolle von Walter Trautzsch wurde doch ausführlich dargelegt, jedoch ohne die brisanten Probleme zu behandeln. Bei Rechtsanwalt Külz wurde hinzugefügt, daß er aus »Tarnungsgründen« faschistischen Organisationen angehört habe. Die Darlegung der Ermordung Ernst Thälmanns fiel allerdings knapp und allgemein aus, ohne Nennung der Namen von Tätern und vermeintlichen Zeugen. Anfang der achtziger Jahre wurden die Ermittlungen gegen den ehemaligen 2. Lagerführer des KZ Buchenwald, Erich Gust, den das MfS in der Bundesrepublik als mutmaßlichen Mörder Thälmanns hatte aufspüren können, auf Weisung Mielkes eingestellt.35
Wie sehr man sich im Falle der Verhaftung auf eine gemeinsame, manipulierte Linie geeinigt hatte, um Schaden vom Ansehen Ernst Thälmanns abzuwenden – dies war der Tenor aller Untersuchungsberichte der KPD bereits seit 1933 –, davon zeugt der betreffende Abschnitt in der 804 Seiten starken Biographie »Ernst Thälmann«.
Die von einem Autorenkollektiv des IML ausgearbeitete Darstellung wurde im Jahre 1979 herausgebracht und trug zum Thälmann-Kult in der Honecker-Ära wesentlich bei. Als »Volksbuch« gedacht, wurde darin der dreizehn Jahre zuvor von Hermann Dünow proklamierte Verrat durch Hermann Hilliges endgültig festgeschrieben. Alles andere blieb weiterhin ausgeklammert. Geringe Nuancierungen finden sich lediglich hinsichtlich der Anzahl der bereitgestellten illegalen Quartiere, und daß die Festnahme des Thälmann-Sekretärs Werner Hirsch eingeräumt wurde – die von Birkenhauer und Kattner jedoch nach wie vor nicht. Das Schicksal von Alfred Kattner wurde weiterhin verschwiegen36 – trotz eines ersten Hinweises auf dessen Spitzelrolle durch Franz Dahlem zwei Jahre zuvor.37
Auch neun Jahre später ließen es die Autoren der neuen »kleinen« Thälmann-Biographie mit der Darstellung der Verhaftung des KPD-Führers in alter Lesart bewenden: »Nazidenunzianten hatten seinen Aufenthalt festgestellt«.38 In der Jubiläumsdokumentation zwei Jahre zuvor waren die Verfasser sogar zur alten Floskel zurückgekehrt, lediglich die Festnahme ohne Angabe von Gründen zu erwähnen.39
Ginge es nach dem Willen mancher dieser Historiker, dann sollte es für immer so bleiben. Im Jahre 1997 trat einer der Hauptautoren des letzten, fünften Teiles der Thälmann-Biographie von 1979 mit der Devise hervor, daß es gelte, als einen entscheidenden Teil »neuen Denkens alte Wahrheiten« zu verbreiten. Es reiche wahrlich, »die Thälmann-Biographie von 1979 zu lesen«. Schon damals wären »alle Lügen und Verleumdungen, die heute noch immer und erneut hervorgehoben werden«, zurückgewiesen worden. Es seien seither »keine Archivalien oder andere Materialien aufgetaucht, die eine wesentliche Korrektur des Thälmann-Bildes« erforderten.40
Seither fehlt es in den neuen wie alten Bundesländern nicht an Bestrebungen, die Verklärung Ernst Thälmanns festzuschreiben.41 Insbesondere durch die Wortführer des Freundeskreises der »Ernst-Thälmann-Gedenkstätte Ziegenhals« e. V. wird der Sinn ehrenden antifaschistischen Gedenkens wie einst verkehrt. Denn im Prinzip ist es bei alten Kultklischees und Geschichtsklitterungen geblieben. In demagogischer Weise werden nicht nur neue Fragestellungen und weiterführende Forschungsergebnisse abgeblockt, sondern zunehmend Andersdenkende ausgegrenzt und kritische Historiker wie Politiker öffentlich diskreditiert. Auch Irma Thälmann äußerte sich entsprechend. Die verschiedenen Gedenkredner am Denkmal im Prenzlauer Berg oder in Buchenwald anläßlich des 55. Jahrestages der Ermordung des KPD-Führers wurden von ihr faktisch der Verunglimpfung des Andenkens ihres Vaters bezichtigt, »als wenn sie nicht wüßten, was in den Unterlagen steht«.42 Sie wies empört die »Verleumdungen« zurück, die im »Neuen Deutschland«, das die »Linie« bringen müßte, unter dem Vorwand der »Geschichtsaufarbeitung« über Ernst Thälmann »ausgeschüttet« würden.43
Insofern ist klarzustellen, daß die Existenz der Ziegenhalser Thälmann-Gedenkstätte nicht ausschließlich durch antikommunistische Bestrebungen gefährdet ist, wie behauptet wird. Als Ort antifaschistischen Gedenkens an die illegale KPD-Reichsfunktionärskonferenz mit Ernst Thälmann – aber nicht als Stätte der alten SED-Geschichtsschönungen und als Gral zur Selbstdarstellung von Nostalgikern – ist der bauliche Verfall der Gedenkstätte natürlich unbedingt aufzuhalten. Ohne inhaltliche Korrekturen jedoch wird die Gedenkstätte auf Dauer keine wirkliche Perspektive haben. Es ist kaum länger zumutbar, daß eine an historischen Tatsachen interessierte Besucherschaft wider neue wissenschaftliche Erkenntnisse44 durch ein konserviertes SED-Geschichtsbild – Tabus und Falschaussagen eingeschlossen – irregeführt wird.
Nach dem Erscheinen der »großen« Thälmann-Biographie unternahm man im MfS einen nächsten Schritt, um der GVS-Weisung des Ministers zur Erforschung der Tätigkeit der Aufklärungs- und Abwehrorgane der KPD nachzukommen. Naturgemäß berührte dies Grundfragen der Parteigeschichte und die Verantwortung des KPD-Führers, dem der Nachrichtendienst persönlich unterstanden hatte. Das MfS war bestrebt, sich das Monopol auf die Erarbeitung der Geschichte des Sicherheitsapparates der KPD zu sichern und bei Publikationen anderer Institutionen die Federführung auszuüben. Ab 1980 wurde die Konzeption des Forschungsvorhabens über die »Erfahrungen der KPD bei der Erkundung, Entlarvung und Abwehr der geheimen Pläne, Absichten und Machenschaften des Feindes« beraten und präzisiert als ein »Beitrag für die Erhöhung der Wirksamkeit der planmäßigen Erziehung und Befähigung der Mitarbeiter zur Erfüllung der politsch-operativen Aufgaben des MfS«. 1983 lag der Entwurf zum ersten Abschnitt des 5. Kapitels vor. Sein Thema lautete: »Die mit der Errichtung der faschistischen Diktatur entstandenen neuen Klassenkampfbedingungen, der Kampf der Aufklärungs- und Abwehrorgane der KPD für den Sturz der Hitlerregierung und zur Verhinderung des drohenden imperialistischen Krieges (1933-1939)«. Seine Ausarbeitung war der Hauptabteilung IX im Zusammenhang mit der Bearbeitung des Vorganges »Parteiintern« übertragen worden, während die Erarbeitung des Gesamtprojekts gemeinsam mit der Hochschule des MfS, der HVA und der Hauptabteilung IX erfolgte. Letztere hatte zugleich den Auftrag »Archivproblem – parteiintern« auszuführen, um alle in eigenen Dokumentenablagen sowie in staatlichen Archiven vorhandenen Materialien über die Tätigkeit und über die Mitarbeiter der Aufklärungs- und Abwehrorgane der KPD zu erfassen, auszuwerten und so Rangeleien im Ministerium zu unterbinden.45
Im Auftrag von Generaloberst Wolf hatte schon seit Anfang 1980 eine Arbeitsgruppe der HVA und der Hochschule des MfS das Zentrale Parteiarchiv beim IML zum militärpolitischen Apparat der KPD durchforstet. Die weitere Arbeit sollte künftig mit der Hauptabteilung IX koordiniert werden. Generalmajor Hans Carlsohn, Leiter des Sekretariats des Ministers und persönlicher Mitarbeiter Mielkes, übergab deshalb an diese Hauptabteilung die im »großen Panzerschrank« befindlichen Unterlagen »zur internen Auswertung«. Mit dem Zugriff auf jene Staatsarchive der DDR, in denen sich parteiinterne Angaben zum militärpolitischen Apparat der KPD befanden, sollte durch »Dauerausleihe« an das MfS zugleich verhindert werden, daß »keine mißbräuchliche Auswertung durch andere Archivbenutzer erfolgen kann«. Über den Stand der Dinge wurde der Minister durch einen dreiseitigen Bericht von Oberst Stolze (Hauptabteilung IX/11) am 9. September 1983 informiert.46
Es erfolgten strenge Belehrungen über die »parteigemäße« Auswertung von Quellen und die Erläuterung von Bewertungskriterien am Beispiel eines Erinnerungsberichtes von Änne Kerff, die jahrelang in Stalinschen Lagern inhaftiert gewesen war. Sie hatte im November 1972 aus Sofia ihre ausführlichen, teilweise kritischen Aufzeichnungen dem 1. Sekretär des ZK der SED, Erich Honecker, übermittelt. Anlaß war der bevorstehende 50. Jahrestag des Hamburger Aufstandes und das Gedenken an ihren Lebensgefährten Hans Kippenberger. Über das Zentrale Parteiarchiv war eine Kopie durch die Hauptabteilung IX/11 zur Auswertung übernommen worden. Diese bekundete ihr Mißfallen, denn die Autorin vertrete »zu bestimmten Ereignissen fest eingefahrene und vorgefaßte Meinungen«. Es gelte bei der Nutzung der Niederschriften zu beachten, daß sie »bestimmte Vorbehalte gegen führende Funktionäre unserer Partei hatte und hat«, die es abzubauen gelte.47
Dafür baute man um so mehr auf die persönliche Unterstützung Erich Mielkes als gewichtiger und angeblich verläßlicher Zeitzeuge. Er sollte anhand von 22 Fragen der Hauptabteilung IX/11 über die Tätigkeit der Aufklärungs- und Abwehrorgane der KPD und seine eigenen Erfahrungen berichten, nicht zuletzt über seinen Einsatz im spanischen Bürgerkrieg. Darauf drängte insbesondere Generaloberst Wolf. Er wollte, daß ihm der Fragenkomplex zum AM-Apparat vom Minister beantwortet werde, wozu er dreizehn Auskünfte wünschte.48
Weitere Aktivitäten gab es zur Abstimmung mit dem IML bei der Ausarbeitung des nächsten großen Projektes der Parteigeschichtsschreibung, der Geschichte der SED in vier Bänden. Das MfS wollte klären, wie im zweiten Band über die Zeit von 1917 bis 1945 die Tätigkeit der illegalen Apparate der KPD erfolgen sollte. Der zuständige Institutsvertreter Ernst Diehl versicherte, daß eine Darstellung dazu nicht vorgesehen sei und die Erforschung dieser spezifischen Seite der Parteigeschichte nur durch die Mitarbeiter des MfS aufgrund ihrer politisch-operativen Erfahrungen durchgeführt werden könnte. Für die nachfolgenden Bände, die sich mit dem Aufbau, dem Schutz und der Sicherheit der DDR befaßten, sollte das MfS seinen entsprechenden Beitrag leisten.49 Später durchleuchtete das MfS trotzdem das Manuskript des zweiten Bandes zur Geschichte der SED und ersuchte um Korrekturen bei der Darstellung der Tätigkeit Hermann Dünows im antifaschistischen Widerstand sowie im Zuchthaus Luckau. Weiterhin wurde moniert, daß die Befreiung Ernst Thälmanns aus Moabit nicht an einem unglücklichen Zufall gescheitert sei. Man habe davon aus Sicherheitsgründen Abstand nehmen müssen.50
Auch in dieser Parteigeschichtsdarstellung blieb die eigentliche Ursache für die Verhaftung Thälmanns ungenannt. Es sei ein Polizeikommando erschienen, das der Anzeige eines Nazis nachging und Thälmann sowie Werner Hirsch festnahm. Nach wie vor wurden die Rolle und die Erschießung Alfred Kattners verschwiegen.
