UTOPIE kreativ, H. 115/116
(Mai/Juni 2000),
S. 437-442Der Münsteraner Parteitag und seine mediale Interpretation haben die Erfolgskrise der PDS sichtbar gemacht. »Erfolgskrise« meint nicht, daß nach dem Erfolg die Krise kommt, sondern daß der Erfolg selbst krisenhaft war, daß die Art und Weise, wie die Erfolge zustande kamen, fast notwendig in einer Krise enden mußte. Wie tief diese Krise geht und welche Chancen sie birgt, wird auszuloten sein. Die Interpretation der Krise ist immer auch selbst ein Teil von ihr.
Mit dem Naheliegendsten beginnend: Seit über zwei Jahren sind die Rückzugsabsichten von Gregor Gysi bekannt, ähnlich verhält es sich bei Lothar Bisky. Und unabhängig von persönlichen Absichtserklärungen verhält es sich so, daß bewährtes Führungspersonal abtritt, zum Beispiel weil die historische Aufgabe erfüllt ist. Zu den Krisenphänomenen zählt, daß so gut wie nichts getan wurde, um den Wechsel im Führungspersonal und der Repräsentanten der Partei auf Bundesebene vorzubereiten, auch die Abtretenden wenig Zeit und Energie darauf verwendeten, das Feld zu bestellen, was immerhin zur Leitungsverantwortung zählt. In der Personalfrage verharrte »die Partei« wie das Kaninchen vor der Schlange, schlitterte sehenden Auges in die Führungskrise. Nicht die Personalfrage, sondern die Abwesenheit von politischer Problembewältigungsfähigkeit charakterisiert ein Krisenmoment.
Der Verzicht von Lothar Bisky und Gregor Gysi markiert das Ende einer zehnjährigen Entwicklungsphase der PDS: Die Chance, daß eine deutsche demokratisch-sozialistische Partei entsteht, ist etabliert.
Jetzt kommt es darauf an, diese Chance zu nutzen oder zu verspielen. Die demokratisch-sozialistische Partei in Deutschland ist die PDS noch nicht. Stellvertretend für viele andere diese These stützende Belege mag auf die interessante Tatsache verwiesen sein, daß in der gesamten Debatte um das Für und Wider eines neuen Programms kaum jemand darauf verwies, daß allein die ersten beiden Sätze des gültigen Programms ein neues Programm erforderlich machen: Die Gegenwart ist nicht mehr durch »das Scheitern des sozialistischen Versuchs in Osteuropa« gekennzeichnet (es sei denn in der Gestalt, daß jede Gegenwart eine Vergangenheit hat), auch zeichnet sich die gesamtdeutsche Situation nicht mehr primär dadurch aus, daß »der wirtschaftliche und soziale Niedergang, die massenhafte politische Ausgrenzung in Ostdeutschland … bedrohliches Ausmaß« annehmen.
Die Perspektive des Zusammenbruchs, des Niedergangs und der Verfolgung durchzieht des gesamte Programm, es dient der Selbstbehauptung und -verteidigung. Seine entscheidende Schwäche liegt genau darin: Es kommuniziert ostdeutsche Erfahrungen, begründet für Ostdeutsche, wozu sie eine demokratisch-sozialistische Partei gebrauchen könnten, aber eben nicht für Westdeutsche. Die PDS braucht ein neues Programm, weil – für die gesamte Gesellschaft, in der Ostdeutsche lediglich eine qualifizierte Minderheit sind – der Nutzen und die Ziele einer demokratisch-sozialistischen Partei entfaltet werden muß. Ein derart erneuertes Programm wäre Voraussetzung für und Beginn der Phase des Aufbaus einer demokratisch-sozialistischen Partei in Deutschland und brächte die Überwindung des nach Kolonialismus riechenden Schlagworts von der »Westausdehnung«. Die Gelegenheit, aus den ostdeutschen, den DDR-Erfahrungen systematisch ein gesamtdeutsches sozialistisches Projekt zu entwickeln, ist über die notwendige Verteidigung von »Ostinteressen« vertan worden.