Was das eigene MfS-Projekt betraf, meinte Oberst Stolze, daß ein Teil im fünften Kapitel durchaus geeignet sei, die gestellten Aufgaben »zur weiteren Erforschung der Vorbilder für die operative Arbeit und für die revolutionäre Traditionspflege des MfS zu unterstützen«. Zugleich betrieb man um das Ganze viel Geheimniskrämerei. Außer den Mitgliedern der Arbeitsgruppe der Hauptabteilung IX/11 hatten zunächst nur Oberst Coburger von der Hauptabteilung IX und Oberst Fröhlich von der Hochschule des MfS Kenntnis vom Inhalt des Entwurfs des ersten Abschnitts vom Herbst 1983.51
Welche Erkenntnisse wurden sowohl im ersten Entwurf von 1983 als auch im Forschungsbericht vom Dezember 1986 über die Verhaftung Ernst Thälmanns vorgelegt? Im Prinzip blieb es bei den Darlegungen der Thälmann-Biographie über die Hauptschuld von Hermann Hilliges. Allerdings wurde erstmals die Festnahme von Erich Birkenhauer und Alfred Kattner, den anderen beiden persönlichen Mitarbeitern des KPD-Führers, noch am gleichen Nachmittag eingeräumt. Polizeihauptwachmeister Max Laube, im Dossier auf Grund des Filmfundes von 1967/68 noch zum zweiten »Sündenbock« abgestempelt, spielte dagegen überhaupt keine Rolle mehr. Die Brisanz des letzten »Cheftreffens« mit Thälmann am 3. März 1933 zu wichtigen Absprachen im unmittelbaren Vorfeld der Wahlen zum Reichstag und zum Preußischen Landtag und für eine modifizierte neue Einheitsfrontpolitik mit der SPD, blieb immer noch völlig unerwähnt.
Im Vordergrund stand faktisch eine Reinwaschung des militärpolitischen Apparates der KPD, »der große Anstrengungen für die Gewährleistung der Sicherheit des Vorsitzenden der KPD unternommen hatte«. Im ersten Entwurf wurde mit den Worten des Zeitzeugen Franz Dahlem immerhin wenigstens noch eingestanden, daß die Partei und ihr Sicherheitsapparat Ernst Thälmann »nicht sicherer vor den faschistischen Häschern zu schützen gewußt und nicht mit noch größerer Entschiedenheit seinen Widerstand zu überwinden versucht hatten, rechtzeitig das Land zu verlassen.«52 Diese kritische Nuancierung ließ allerdings sowohl die akzeptablen Motive der Wahlkampfstrategie Thälmanns, bis zum 5. März in Deutschland an der Spitze der Partei auszuharren, als auch die tieferen Ursachen der Sicherheitsmängel außer acht.
Auch stimmte es nicht,53 daß der militärpolitische Apparat die Untersuchungen zur Verhaftung Thälmanns »sehr erfolgreich« geführt habe und ein detailliertes Bild über den Hergang der Verhaftung Ernst Thälmanns ermittelt worden sei. In der Endfassung des Forschungsberichtes wurde einiges wieder zurückgenommen. Man blieb eine Erklärung schuldig, weshalb Ernst Thälmann nicht sicher in die Emigration herausgebracht wurde, obwohl der militärpolitische Apparat angeblich dafür alle Voraussetzungen geschaffen hatte wie zuvor schon für eine sichere Unterbringung in Deutschland. Es wurden die beschönigenden, unzureichenden Recherchen der KPD-Abwehr unkritisch übernommen. Zwar wurde erstmalig das ganze Ausmaß des Verrats der Gestapospitzel Olbrysch, Laß, Krauß und Kattner enthüllt, ohne jedoch zu erwähnen, daß der militärpolitische Apparat bis in den Winter 1933 hinein Alfred Kattner in Schutz genommen hatte. Auch das Ende Kattners wurde weiterhin verschwiegen – ebenso welche Auseinandersetzungen Herbert Wehner mit dem Nachrichtendienst um die »Kaltstellung« Kattners geführt hatte. Auch darüber, daß Hans Kippenberger einiges vertuschte, um das Ansehen seines Parteivorsitzenden zu schützen, erfolgte kein Wort. Im Abschnitt »Sonderauftrag Thälmann« wurden zwar die Verbindungsaufnahme und die Befreiungsversuche zur Rettung des KPD-Führers aus dem Moabiter Gefängnis dargelegt. Die Berufung auf die Moskauer Entscheidung, aus Sicherheitsgründen schließlich davon Abstand zu nehmen, wurde aber nicht hinterfragt – war diese doch offensichtlich ein Vorwand gewesen.
Immerhin gab es eine kritische Sicht der MfS-Autoren auf das dogmatische Festhalten der KPD-Führung an der Errichtung der Diktatur des Proletariats nach dem erwarteten Sturz der Hitlerregierung. Aber der problematische Zustand der KPD, ihre eigenen Versäumnisse und Schwierigkeiten beim Übergang in das äußerst komplizierte Wechselspiel zwischen Halblegalität und Illegalität wurde kaum analysiert. Alles im allem ging die hauseigene KPD-Geschichtsschreibung des MfS nicht über einige Modifizierungen und Ansätze in Einzelfragen hinaus. Vor allem: Alles blieb intern.
Rückgriffe
In der »Geschichte der Militärpolitik der KPD (1918-1945)« aus der Schriftenreihe des Militärgeschichtlichen Instituts der DDR erfolgte 1987 ein Rückfall in den ganz alten Stil. Die Verhaftung Ernst Thälmanns wurde übergangen und lediglich erwähnt, daß Wilhelm Pieck auf der »Brüsseler Konferenz« im Oktober 1935 zum Parteivorsitzenden »für die Zeit der Inhaftierung Ernst Thälmanns« gewählt worden war.54 Mit zahlreichen Allgemeinplätzen blieben die Autoren hinter Ansätzen des fünften Kapitels des Forschungsprojektes des MfS zurück. Und nicht nur dies. Reglementierungen und strikte Eingriffe in die Forschung durch das MfS sollten dafür sorgen, daß unangenehme Wahrheiten nicht an die breite Öffentlichkeit gelangten.
Stein des Anstoßes war die Gemeinschaftsdissertation von Oberst Dr. Edgar Doehler und Oberst Dr. Egbert Fischer im Jahr 1983 zum Dr. sc. phil. an der Militärakademie »Friedrich Engels« in Dresden, beide Dozenten an dieser höchsten Ausbildungsstätte der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR. Die Thematik lautete: »Studien zur Entwicklung und Tätigkeit des militärpolitischen Apparates der KPD (1919-1935)«. Im Text gab es dazu einige kritische Darlegungen, richtige wie streitbare. Es wurde durchaus zutreffend festgestellt, daß der M-Apparat nach Errichtung der faschistischen Diktatur zunächst an der inhaltlichen Orientierung und der organisatorischen Struktur festhielt, obwohl es, »wie es sich dann zeigte, notwendig gewesen wäre, ihn stärker auf die Sicherung der Partei und der illegalen Parteiarbeit ein- und umzustellen«. Erstmals wurde in einer offiziellen wissenschaftlichen Arbeit der »Fall Kattner« angeschnitten, eines der für die Öffentlichkeit am besten gehüteten Tabus in der DDR. Die Autoren rechtfertigten allerdings seine Liquidierung, die »vermutlich vom M-Apparat der KPD vorbereitet und durchgeführt«, worden sei.55 Bis dahin hatte nur Franz Dahlem als das »krasseste Beispiel für Verrat« den Namen Kattner – jedoch ohne den Fememord – kurz erwähnt.56
Nun trat das MfS auf den Plan. Was warf man den Militärhistorikern vor? Die Auffassung, daß selbst die KPD-Zentrale »vor den Spitzelaktivitäten der Polizei nicht gefeit war«, zeuge von einer Unterschätzung des Klassenfeindes und seiner Praktiken, meinte man. Anhand von Beispielen wurde der Vorwurf erhoben, daß die Dissertation unmittelbar die These der BRD-Geschichtsschreibung stützen würde, der M-Apparat habe der Partei lediglich geschadet. Auch wenn »eine Vielzahl bisher unbekannter Sachverhalte« dargelegt würden, seien die Autoren am Ende ihrer Dissertation zu einer »schwerwiegenden Schlußfolgerung« gelangt, womit »direkt die historische und objektive Notwendigkeit der Existenz spezieller Organe der Partei zur Aufklärung und Bekämpfung der Gegner der Arbeiterklasse geleugnet« werde.57
Dem Gutachter aus dem IML wurde eine sehr kritische Beurteilung der Arbeit abverlangt. Aber nicht nur das: In einem Schreiben vom 12. Dezember 1983 an den Minister ersuchte der Leiter der Hauptabteilung IX, Generalmajor Fister, um eine Sperrung der Dissertation. Diese sollte »aus Gründen von parteiinternen und politisch-operativen Personen- und Sachzusammenhängen entsprechend der VS-Ordnung als Verschlußsache« erfaßt werden. Auf Grund der aufgezeigten »fehlerhaften Darstellung« der spezifischen Tätigkeit der Militärpolitischen Abteilung der KPD dürfe »keine weitere Auswertung in der wissenschaftlichen und geschichtspropagandistischen Arbeit« erfolgen. Ebenfalls müsse dafür gesorgt werden, daß »zukünftig bei der Benutzung von Dokumenten des historischen Archivs der KPD, insbesondere über die konspirative Arbeit der Partei, eine ausdrückliche Verpflichtung zur Geheimhaltung vorgenommen wird«.58
Es folgte zwar ein ordnungsgemäßes öffentliches Promotionsverfahren vor dem Wissenschaftlichen Rat der Militärakademie mit drei im Prinzip sehr anerkennenden Gutachten, insbesondere hinsichtlich der Materialsubstanz. Jedoch blieben Nachwirkungen nicht aus. Hatte Prof. Dr. Walter Wimmer vom IML in seinem Gutachten einerseits die Gemeinschaftsschrift noch als »Standardarbeit und Nachschlagewerk« gewürdigt, so wurde andererseits eine Fortführung für überflüssig erachtet, der streng vertrauliche Charakter betont und eine etwaige Veröffentlichung nicht gebilligt. Sie sollte lediglich für interne Zwecke und die Geschichtsarbeit der Partei genutzt werden. Auf dem NVA-Dienstweg erfolgte die Weisung, die verschickten Thesen zur Dissertation einzuziehen und das mißhellige Werk zu sekretieren. Es wurde als »VVS« abgestempelt. Nur mit schriftlicher Genehmigung des Kommandeurs der Sektion Gesellschaftswissenschaften an der Militärakademie durfte eine Ausleihe erfolgen. Zwei Seiten mußten sogar entfernt werden.59 Sie behandelten die Ereignisse vom 9. August 1931 auf dem Bülow-Platz mit Erich Mielke vom Parteiselbstschutz, als zwei Polizeioffiziere im Zeichen des Prinzips des individuellen Terrors, der von den radikalsten Kräften in der KPD entgegen Thälmanns Linie befürwortet wurde, erschossen wurden.60 Übrigens gehörte einer der Verfasser, Edgar Doehler, dann zum Autorenkollektiv der genannten Geschichte der Militärpolitik der KPD.
Es war alles bekannt
Wie sich zeigt, waren seit den polizeilichen K-5-Ermittlungen nach dem Kriege und vor allem seit dem Filmfund im Berliner Polizeipräsidium am Jahresende 1967 die aktenmäßig bekundeten Tatsachen über die Verhaftung Ernst Thälmanns und den »Fall Kattner« ans Licht gekommen. Dazu kamen die Kenntnisse der Rechercheure und Geschichtsforscher des MfS wie auch anderer DDR-Historiker. Auch was zur KPD-Geschichte in Publikationen aus der BRD, vor allem durch Hermann Weber (Universität Mannheim), vorgelegt worden war, blieb sachkundigen Fachleuten in der DDR nicht unbekannt. Selbst wenn nicht allen Wertungen Webers in seiner ebenfalls durch den Kalten Krieg geprägten Diktion zugestimmt werden kann, erweist sich manches bis heute als zutreffend.
Aber wie wurde mit diesen Tatsachen und mit den Tabus umgegangen? Die vergleichende Aufarbeitung ergibt, daß seit dem ND-Artikel Hermann Dünows im April 1966 über die Dossiers der MfS-Hauptabteilungen IX und XX im Verlaufe der ersten Jahreshälfte 1968 bis zum offiziellen Standardwerk der Thälmann-Biographie von 1979 der sogenannte Verrat durch Hermann Hilliges als die Ursache für die Verhaftung Ernst Thälmanns festgeschrieben wurde. In den achtziger Jahren zog man sich sogar wieder auf knappe Allgemeinplätze zurück.
Doch das eigentliche Problem bestand darin, daß die Thälmann-Forschung in der DDR generell in den offiziellen Thälmann-Mythos eingebunden war und diesem diente. Ständig stieß sie an Grenzen. Tatschen, die im Widerspruch zu dem unter Erich Honecker immer mehr ausufernden Thälmann-Kult standen, wurden verschwiegen. Honecker verstand sich als einer der treuesten Jugendfunktionäre des KPD-Führers. Anfang der dreißiger Jahre hatte er in den Auseinandersetzungen um die Linie des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands (KJVD) für Thälmann Partei ergriffen. Nunmehr sollte im Geiste Ernst Thälmanns gelernt, gearbeitet und gelebt werden. Das galt keineswegs nur für die »Thälmann-Pioniere« und die über 200 Namensträger aus allen Bereichen.
Der unverkennbare Widerspruch zwischen dem angeblichen Anspruch der SED- und DDR-Führung auf Erfüllung des Vermächtnisses Ernst Thälmanns einerseits und den sich verschlechternden Zuständen in der DDR andererseits verschärfte sich in den achtziger Jahren zusehens. Hatte in den ersten Jahren der DDR das Leitbild vom unermüdlichen Volkstribunen gegen Imperialismus, Faschismus und Krieg sowie für eine bessere sozialistische Zukunft des Volkes durchaus noch Anklang gefunden, so wirkten in der Endzeit der DDR die Rituale einer heroisierten Vergangenheit nur noch ermüdend und konnten auf Dauer die gesellschaftlichen Probleme nicht einmal im Ansatz überspielen. Unter diesen Umständen erschienen historische Tatsachen, die das Wunschbild von Thälmann befleckt hätten, als noch mehr belastend und waren deshalb unerwünscht. Es blieb bis zum Ende alles beim alten.61
Bis in die Gegenwart hinein werden Erkenntnisse über die Hintergründe, den Verlauf und die Folgen der Verhaftung Ernst Thälmanns sowie der »Fall Kattner« kaum rezipiert, von Ansätzen und von einem Enthüllungsjournalismus62 abgesehen. Noch immer ist selbst in seriösen Monographien, in Memoiren und Regionalforschungen vom Verrat am KPD-Führer die Rede, auch vom Verrat durch Alfred Kattner.63
Das alles ändert nichts daran, daß letztlich die Verhaftung des Thälmann-Stabes am 3. März 1933 nicht nur verfassungswidrig, sondern auch selbst verschuldet war und vermeidbar gewesen wäre.
Metamorphosen der Wehner-Legende
Neben dem Zwang, für die Einkerkerung Ernst Thälmanns eine plausible Erklärung zu finden, stand die Partei vor einem noch heikleren Problem: dem Umgang mit einem Abtrünnigen. Ein ehemaliger Mitstreiter Thälmanns aus der Führungsetage der KPD, der nach Kriegsende noch prominenter wurde, geriet deshalb ebenfalls in das Visier des MfS. Es handelt sich um Herbert Wehner. Im Unterschied zu manch anderen schätzte ihn Ernst Thälmann sehr. Thälmann hatte durchgesetzt, daß der fähige sächsische Landesfunktionär 1932 zum technischen Sekretär des Politbüros aufstieg, um als »Aufräumer« Ordnung im Parteiapparat zu schaffen. Der KPD-Führer war mit dessen Art äußerst einverstanden und versprach, ihm stets den Rücken zu stärken. Wehner kurbelte während der Krisenjahre 1932/33, während der heißen Wahlschlachten und antifaschistischen Demonstrationen, für seinen Parteivorsitzenden die Parteimaschinerie an.64 Er überstand sowohl alle Gestapoverfolgungen als auch die Stalinschen Säuberungen65 und wurde im Oktober 1935 sowie Anfang 1939 auf den Parteikonferenzen der KPD bei Moskau und Paris zum Kandidaten des Politbüros gewählt. Doch nach seiner undurchsichtigen Verhaftung am 18. Februar 1942 durch die schwedische Staatspolizei im Stockholmer KPD-Anleitungszentrum für den antifaschistischen Widerstand in Deutschland galt Wehner als Unperson. Am 6. Juni 1942 erfolgte sein Parteiausschluß wegen angeblichen »Parteiverrats«66.