Die Selbstinterpretation der Entwicklung der PDS durch ihre öffentlichen Meinungsführer – weniger durch die -führerinnen – als ständige Auseinandersetzung zwischen »Reformern« und »Traditionalisten«, »modernen Sozialisten« und »Altkommunisten« oder – seit jüngstem – »Dogmatikern« ist zwar medial spannend, transportiert aber nur die eher konspirativen Gefechte aus der SED der achtziger Jahre ins neue Jahrhundert. Geburtsstunde und Ziel der »Reformer« war es, die DDR durch einen »modernen Sozialismus« zu erneuern, die Existenz der DDR war Voraussetzung, 1989 bot sich – endlich – die Chance, zur Mehrheit in der SED/PDS zu werden.
Sicherlich, ein paar Jahre lang drückten die herrschende öffentliche Meinung und »die Medien« der PDS diese Auseinandersetzung auch auf, ohne sie allerdings erfunden zu haben. Es war wie bei Eltern, die ein Kind nötigen, seine guten Absichten zu bekennen. Das Krisenhafte zeigt sich aber darin, daß gerade »die Reformer« dieses Szenario in den letzten Jahren kultiviert haben, daß es unzählige Äußerungen gibt, die die Wirklichkeit und existentielle Bedeutung gerade dieser Auseinandersetzung nach außen kommunizierten als eine zwischen den Guten und den Bösen. Sicherlich, man kann die Situation der PDS so beschreiben, aber auch hier wie in allen anderen Fragen der Politik gilt: Die Problemdefinition setzt die Bedingungen für die Problemlösung. So, wie seitens der »Reformer« die Lage definiert wird, bleibt nur die entscheidende Schlacht oder der ständige faule Kompromiß.
Diese Sackgasse verhindert die Fortentwicklung zu einer demokratisch-sozialistischen Partei in Deutschland. Der Münsteraner Parteitag hat im übrigen gezeigt, daß die Mehrheit der Delegierten und der Mitglieder genau diese Sichtweise nicht für die entscheidende halten, sondern als eine durch die Parteioberen gesetzte. Darin liegt die Chance der PDS. Um die Gelegenheit beim Schopfe ergreifen zu können, müssen sich die Reformer reformieren, sich ihrer durch die Vergangenheit geprägten Häutungen entledigen. Äußerungen von einigen nach dem Parteitag sprechen allerdings für eine fehlende Bereitschaft oder Fähigkeit, sondern lassen die destruktive Fortsetzung alten Denkens befürchten.
Nicht einige »Hamburger«, die KPF oder irgendwelche Dogmatiker bedrohen die Zukunft der PDS, sondern die Politik- und Leitungsunfähigkeit der »Reformer«. Wenn es denn wahr ist, was Gregor Gysi in seinem Brief an die Delegierten schrieb, daß die KPF in der praktischen Politik und Politikentwicklung der PDS in den Kommunen, Ländern und im Bund so gut wie gar nicht präsent sei, so lebt die Erkennbarkeit, die Erfahrbarkeit der PDS offenbar von einer überwiegenden Mehrheit anders geprägter, denkender und handelnder Menschen, vermutlich genau von denen, die unter den vorgefundenen politischen Bedingungen konkrete Veränderungen für eine bessere Gesellschaft umzusetzen versuchen, von denen, die das wollen und tun, obwohl sie wissen, daß damit der Kapitalismus nicht abgeschafft wird, die das tun, obwohl ihnen die von Gysi richtig bezeichneten »ideologischen Wächter« die Begrenztheit ihres Handelns immer wieder vorhalten. Diese Auseinandersetzung ist sicher nicht lustig, kann aber auch als immer wieder notwendiges Ausrufezeichen zur Reflexion des eigenen Denkens und Handelns verarbeitet werden. (Von den tatsächlich wenigen Personen, die wie auf dem Parteitag offensichtlich nicht bereit sind, die elementarsten Regeln des innerparteilichen Streits zu beachten, sollte sich die PDS zügig trennen – sofern damit nicht die Hoffnung verbunden ist, das eigentliche Problem entsorgt zu haben.)