Seine Abwendung vom Kommunismus und sein Aufstieg zu einem führenden sozialdemokratischen Spitzenpolitiker und Minister für Gesamtdeutsche Fragen in der BRD machten Wehner zur Zielscheibe von Demontagebestrebungen aus verschiedenen Richtungen. Zeitweilig sah er sich zugleich als Sowjetspion, Feigling und Arbeiterverräter beschimpft. Die Bandbreite reichte von der »Deutschen Soldatenzeitung« über den »Spiegel« bis zur jeweiligen Führung der SED und den Organen der DDR. Für diese galt er als Trumpfkarte für das Auslösen politischer Unruhe und bei der Vergangenheitsbewältigung in der BRD – jahrzehntelang unterstützt vom KGB und der Moskauer Führung. Wehner war gewissermaßen eine Zeitzünderbombe.67
Die ersten nachrichtendienstlichen Nachforschungen der SED hatten bereits nach Wehners Rückkehr aus Schweden und seinem Eintritt in die SPD im Herbst 1946 eingesetzt. Seit Anfang der sechziger Jahre dann spielte das MfS eine Schlüsselrolle in der Anti-Wehner-Kampagne (»Fall Wotan«). Erich Mielkes Experten lieferten umfassende »Gutachten« jeweils nach politischer Wetterlage, zunächst zur Abstempelung zum »Arbeiterverräter« und dann zur überraschenden endgültigen Kehrtwendung im Jahre 1978. Allerdings spielten bei den Beschuldigungen – anders als einst bei Komintern und NKWD – die Verhaftung Ernst Thälmanns und der Fememord an Kattner keine Rolle.
Vieles ist in einem gesonderten 25seitigen Kapitel (»Wie Verräter gemacht werden – Die Akte Wehner«) im selbstgepriesenen »Enthüllungsbuch« des Mitarbeiters der Gauck-Behörde, dem Historiker Hubertus Knabe, zusammengefaßt worden.68 Bereits im Vorfeld gab es zu einer ähnlichen Publikation aus gleicher Feder69 Querelen in der Gauck-Behörde und Streit in der Öffentlichkeit um die Forschungsfreiheit bei dieser Einrichtung sowie um Verlagsrechte. Es wurden Vorwürfe wegen »doppelter Vermarktung« und fehlenden Neuwertes erhoben.70 Da von Knabe behauptet wird, daß die MfS-Hauptabteilung IX/11 in ihrem Untersuchungsbericht vom 18. Mai 1978, der von einem äußerst zufriedenen Mielke an Honecker sofort übermittelt worden war, »eine nahezu hundertprozentige Rehabilitierung Wehners« bekräftigt habe,71 ist – von anderen Fragwürdigkeiten abgesehen – zumindest bei einer solchen schwerwiegenden Behauptung eine Richtigstellung erforderlich. Unter Berufung auf diese Stasiquelle hatte das Nachrichtenmagazin »Focus« interpretiert, daß nach den Erkenntnissen des MfS Herbert Wehner »kein Verräter« sei.72 Eine Klärung ist um so mehr angebracht, als Markus Wolf noch immer an seinem Dogma vom »janusköpfigen Renegaten« Wehner und seinem »Verrat« festhält.73
Tatsächlich kam es zu einem Wandel im Wehner-Bild der DDR. Dies erklärt sich aus den Sachzwängen im Ost-West-Verhältnis. Angesichts der entstandenen Barrieren zwischen beiden Seiten traten die Befürworter der »Neuen Ostpolitik« in Bonn und die Verfechter einer »friedlichen Koexistenz« seitens der DDR für Entspannungslösungen ein. Der geschickt aufgezogene Besuch Herbert Wehners beim neuen Partei- und Staatschef Erich Honecker in der anheimelnden Atmosphäre des Jagdhauses »Hubertusstock« in der Schorfheide im Mai 1973 setzte dafür ein Signal. Fortan agierte der SED-Generalsekretär als ein besonders fürsorglicher Gastgeber mit persönlichen Regieanweisungen für die Kaffeetafel. Er knüpfte damit bewußt an eine quasi-familiäre Tradition an – Wehner hatte während seines Einsatzes bei der Saarabstimmung 1934/35 eine Einladung zu den Honeckers in die Neunkirchener Straße 88 in Wiebelskirchen zum »Kaffeetrinken« erhalten. Es entwickelte sich mit der Zeit eine kuriose Altmännerfreundschaft, die auf der gemeinsamen Widerstandszeit nach der Machtübergabe an Hitler fußte und einen auf Vertrauen gegründeten Draht zwischen Bonn und Berlin schuf. Unter Umgehung offizieller Stellen und sogar der Verbündeten half dieser, so manche »heiße Eisen« abzukühlen. Das ging natürlich auf Dauer nicht mit einem angeblichen »Arbeiterverräter« und »Gestapo-Denunzianten«.
Zupaß kam, daß das MfS herausgefunden hatte, was es mit den zeitgenössischen Kronzeugen Karl Mewis und Richard Stahlmann auf sich hatte, die Wehner so manche Schuld für ihr eigenes Versagen und für die schlechte Vorbereitung bei der Entsendung der KPD-Instrukteure nach Deutschland in die Schuhe schoben. Ihre geschönten Berichte nach Moskau hatten die wahre Lage bei der Stockholmer Auslandsleitung der KPD und an der »inneren Front« in Deutschland nicht zutreffend widergespiegelt. Deshalb war Wehner Anfang 1941 von Wilhelm Pieck und Georgi Dimitroff mit der Untersuchung beauftragt worden zu klären, wieweit der Stockholmer KPD-Resident Karl Mewis durch »Schlamperei« die illegale Widerstandsarbeit in Deutschland gefährde, um dann selbst in Berlin eine neue Parteizentrale aufzubauen. Vor allem hätten Mewis und Stahlmann, wie das MfS meinte, in weitaus stärkerem Maße als Wehner Aussagen über die illegale Arbeit vor den schwedischen Vernehmungsbeamten gemacht. Es war bekannt, daß die schwedischen Behörden in verschiedenen engen Kontakten zum NS-System standen, sogar zur Gestapo.
Der ehemalige Stockholmer Mitarbeiter von Mewis und spätere Mitbegründer des Nachrichtendienstes der DDR, HVA-Oberst Richard Stahlmann, wird trotzdem bis zum heutigen Tage von Markus Wolf glorifiziert. Dieser beruft sich auf dessen Version vom Verrat über Wehner in Schweden.74 Das Lügengespinst gegenseitiger Denunziationen hatte Mielke durchaus durchschaut, wenn er feststellte: »Stahlmann und die anderen sagen doch alle nicht die Wahrheit«.75
Aber dies hatte zunächst noch keine grundlegenden Auswirkungen. Die eingeschlagene Anti-Wehner-Linie76 wurde nicht so schnell aufgegeben. Die Entspannungsgegner in Ost und West streuten gelegentlich nach wie vor Störfeuer aus. In den »verbesserten« Memoiren von Karl Mewis »Im Auftrag der Partei« aus dem Jahre 1973 wurde Wehner weiterhin als feiger »Renegat« und »Verräter« geschmäht. Aber drei Jahre später ging dies nicht mehr. Die Passagen über Wehner in den Erinnerungen seines einstigen Mitkämpfers Max Seydewitz fielen kurzerhand dem Rotstift zum Opfer. Dann stellte das unmißverständliche Drängen Honeckers endgültig die Weichen. Obwohl dieser bereits seit 1964 die »Notizen« Wehners von 1946 kannte, entdeckte er jetzt auf einmal mit »Erschütterung«, was dieser »durchgemacht hat«. Was früher war, zähle heute nicht mehr, sondern was die Genossen in der Gegenwart für die internationale Arbeiterbewegung täten, lautete die unmißverständliche neue Lesart.77 Damit wurde aus höchstem Munde bekräftigt, was Grundsatz war und blieb: das Primat der Politik gegenüber historischen Tatsachen. Mielke wies einen »objektiven Bericht« zum »Verrat« Wehners in Schweden an. Nach nur neun Tagen legte eine fünfköpfige Arbeitsgruppe unter Generalmajor Rolf Fister am 18. Mai 1978 ein Entlastungsgutachten vor.
Da dieses wichtige Dokument bei Hubertus Knabe mehr fehlorientierend kommentiert als korrekt ausführlich zitiert wird, sollen daraus die entscheidenden Passagen wiedergegeben werden. »Die Durcharbeitung der Materialien zu Wehner«, so heißt es, »erbrachte keinen Beweis dafür, daß dieser, wie in den Veröffentlichungen der vergangenen Jahre behauptet wurde, sich bewußt durch sein Verhalten der schwedischen Polizei in die Hände gespielt und seine Verhaftung provoziert hätte.
Zusammenfassend kann eingeschätzt werden:
1. Durch die Verhaltensweise und die Aussagen Wehners vor der schwedischen Polizei und während der gegen ihn durchgeführten Verhandlungen im Gerichtsverfahren wurden keine in Deutschland illegal tätig gewesenen Genossinnen und Genossen bzw. Gruppen verhaftet, verurteilt und hingerichtet. Er hat während seiner Untersuchungs- und Strafhaft keine strafbaren Handlungen nach den Gesetzen der DDR begangen.
2. Ausgehend von seiner Funktion, seinen Erfahrungen in der illegalen und konspirativen Arbeit und seines Auftrages hat Wehner unverantwortlich gehandelt, weil er lediglich zu seiner Verteidigung Angaben zu den Aufgaben und Schwerpunkten der illegalen Arbeit der KPD in Deutschland sowie zu Mitteln und Methoden der konspirativen Arbeit machte. Leichtfertig war auch seine ständige Verbindung zu Frieda Wagner nach der Verhaftung von Josef Wagner«.78
Der Minister genehmigte am nächsten Tage den Bericht und bedankte sich »für die kurze und sachliche Darstellung«. Er würde diesen an den Generalsekretär weitergeben. Vorläufig »ergeben sich keine weiteren Aufgaben«, so notierte Oberstleutnant Stolze.79
Auch in der angeführten »Focus«-Notiz wird die Stasiquelle oberflächlich und nicht zusammenhängend interpretiert. Herbert Wehners Verhalten sei allenfalls als »leichtsinnig« durch das MfS gewertet worden. Im Knabe-Buch wird der ganze zweite Schlußpunkt der Stasi-Zusammenfassung übergangen. Dort ist jedoch, wie zitiert, eindeutig die Rede davon, daß Herbert Wehner entsprechend seinem Parteiauftrag und seiner politischen Stellung »unverantwortlich« gehandelt habe, was im Hinblick auf seine reichen Untergrunderfahrungen um so verwunderlicher erschien. Dazu noch die Einschätzung »leichtfertig« hinsichtlich der Aufrechterhaltung der Verbindung zu seiner Bekannten Frieda Wagner, die infolge der Verhaftung ihres Ehemannes nach dessen illegaler Rückkehr aus Deutschland im Herbst 1941 unter scharfer Polizeibeobachtung stand. In ihrer Wohnung war Wehner festgenommen worden.80 Insofern ist die von Knabe betriebene vollständige Rehabilitierung zumindest fragwürdig.
Das Anti-Wehner-Klischee war zwar vom Verratsvorwurf nunmehr endgültig entlastet worden. Aber das Bild Wehners blieb noch durchaus mit anderen Makeln behaftet. Daß der vorgesehene Kopf für den Inlandswiderstand der KPD überhaupt in die Hände der schwedischen Polizei gefallen war und wichtige Angaben über die illegale Arbeit gemacht hatte, wurde nach wie vor kritisiert. In der Tat handelte es sich um eine vermeidbare Panne mit Folgen, die einem konspirativ erfahrenen Illegalen passiert war, den einst die Gestapo erfolglos gejagt und Respekt gezollt hatte.81
Doch darauf kam es Erich Honecker neuerdings nicht mehr so an. Durch die mehr oder weniger durch ihn beeinflußte Wandlung in den MfS-Analysen war der Weg für die Ambitionen des Partei- und Staatschefs der DDR frei. Hubertus Knabe behauptet, daß die Anti-Wehner-Kampagne unter Federführung des ZK der SED auf persönliche Weisung Honeckers 1978 eingestellt worden sei.82 Das stimmt nicht ganz. Denn bereits Ende März 1977 war das IML von »höherer Stelle« informiert worden, daß »bis auf Widerruf« nichts mehr über einen Verrat Wehners in Publikationen gebracht werden sollte.83 Diese Anweisung hatte eine Korrektur im sechsbändigen Standardwerk der DDR-Weltkriegsforschung zur Folge, in dem noch im Jahre 1975 die Verratsthese dominiert hatte.84 Auch in der Redaktion für den zweiten Band der »Geschichte der SED« – nicht zuletzt durch eine Arbeitsberatung mit Kurt Hager am 15. Juni 1978 – wurde gesichert, daß es künftig lediglich um den Sachverhalt des Wehnerschen Parteiausschlusses und seiner Begründung ohne die alten Zuspitzungen gehen sollte. Von nun an waren Gutachter für neue Memoiren und andere Veröffentlichungen bestrebt, alte Lesarten zu revidieren.
Auch das MfS förderte die neue Linie. In einer Stellungnahme zum Beitrag »Ein Mensch namens Wehner – der Versuch eines Portraits« in der Sendung »Monitor« der ARD vom 5. November 1978 wurde die Darstellung akzeptiert, daß Wehner vor der schwedischen Polizei und Justiz »keine Genossen der KPD verraten« habe und somit die vor Jahren gegen ihn erhobenen Vorwürfe »ungerechtfertigt« seien. Dies könne »nicht widerlegt werden«.
Dagegen hieß es in einem Gutachten vom 4. Dezember 1978 über die Rolle von Karl Mewis, daß dessen Aussagen vor der Polizei in Schweden und dessen Angaben nach dem Kriege »wesentlich in ihrer Darstellung voneinander abwichen«, insbesondere in seinem Buch »Im Auftrag der Partei« aus dem Jahre 1972.85
In seinen Erinnerungen »Aus meinem Leben«, im Auftrag Mielkes von Mitarbeitern des MfS vorbereitet und in kurzer Zeit von zuverlässigen Fachhistorikern verfaßt, überraschte dann der erste Mann von Partei und Staat der DDR im Jahre 1980 die Öffentlichkeit mit Lobpreisungen auf seinen »Lehrmeister« Herbert Wehner und der Wertschätzung dessen Rolle im antifaschistischen Widerstandskampf – nicht nur in der gemeinsamen Arbeit im Abstimmungskampf an der Saar.86 Im Buch von Hubertus Knabe über »Die unterwanderte Republik« bleibt die gravierende Weichenstellung durch Erich Honeckers Erinnerungen, der Zusammenhang mit den Stasi-»Beweisrevidierungen«, gänzlich ausgeklammert. Erst Honeckers Erinnerungen führten in der DDR die endgültige Zäsur im öffentlichen Umgang mit Wehner herbei. Dies löste anfänglich manche Irritationen sogar im Parteiapparat und bei den in der propagandistischen Arbeit Tätigen aus. Doch Verstöße gegen die neue Linie87 wurden nicht zugelassen, sondern strikt geahndet. Nicht zuletzt die Rolle des MfS im Wechselbad der Wehner-Odyssee zeugt davon, wie skrupellos auch die Geschichte des antifaschistischen Widerstandes politisch mißbraucht und ständig umgefälscht wurde.
Obwohl sämtliche Veröffentlichungen zu Herbert Wehner dem Leitinstitut für Marxismus-Leninismus und – informell dem MfS – zur Überprüfung vor der Drucklegung vorgelegt werden mußten, lief im Jahre 1987 etwas schief. Am 26. Mai 1987 erhielt der zuständige Sekretär des Politbüros, Kurt Hager, vom Minister für Staatssicherheit der DDR, Erich Mielke, nach vorheriger mündlicher Rücksprache eine Stellungnahme zum soeben im Akademie-Verlag erschienenen Buch »Widerstand 1939-1945«. Autor war Klaus Mammach, ein Historiker am Zentralinstitut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR, der Jahre zuvor Mitarbeiter im IML gewesen, dort gemaßregelt und entlassen worden war. Als Stein des Anstoßes galten Passagen im zweiten Absatz auf Seite 151. »Die Behauptung von Mammach, daß die Kontakte zwischen der Landesleitung und der Auslandsleitung in Stockholm aufgrund des Verhaltens und der Aussagen von Wehner aufgegeben werden mußten, widerspricht somit ebenfalls parteihistorisch gesicherten Erkenntnissen«. In zwei vorangestellten Eckpunkten hatten die Zensoren des MfS auf ihre Einschätzungen im Gutachten vom 18. Mai 1978 zurückgegriffen. Die neue Stellungnahme war mit der Kategorie »Streng geheim! Zur persönlichen Auswertung!« versehen.88
In den vom Leiter der Hauptabteilung IX, Generalmajor Fister, am 22. Mai 1987 an den Minister zugestellten Recherchen wurde weiterhin moniert und empfohlen: »Das Buch von Klaus Mammach ›Widerstand 1939-1945‹ wird, wie festgestellt, weiterhin im Buchhandel der DDR angeboten. Es wird deshalb vorgeschlagen, neben der bereits angeregten parteimäßigen Auswertung eine Rezension in der Zeitschrift ›BZG‹ durch einen sachkundigen Historiker des IML zum Buch von Klaus Mammach zu veröffentlichen, die eine kritische Wertung des gesamten Buches vornimmt«.89
Allerdings kamen Mielkes Historienwächter diesmal etwas zu spät. Das IML war noch schneller gewesen. Bereits am 12. Mai 1987 hatte dessen stellvertretender Direktor Ernst Diehl seinen ZK-Sekretär Kurt Hager informiert: »Soeben ist eine geschichtliche Darstellung ›Widerstand 1939-1945‹ aus der Feder von Prof. Dr. Klaus Mammach, Zentralinstitut für Geschichte der AdW der DDR, im Akademie-Verlag erschienen.
Leider wird in dieser Veröffentlichung nach langer Zeit wieder die These vom Verrat Wehners nach seiner Festnahme durch die schwedische Polizei im Februar 1942 wiedergegeben (siehe Kopie). Das Manuskript des Buches, das auch eine Reihe anderer Probleme aufwirft, war in unserem Institut nicht begutachtet worden«.90
Im Wettlauf um das Ohr des SED-Generalsekretärs verfügte Ideologiesekretär Hager über den kürzesten Weg. Per Hausmitteilung unterrichtete er Honecker am 13. Mai 1987 »leider über eine unangenehme Angelegenheit« und gab die oben zitierte Mitteilung Ernst Diehls wieder. Er legte folgende »Verfehlungen« und Maßnahmen dar: »Die von mir veranlaßte sofortige Überprüfung hat ergeben: Das Buch lag entgegen dem geltenden Beschluß nicht zur Begutachtung dem Institut für Marxismus-Leninismus vor. Gutachter waren zwei Professoren des Zentralinstituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Die Druckgenehmigung wurde von der HV-Verlage erteilt, ohne das Institut für Marxismus-Leninismus zu konsultieren, wie das sonst bei ähnlichen Publikationen immer der Fall war. Gerade die Darstellungen über Herbert Wehner wurden immer sorgfältig überprüft.
Von dem Buch sind bisher 11.000 Exemplare ausgeliefert; davon 2.000 Exemplare in der BRD für den Verlag Pahl Rugenstein. Es sind noch 4.100 Exemplare Bestand in Leipzig vorhanden, deren Auslieferung von uns gestoppt wurde. Eine Zurücknahme der Bücher aus dem Buchhandel halten wir jedoch nicht für zweckmäßig, da damit die ganze Angelegenheit unter Umständen erst publik würde.
Wir werden veranlassen, daß im Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR sowie in der HV-Verlage eine parteimäßige Auswertung der Vorgänge erfolgt«.