Die Gegeneinanderstellung von »demokratisch-sozialistischem Weg« und »Verharren in althergebrachten Sicherheiten«, von »Erneuern und Verharren«, von »Einzelfallprüfung« und »Anspruch auf den Besitz ewiger Wahrheiten« negiert die Berechtigung des Ver- und Beharrens. Sie enthält darüber hinaus keinen Entscheidungsmaßstab zwischen beiden, kein Drittes, an dem sich die Zweckmäßigkeit von Erneuern und Verharren zu beweisen hätte. Das ist auch nicht möglich, weil die Gegeneinanderstellung mittlerweile genauso sinnentleert ist wie jene zwischen »Reformern« und »Traditionalisten«. Vermittelbar ist nach außen von dem, worum es dabei geht, nichts mehr, so daß die Auseinandersetzung mehr und mehr als eine persönlich-biographische Angelegenheit aus vergangenen Tagen begriffen werden muß – und so mangels Argumenten angegangen wird, wenn an Stelle der inhaltlichen Auseinandersetzung die Unterstellung persönlicher Machtambitionen tritt. Genährt, nicht verursacht, wird solche Psychologisierung, wenn der PDS eher pädagogisch daherkommende Übungen wie »Koalitionsfähigkeit«, »Regierungsfähigkeit« oder »Politikfähigkeit« abverlangt werden, ohne vorher oder zumindest gleichzeitig zu sagen, wofür und wodurch sich denn solche »Fähigkeit« auszeichnet. Wer sagt, er wolle »regierungsfähig« werden, muß deutlich machen können, daß er nicht einfach »hoffähig« meint, sondern die Durchsetzung einiger ganz bestimmter Anliegen. Daran ist dann meßbar, was Regierungsfähigkeit und womöglich Koalition bringen. Der Anspruch, daß einem doch bitte schön keine bösen Absichten unterstellt werden dürfen, weil man doch »glaubwürdig« sei, ist in der Politik fehl am Platze. Wähler und Delegierte haben keinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit der von ihnen Gewählten, sondern auf Überprüfbarkeit von Erfolg und Mißerfolg; eine Partei, die allein vom Charisma und der »Glaubwürdigkeit« einzelner Personen lebt, von der Vertrauensfrage, steckt in der entscheidenden Existenzkrise.
»Reformer« und »Erneuerer« stehen unter Beweispflicht. Überzeugt werden will »die Partei« davon, daß es eben nicht um das geht, was uns der »flexible Kapitalismus« alltäglich vormacht: das Jagen nach kurzfristigem Erfolg, das Einreißen von Institutionen, die Aufkündigung von Sicherheiten, die Entwertung von Erfahrung und Tradition. Diese meist erlittene, weniger emanzipativ gelebte Erfahrung des ständigen Wandels begründet die Berechtigung des Verharrens. Man muß nicht jede Mode der Moderne mitmachen. Daraus erwächst die an einzelnen Punkten auch mehrheitsfähige Attraktivität der KPF-Positionen. Anstatt ihnen Dogmatismus und anderes vorzuwerfen, sollte man sie nicht aus der permanenten Beweisnot entlassen, aus der Not zu beweisen, daß ihre Sicht der Verhältnisse Menschen motiviert, für die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse sich einzusetzen. Letztlich mißt sich hieran die Politikfähigkeit einer demokratisch-sozialistischen Partei: eine ständig steigende Zahl von Menschen zu begeistern, ihre Interessen in die eigenen Hände zu nehmen, sich zu engagieren und zu emanzipieren.