Noch am gleichen Tag versah der Generalsekretär des ZK den Erledigungsvermerk mit seinem markanten Kürzel »EH«.91 Die aufgeschreckten MfS-Majore Schumacher und Schwips von der Hauptabteilung IX/11 holten am 25. Mai im IML weitere Erkundigungen ein und besprachen mit einem dortigen »sachkundigen Historiker« den öffentlichen Verriß des gesamten Mammachschen Buches. Der Institutsexperte bekräftigte, daß dieses in mehreren Sachdarstellungen, darunter zum angeblichen Verrat Wehners, »weit hinter dem gegenwärtigen Erkenntnisstand zurückbleibe«. Die Ursache sei, was sich bereits im vorangegangenen Titel »Widerstand 1933-1939« zeige, daß Veröffentlichungen und Forschungsergebnisse vergangener Jahre völlig unkritisch übernommen und seitenlang fast wörtlich abgeschrieben würden und darüber hinaus sich »auch wenig politisches Verantwortungsbewußtsein zeige«. Eigenes Quellenstudium sei offensichtlich nicht betrieben worden. »Eine kritische Rezension dieses Buches halte er zwar für erforderlich, aus politischen Gründen jedoch auch äußerst schwierig. Auch könne eine offene Distanzierung von Klaus Mammach und seiner Arbeitsweise erst dann erfolgen, wenn gegen ihn parteierzieherische Maßnahmen durchgeführt würden«.92
Damit schloß sich der Kreis der repressiven Dreieinigkeit zwischen oberster Parteiführung der SED, ihrem MfS-Schild und Schwert und dem historischen Leitinstitut. Aber mit der totalen parteimäßigen und beruflichen Bestrafung von Abweichlern gegen die jeweilige offizielle Geschichtslinie kam man im Zeichen von Gorbatschow-Euphorie nicht mehr durch. Die Grundorganisation der SED im Akademie-Geschichtsinstitut lehnte nach dramatischen Auseinandersetzungen den geforderten Parteiausschluß ab und ließ es bei der geringsten »parteierzieherischen Maßnahme« bewenden.93 Damit wurde auch verhindert, daß Klaus Mammach seinen Professorentitel verlor. Im Jahre 1987 funktionierte der Kontroll- und Bestrafungsmechanismus auf ideologisch-wissenschaftlichem Gebiet nicht mehr reibungslos.
Unterzieht man die scheinbar anrüchigen Passagen bei Klaus Mammach94 einer unvoreingenommenen Betrachtung, dann stellt man fest, daß in ihnen die Rede von Aussagen Herbert Wehners vor der schwedischen Polizei nach seiner Festnahme ist. Es werden auch strittige Folgen benannt. Der Begriff Verrat taucht überhaupt nicht auf. Im Grunde genommen ging es den Scharfmachern darum, daß jegliche wissenschaftlich notwendige Diskussion zur Aufhellung der Probleme der Stockholmer KPD-Auslandsleitung und damit der Rolle Herbert Wehners unerwünscht war und normale Differenzen zwischen wissenschaftlichen Auffassungen dazu strikt unterbunden werden sollten. Es durfte am gewendeten, nunmehr makellosen Wehner-Bild in der DDR keinerlei Abstriche geben – so wie zuvor jahrzehntelang am Bild von Wehner als Verräter. Und zwar beide Male aus politischen Gründen.
Die Deutungen über Wehners Aussagen und Verhalten in schwedischer Haft führen jedoch bis in die Gegenwart am eigentlichen Problem vorbei. Es sei dahingestellt, ob der spätere »Zuchtmeister« der SPD, Herbert Wehner, einst von der schwedischen Staatspolizei in Unterhosen unter dem Bett von Frieda Wagner hervorgeholt worden ist und diese seine Geliebte war oder lediglich eine Bekannte, die er unterstützen wollte, und ob sogar sowjetische Stellen in Schweden ihr Spiel trieben. Wie bereits im Falle seines KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann war die Verhaftung Herbert Wehners ebenso vermeidbar! Darin besteht ein Versagen beider – als Folge ihres leichtsinnigen, unkonspirativen Verhaltens. Erst dadurch entstanden die Probleme.
Das MfS griff bis zuletzt in die Geschichtsschreibung in der DDR auf vielfältige Weise ein. Insbesondere die Parteigeschichtsschreibung wurde nach dem Willen der jeweiligen SED-Generalsekretäre Ulbricht und Honecker gesteuert, die sich zugleich für die ersten Historiker des Landes hielten. Eigene Eitelkeiten und politische Prämissen führten zu manchen wechselnden und sogar ganz gegenteiligen Umfrisierungen. Auch blieb es bei Tabus und »weißen Flecken«. Vor allem die Verhaftung Ernst Thälmanns, der »Fall Kattner« und das Problem »Wehner – Wotan« galten als besonders heiße Eisen, die entsprechend gehandhabt wurde. Das MfS spielte in dieser Hinsicht bei der Überwachung, Reglementierung und Manipulierung der betreffenden Geschichtsdarstellungen eine gravierende Rolle.
Insofern ist der Mielke-Biographin Wilfriede Otto zuzustimmen, daß der Herrscher über den »Staat im Staate« – Erich Mielke – auch Herr sein wollte »in zentralen Fragen der Geschichte, insbesondere zur antifaschistischen, kommunistischen und sozialistischen Bewegung … über Wahrheiten, Legenden und Lügen«.95
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Ronald Sassning – Jg. 1934, Dr. sc. phil., 1990-1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Bundesschiedskommission der PDS zur Rehabilitierung von Opfern des Stalinismus in der UdSSR und DDR; Publikationen zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges und der KPD sowie zu Biographien antifaschistischer Widerstandskämpfe
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1 Ronald Sassning: Thälmann, Wehner, Kattner, Mielke. Schwierige Wahrheiten, in UTOPIE kreativ, Heft 114 (April 2000), S. 362-375. Von 1967 bis zum Ende der DDR erfolgten Recherchen zu 68 Personen, die wegen Nazi- und Kriegsverbrechen verurteilt wurden. Erstmals werden von Wilfriede Otto in der neuesten Mielke-Biographie im Abschnitt »Vermischte Geschichtsbilder« einige Aspekte der politischen Funktion der Abteilung 11 der MfS-Hauptabteilung IX dargelegt; vgl. Wilfriede Otto: Erich Mielke – Biographie. Aufstieg und Fall eines Tschekisten, Berlin 2000, S. 394-408. Die Verfasserin stellt fest, daß »ein Gesamtbild über das Wirken der Abteilung und ihrer Einbindung in übergeordnete Belange und Beschlüsse« noch nicht erforscht sei, in der Endkonsequenz aber sicher »zwiespältig« ausfallen würde (S. 399). Über die Befugnisse und Aufgaben eines staatlichen Untersuchungsorgans seitens der Hauptabteilung siehe S. 380, Anm. 114. In dieser Hinsicht verstehen sich die Beiträge des Autors in Heft 114 und in diesem Heft von UTOPIE kreativ als Ergänzungen der Mielke-Biographie. 2 Vgl. ebenda; MfS-HA IX/11, SV 1/81, Bd. 302; RHE V 9/62, Bd. 4. 3 Deutschlands unsterblicher Sohn. Erinnerungen an Ernst Thälmann, Berlin 1961, S. 397-399. 4 BStU, ZA, MfS III, 1919/69 Bd. I. 5 Hermann Dünow: Wie Ernst Thälmann verhaftet wurde, in: Neues Deutschland, 16. April 1966, S. 3. Ausführlich beschrieben wurde die Anmietung des Jagdhauses »Horrido« bei Grunow (Märkisch-Buckow) über einen Kunsthändler. Als Verantwortlicher für die zentrale illegale Quartierbeschaffung der KPD hatte Dünow daran mitgewirkt. 6 Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 5, Berlin 1966, S. 26. 7 Vgl. BStU, ZA, MfS-HA IX/11, SV 1/81, Bd. 246. Einschließlich dieses Materials war über Hermann Dünow eines der umfassendsten streng geheimen Stasi-Dossiers angelegt worden entsprechend dem »Suchauftrag« des HA IX/11-Mitarbeiters Czeploch. 8 Von 1953 bis 1955 »SfS«: Staatssekretariat für Staatssicherheit im Ministerium des Innern. 9 BStU, ZA, MfS-HA IX/11, SV 1/81, Bd. 246, Bd. 267, Bd. 297; BStU, ZA, 11968/71. 10 Vor der Gestapo beteuerte Hermann Dünow, daß er den richtigen Namen des KPD-Sekretariatsleiters »Sicht« nicht angeben könne. Die NS-Justizbehörden ermittelten, daß sich der Leiter von »Sicht« früher »Herbert« und später »Wicht« genannt habe, seine wahre Identität jedoch nicht feststehe. »Er soll aber aus dem Ruhrgebiet stammen, von kleiner Statur und an einer blauen Narbe auf der Nase, wie sie öfter bei Bergleuten wahrzunehmen sind, besonders kenntlich sein«, ebenda, Bd. 297. Auch in den Stasi-Aufzeichnungen wird tunlichst der Klarname »Sichts« durch Dünow und »Fritz« bis zu den Hauptinteressierten Beater und Mielke vermieden. 11 BStU, ZA, MfS-HA IX/11, SV 1/81, Bd. 246. Noch auf der Delegiertenkonferenz der Parteiorganisation des MfS Anfang Juli 1958 in Vorbereitung des V. Parteitages der SED hatte der inzwischen zum Minister aufgestiegene Erich Mielke die unzureichende Arbeit mit den Geheimen Informatoren gerügt, von denen sich nach der Anwerbung zu viele wieder absetzen würden. »Wie wollen wir diese große Lehre, wenn wir sagen, unser Haus zu schützen, realisieren. Wenn das so aussieht, schaffen wir das nicht … Unsere Informatoren sind das Hauptinstrument, um uns zu befähigen, dass wir diese Fragen, wie angeführt, lösen.« (Wilfriede Otto: Erich Mielke, S. 268f.) Kurios, daß ausgerechnet sein eigener hocheingeschätzter GI »Altmann« drei Monate später ausschied, weil für den Minister angeblich nicht allzuviel herausgekommen war. 12 Vgl. Wolfgang Kießling: »Leistner ist Mielke«. Schatten einer gefälschten Biographie, Berlin 1998, S. 73ff., S. 95ff., S. 176ff., S. 229ff., S. 258ff; Wilfriede Otto: Erich Mielke, S. 130ff., S. 180. 13 BStU, ZA, MfS-HA IX/11, SV 1/81, Bd. 246. 14 Ebenda. Im MfS monierte man ebenfalls, daß in der Publikation »Für ein sozialistisches Vaterland« (Berlin 1981, S. 35-69) die »Fähigkeiten des Genossen Dünow stark überbewertet« würden. »Er war der Verantwortliche für die Sicherheit des Genossen Thälmann, konnte jedoch diese Aufgabe nicht bewältigen. Dünows Verhaftung war nur auf Grund der Tatsache möglich, daß die Hauptregeln der Konspiration vollkommen außer acht gelassen wurden«, vgl. ebenda, Bd. 96. Vermutlich hatte jedoch der 1973 Verstorbene in der höchsten DDR-Spitze bei Wilhelm Pieck und Willi Stoph einen Stein im Brett, wahrscheinlich auch auf Grund seiner engen Kontakte zu Oberst Tulpanow, dem Leiter Information der SMAD. 15 Ebenda; BStU, ZA, 11968/71. 16 Ebenda, MfS-HA IX/11, SV1/81, Bd. 267. 17 Hinweis von Fred Bruder (Berlin) aus der Kaderakte Hans Pfeiffer, SAPMO-BArch., DY 30/IV, 2/11/ v. 713. 18 BStU, ZA, MfS-HA IX/11, SV 1/81, Bd. 246, Bd. 267. 19 Persönlicher Lebenslauf von Karl Langowski vom 8. Februar 1957, BStU, ZA, MfS-HA IX/11, SV 1/81, Bd. 267. 20 Ebenda, Bd. 267. 21 So ebenfalls bei dem zeitweilig in der DDR »kaltgestellten« Thälmann-Kurier Walter Trautzsch, der wahrscheinlich – wie Dünow – im Jahre 1954 durch das MfS angeworben wurde. 22 Ausführlicher vgl. Ronald Sassning: die Verhaftung Ernst Thälmanns und der »Fall Kattner«, hrsg. vom Verein »Helle Panke«, Reihe »Pankower Vorträge«, H. 11/1, Berlin 1998, S. 30ff; H. 11/2 (Zweite, überarbeitete und ergänzte Auflage), Berlin 1999, S. 71ff. 23 Zit. nach BStU, ZA, MfS-HA IX/11, SV 1/81, Bd. 6. 24 Vgl. Ronald Sassning: Thälmann, Wehner, Kattner, Mielke, a.a.O., S. 371ff. 25 Im Zuge der Illegalitätsvorbereitungen seit Herbst 1932 waren die 28 KPD- Bezirke zu acht Oberbezirken mit jeweils einem Oberberater zusammengefaßt und die Anzahl der ZK- Abteilungen von 13 auf vier verringert worden. Von den Komplikationen bei der Umstellung zeugt, daß beispielsweise die Neustrukturierung der Berliner Organisation in 100 bis 120 »Liliput«-Kleineinheiten oder die Zusammenfassung der Parteiaktivisten in Fünfergruppen noch während der Legalität zunächst mehr verwirrten als sie der Kampfkraft nützten. 26 Als neueste Publikation vgl. unter anderem Klaus Kinner: Der deutsche Kommunismus. Selbstverständnis und Realität, Bd. 1, Die Weimarer Zeit, Berlin 1999, insbesondere S. 202ff. Zu einigen strittigen Feststellungen (S. 221f. und bereits in der Ausgabe der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V.) vgl. Ronald Sassning: Die Verhaftung Ernst Thälmanns und der »Fall Kattner«, a.a.O., H. 11/2, S. 72f. 27 Herbert Wehner: Zeugnis, Köln 1982, S. 50. 28 Alexander Abusch: Der Deckname. Memoiren, Berlin 1981, S. 292. 29 Zitiert nach BStU, ZA, MfS-HA IX/11, SV 81, Bd. 291. 30 Vgl. in Auswertung verschiedener Quellen Ronald Sassning: Die Verhaftung Ernst Thälmanns und der »Fall Kattner«, H. 11/1, a.a.O., insbesondere S. 63; ferner gleichartige Erkenntnisse im Forschungskapitel 5 des MfS, in: BStU, ZA, MfS-HA IX/11, SV 1/81, Bd. 6. 31 Vgl. BStU, ZA, MfS-HA VII, Nr. 73. Mielke brüstete sich, daß das MfS in der DDR alle Archive unter Kontrolle genommen habe. Vgl Wilfriede Otto: Erich Mielke, S. 130ff., S.450. 32 Vgl. BStU, ZA, RHE V 9/62 Bd. 1. 33 Vgl. BStU, ZA, MfS-HA IX/11, SV 1/81, Bd. 308. 34 Hätte schon die Paßpanne vermieden werden können, so entbehrten die zermürbenden Verdächtigungen und seine zeitweilige Maßregelung durch die SED jeglicher Grundlage. Denn dieser hatte vom zuständigen Pariser Sekretariatsmitglied Franz Dahlem bei einer eventuellen Verhaftung die Variante zugebilligt bekommen, pro forma auf eine Anwerbung der Gestapo einzugehen, um wieder frei zu kommen, was ihm bereits am 23. Februar 1939 gelang; vgl. BStU, ZA, MfS HA IX/11, SV 1/81, Bd. 246. Zur Rolle und zum Schicksal des »Thälmann-Kuriers« vgl. Anette Leo und Peter Reif-Spirek (Hrsg.): Helden, Täter und Verräter. Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 1999, S. 127ff., ebenfalls S. 171. Die inhaltliche Auswertung der Kurierberichte erfolgte höchst einseitig. 35 Vgl Wilfriede Otto: Erich Mielke, S. 130ff., S. 399f. 36 Vgl. Ernst Thälmann. Eine Biographie, Berlin 1979, S. 661f. 37 Franz Dahlem: Am Vorabend des zweiten Weltkrieges. Erinnerungen, Bd. 1, Berlin 1977, S. 185. 38 Vgl. Günther Hortzschanski, Walter Wimmer: Ernst Thälmann. Kleine Biographie, Berlin 1988, S. 257. 39 Vgl. Ernst Thälmann. Bilder, Dokumente, Texte, Berlin 1986, S. 326f, S. 402. 40 Lothar Berthold: Wider die Anti-Thälmann-Kampagne, in: Marxistische Blätter, 2/1997, S. 99 ff; derselbe: An Stalin, in: Die Rote Fahne 8/1997. 41 Dies schlug sich ebenfalls in einer in Neues Deutschland veröffentlichten Debatte zum aktuellen Umgang mit Ernst Thälmann nieder. Vgl. Neues Deutschland, 26. September sowie 10., 17., 21. und 24. Oktober 1997. Bei Hermann Weber findet sich dazu eine differenzierte Bewertung in: IWK. Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 2/1997, S. 233f. 42 Vgl. Rundbrief Freundeskreis »Ernst-Thälmann-Gedenkstätte Ziegenhals« e.V., November 1999. 43 Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der PDS, H. 9/1999, S. 27. Dies bezieht sich auf den Artikel des Autors »Teddys Hoffnung auf Freiheit«, in: Neues Deutschland, 18. August 1999, Seite 3. Dem gingen bereits massive Angriffe gegen die KPD-Forschungen von Prof. Dr. Klaus Kinner (Leipzig) im Jahresbericht 1998 des Vorsitzenden des Freundeskreises »Ernst-Thälmann-Gedenkstätte Ziegenhals« e.V. voraus. 44 Vgl. unter anderem Fred Bruder: Neue Erkenntnisse über die Tagung in Ziegenhals 1933. »Sportlertreffen« bei Mörschel, in: Neues Deutschland, 5./6. Februar 2000, S. 15; ders.: Ein unbekannter Zeitzeuge. Wilhelm Mörschel duldete auf Wunsch Otto Frankes die »Sportlertreffen«, in: Märkische Allgemeine, 14. März 2000, S. 15. 45 Vgl. BStU, ZA, MfS-HA IX/11, SV 1/81, Bd. 9. 46 Ebenda. 47 Ebenda sowie Bd. 96. 48 Ebenda, Bd. 9. 49 Ebenda. 50 Vgl. ebenda, Bd. 246. Aufgrund der Wendeereignisse erfolgte die Herausgabe dieses 2. Bandes nicht mehr. 51 Ebenda, Bd. 9. Auf diese Vorarbeiten konnten sich dann die Autoren der Dietz-Ausgabe »Der Nachrichtendienst der KPD 1917-1937« aus dem Jahre 1993 stützen, von denen bereits zwei Mitverfasser des genannten MfS-Projektes waren. 52 Vgl. BStU, ZA, MfS-HA IX/11, SV 1/81, Bd. 6; BStU, ZA, MfS-HA IX, Nr. 17324. 53 Vgl. Ronald Sassning: Thälmann, Wehner, Kattner, Mielke, a.a.O., S. 370. 54 Geschichte der Militärpolitik der KPD 1918-1945 (Autorenkollektiv unter Leitung von Prof. Dr. sc. Paul Heider), Berlin 1987, S. 289. 55 BStU, ZA, MfS-HA IX/11, SV 1/81, Bd. 181. 56 Franz Dahlem: Am Vorabend des zweiten Weltkrieges, Bd. 1, S. 185. Bis zu seinem Tod hat Dahlem weitere Materialien dazu gesammelt. 57 BStU, ZA, MfS-HA IX/11, SV 1/81, Bd. 9. 58 Ebenda. 