Unter diesem Gesichtspunkt offenbart die Abstimmungsniederlage des Vorstands in Münster und ihre Verarbeitung eine entscheidende Fehlinterpretation. Die klare und eindeutige, eben nicht durch eine »Einzelfallprüfung« theoretisch offene Haltung zu UN-Militäreinsätzen förderte die außerparlamentarische Politikfähigkeit der PDS. An vielen Orten entstanden anläßlich des Kosovo-Krieges Bündnisse, in denen die Stärke der PDS diese Eindeutigkeit war, das nackte Bedürfnis, »Nein!« zum Krieg zu sagen. Das wenige Wochen später mit Osttimor eine ganz andere Herausforderung an die PDS-Parlamentarier gestellt wurde, daß generell die Gesetze des Handelns und Argumentierens auf der parlamentarischen Bühne andere sind als im außerparlamentarischen, gesellschaftlichen Feld, war demgegenüber von untergeordneter Bedeutung. Statt das Abstimmungsergebnis als Ausdruck des Kräfteverhältnisses zwischen »Reformern« und »Traditionalisten« zu begreifen und zu interpretieren (auch wenn es von manchen so aufgezogen wurde), bietet sich auch eine produktivere, zukunftsfähigere Interpretation an, die erst mal auf Schuldzuweisungen und -bekenntnisse verzichtet, wohl aber Verantwortlichkeit gegenüber der Zukunft des Projektes PDS von allen Beteiligten verlangt: Es war ein Sieg der Logik außerparlamentarischen Handelns gegenüber der Logik parlamentarischen Handelns. Gewißheit besteht damit darüber, daß es »die Partei« als eine gesellschaftliche Institution neben ihren Parlamentsfraktionen noch gibt, eine andere Sicht als die verengte Sicht parlamentarischer Politik und damit die Voraussetzung für den Aufbau einer demokratisch-sozialistischen Partei. Das Spannungsverhältnis zwischen Partei und außerparlamentarischer Politik einerseits und Medien- und Fraktionspolitik andererseits zu akzeptieren und systematisch zu entwickeln, zählt zudem zu den Voraussetzungen von Politikfähigkeit, die darauf aus ist, Gesellschaft zu verändern. Ein typischer Fall von Politikunfähigkeit und Disqualifikation für obere Leitungsaufgaben liegt allerdings vor, wenn die eigene Argumentation auf dem aufbaut, was man nicht in den Medien lesen will. Größere Anpassung an die »Mediendemokratie« und Entpolitisierung von Politik ist kaum noch vorstellbar. Weiter weg von der Fragestellung Was wollen wir in den Medien über die PDS lesen und wie erreichen wir das? kann mensch sich kaum noch bewegen.
Der kommende Parteitag wird mit dieser Frage verantwortungsvoll umgehen müssen. Er wird der entscheidende Parteitag für die PDS sein. Die Personalfrage steht dabei sicherlich im Mittelpunkt des medialen Interesses, sie stellt sich gegenwärtig aber als höchst uninteressant dar, weil sie mit keinerlei inhaltlichen Fragen verbunden ist. Erfolg und Mißerfolg des Parteitages werden mittelfristig davon abhängen, ob dort eine Frage diskutiert und Richtungsentscheidungen getroffen werden, die in der Gesellschaft auch außerhalb der PDS interessant sind, weil sie oppositionelle Positionen und Interessen aus der Gesellschaft gegenüber der Regierungspolitik aufnehmen und artikulieren. Hierzu könnten zählen: Aussagen zum Verhältnis von Staat und Markt, zum Umbau staatlicher Regelungskompetenzen oder zu unverzichtbaren sozialen Grundrechten, für deren Sicherung die PDS in der Dynamik des politökonomischen Wandels eintritt.
Darüber hinaus wird der Parteitag zeigen müssen, ob zehn Jahre PDS nur die sich hinziehende Nachgeschichte der SED waren oder die Vorgeschichte einer neuen demokratisch-sozialistisch Partei. Die bisherige Selbstinszenierung der PDS-Entwicklung gibt den begründeten Anlaß anzunehmen, daß die PDS für letzteres dringend der Hilfe von außen bedarf. Die Verantwortlichen für die Vorbereitung des Parteitages sollten daher auch über ein weiteres Signal nachdenken: Wer eine demokratisch-sozialistische Partei in der Bundesrepublik will, muß die PDS jetzt mit instandbesetzen, statt weiter abzuwarten.
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Horst Kahrs – Jg. 1956, Sozialwissenschaftler, seit 1995 wissenschaftlicher Mitarbeiter für Arbeitsmarkt und Sozialpolitik der Bundestagsgruppe/Bundestagsfraktion der PDS. Gehört zur Beratergruppe des Fraktionsvorstandes