59 Mündliche Auskünfte von Prof. Dr. sc. Paul Heider (Potsdam) am 11. und 12. Januar 2000. Dieser war damals einer der drei Gutachter und erlebte zugleich als Lehrstuhlleiter für Geschichte der Arbeiterbewegung an der Militärakademie die genannten Vorgänge, die Irritationen auslösten. Die Hintergründe waren nach außen nicht bekannt, aber es gab bestimmte Vermutungen in Richtung MfS, da dieses durch Fragereien bereits aufgefallen war. 60 Zu Hintergründen und Täterschaft vgl.Wilfriede Otto: Erich Mielke, S. 23ff.; 41ff; 359f.; 429. Auch Alfred Kattner war als Zeuge im Bülowplatz-Prozeß der NS-Machthaber vorgesehen (S. 39). 61 Was insgesamt die Entwicklung der Faschismus- und Widerstandsforschung in der DDR betrifft, so ist dem Potsdamer Historiker Kurt Finker zuzustimmen, daß es einen Prozeß der differenzierten Darstellung des Widerstandes gegen das Hitlerregime gegeben hat, der mit manchen Tabus brach. (Vgl. Kurt Finker: Der antifaschistische Widerstand im Geschichtsbild und Geschichtsforschung der DDR. Schriftenreihe der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V. ) Dies schließt ein, daß selbst SED-Politbüro-Mitglied Kurt Hager auf eine noch umfassendere Darlegung der Stalinschen Repressalien gegen deutsche Kommunisten in der Sowjetunion drängte, als dies erstmals in den Thesen des ZK der SED zum 70. Jahrestag der Gründung der KPD aus dem Jahre 1988 angeklungen war. Zur Rolle Mielkes bei der Beschaffung entsprechender Opferlisten aus der UdSSR vgl.Wilfriede Otto: Erich Mielke, S. 405f. 62 Vgl Thilo Gabelmann: Thälmann ist niemals gefallen? Eine Legende stirbt, Berlin 1996. 63 Vgl. Reinhard Müller: Die Akte Wehner, Berlin 1993, S. 278; zuvor Hartmut Soell: Der junge Wehner, Stuttgart 1991, S. 307; Erich Selbmann: Der Große Coup, Berlin 1998, S. 67; Karl Schirdewan: Ein Jahrhundert Leben. Erinnerungen und Visionen, Berlin 1998, S. 45, S. 87 sowie andere. Eine Darlegung mit Ungenauigkeiten und falschen Aussagen findet sich bei Werner Bethge im Sammelband: Verfolgung. Alltag. Widerstand. Brandenburg in der NS-Zeit. Studien und Dokumente, Berlin 1993, S. 364f. Erstmals zutreffende, knappe Hinweise auf die Rolle Kattners siehe: Der Nachrichtendienst der KPD 1918-1937, Berlin 1993, S. 285f., S. 288, S. 315, S. 343. Dagegen wird dessen Rolle in gediegenen Neuerscheinungen ausgeklammert wie bei Michael Schneider: Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999 und Allan Merson: Kommunistischer Widerstand in Nazideutschland, Bonn 1999 (englische Originalausgabe allerdings bereits 1985). Der letztgenannte Autor führt die Verhaftung Ernst Thälmanns noch immer auf einen möglichen Verrat zurück, erwähnt lediglich die Festnahme Thälmanns und einiger Mitarbeiter. Er erklärt die rasche Verhaftung der kommunistischen Funktionäre lediglich damit, daß die Polizei seit Anfang der dreißiger Jahre vorbereitete Einsatzpläne und Namenslisten nutzen konnte (S. 53). 64 Vgl. die diesbezügliche MfS-Recherche in: BStU, ZA, MfS-HA IX/11, AS 95/65, Bd. 2. 65 Vgl. Ronald Sassning: Thälmann, Wehner, Kattner, Mielke, a.a.O., S. 375. 66 Das MfS war ebenfalls im Besitz der Abschrift des Ausschlußbeschlusses an die Kaderabteilung der Komintern, vgl. BStU, ZA, MfS-HA IX/11, AS 95/65, Bd. 29. 67 Vgl. Markus Wolf: Spionagechef im Kalten Krieg. Erinnerungen, München 1997, S. 195 ff, insbesondere S. 204; Hubertus Knabe: Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen, Propyläen-Verlag Berlin 1999, S. 172f. 68 Hubertus Knabe: Die unterwanderte Republik, S. 153ff. 69 Ders.: Westarbeit des MfS, Christoph Links Verlag Berlin 1999. 70 Vgl. unter anderem Die Welt vom 17. Juli 1999, S. 2; Berliner Zeitung vom 24./25. Juli 1999, S. 9; Neues Deutschland vom 11./12. Dezember 1999, S. 8, Letzteres meinte in einer Kolumne vom 9. Oktober 1999 zum Titel »Westarbeit des MfS«, daß dieser nicht einmal unter Wissenschaftlern und Spezialisten, für die das »Werk« bestimmt sei, ein »Renner« würde. »Denn es stellt nur die aufgehübschte Fassung eines Berichts der Behörde für die Enquête-Kommission des Bundestages dar, der seit April 1998 (!) vorliegt. Knabe hat deshalb dieselben MfS-Akten ein zweites Mal vermarktet.« 71 Hubertus Knabe: Die unterwanderte Republik, S. 178. 72 Vgl. Focus Nr. 39 vom 27. September 1999, S. 15. So übernommen ebenfalls durch die Berliner Zeitung vom 27. September 1999, S. 8 und gleichzeitig Neues Deutschland, S. 4. 73 Markus Wolf: Spionagechef im Kalten Krieg, S. 201ff. 74 Ebenda, S. 55 ff, S. 61f., S. 202. 75 BStU, ZA MfS HA IX/11, AS 95/65, Bd. 1. Im Jahre 1967 war das MfS zu einer niederschmetternden Erkenntnis über Stahlmanns Falschaussagen gelangt, und daß vielmehr Karl Mewis vor der schwedischen Polizei schwerwiegend geplaudert hatte. 76 Vom politisch determinierten Wechselspiel des MfS mit jähesten Wendungen zeugt beispielsweise, daß angesichts des zunächst im Frühjahr 1966 angestrebten Dialogs zwischen SED und SPD die Attacken gegen Wehner zeitweilig eingestellt wurden. Um den Abbruch zu rechtfertigen, mußten erneute Vorwürfe herhalten, obwohl im August in einem umfassenden Zwischenbericht keine Belege für Todesfolgen durch »Verrat« Wehners erbracht werden konnten. Als dann Wehner Ende 1966 zum Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen avancierte, schlug die Hauptabteilung IX/11 in einem Informationsbericht vom 20. Dezember 1966 wieder zu und versuchte, diesen als V-Mann der Gestapo-Zentrale zu diffamieren. Er habe »feigsten und erbärmlichsten Verrat begangen, der in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung seinesgleichen sucht, der beispiellos ist, und hunderte von Menschen den Gestapokerkern und nachweisbar 31 Antifaschisten dem Tode überantwortet«. Wehner sei bereits vor 1933 von der deutschen Polizei und dann danach vom tschechoslowakischen bzw. englischen Geheimdienst als »Agent in der Arbeiterbewegung« angeworben worden. BStU, ZA, MfS-HA IX/11, AS 95/65, Bd. 1. 77 Aktenvermerk durch Oberstleutnant Stolze vom 8. Mai 1978, in: BStU, ZA, MfS-HA IX/11, AS 95/65, Bd. 2. 78 Bericht über die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchungen zur Handlungsweise und zum möglichen Verrat Wehners in Schweden vom 18. Mai 1978, in: ebenda. 79 Aktennotiz durch Oberstleutnant Stolze vom 19. Mai 1978, in: ebenda. 80 Vgl. auch den Wehner-Biographen Hartmut Soell: Der junge Wehner, Stuttgart 1991, S. 480ff. 81 Vgl. Ronald Sassning: Thälmann, Wehner, Kattner, Mielke, a.a.O., S. 371. 82 Hubertus Knabe: Westarbeit des MfS, S. 160; derselbe: Die unterwanderte Republik, S. 178. 83 Mündliche Information des Autors durch Prof. Dr. Heinz Kühnrich (Berlin) vom 16. November 1999. 84 Vgl. Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Wolfgang Schumann und Karl Drechsler, Bd. 2., Berlin 1975, S. 542f. 85 BStU, ZA MfS-HA IX/11, AS 95/65, Bd. 2. 86 Erich Honecker: Aus meinem Leben, Berlin 1980, S. 77, S. 81;. Wilfriede Otto: Erich Mielke, S. 401. 87 Andere Verrats-Legenden, die nicht wie bei Wehner von aktueller politischer Bedeutung waren, hielten sich bedeutend länger. Erst die beargwöhnten Artikel von Heinz Kühnrich (Professor am Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung) im Jahre 1989 trugen dazu bei, endlich die Verratsbeschuldigungen und das jahrzehntelange Schweigen über die wichtige Rolle Wilhelm Knöchels, der in den Jahren 1942/43 bis zu seiner Verhaftung faktisch Inlandsleiter der illegalen KPD-Organisationen gewesen war, zu beenden. 88 BStU, ZA, MfS-HA IX/11, AS 95/65, Bd. 2. 89 Ebenda. 90 Ebenda. 91 Ebenda. 92 Ebenda. 93 Mündliche Schilderung von Dr. Jörn Schütrumpf (Berlin) über die damaligen Ereignisse als Beteiligter. 94 Vgl. Klaus Mammach: Widerstand 1939-1945. Geschichte der deutschen antifaschistischen Widerstandsbewegung im Inland und in der Emigration, Berlin 1987, S. 151. Allerdings ist die Pauschalisierung, daß die Auslandsleitung aus Sicherheitsgründen ihre Tätigkeit eingestellt hätte, so nicht ganz zutreffend. 95 Wilfriede Otto: Erich Mielke, S. 403. Das MfS konnte nicht nur partielle Grenzen setzen für die parteioffizielle zeitgenössische Geschichtsschreibung, wie Wilfriede Otto an anderer Stelle meint (S. 406), seine Einflußmöglichkeiten waren weit größer |