Publication Staat / Demokratie - Demokratischer Sozialismus - Deutsche / Europäische Geschichte Politikwechsel und Reformpolitik - Der Fall Mecklenburg-Vorpommern

Utopie Kreativ Heft 115-116 Mai-Juni 2000

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Zeitschrift «Utopie Kreativ» (Archiv)

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May 2000

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UTOPIE kreativ, H. 115/116

(Mai/Juni 2000),

S. 442-454Nach den Landtagswahlen vom 27. September 1998 gelangte in Mecklenburg-Vorpommern eine SPD-PDS-Koalition an die Regierungsmacht. Von vielen Akteuren und Beobachtern mit Hoffnungen bedacht, wurde sie von anderen als Tabubruch und Grenzüberschreitung der bisher in Deutschland üblichen Koalitionsmuster beklagt. Von Anfang an trat die neue Regierung mit dem Anspruch auf, einen »Politikwechsel« im Lande durchzusetzen. Diesem Gedanken gehen wir in einer Studie 1 nach, stellt sich doch die Frage, inwieweit auf der Ebene eines Bundeslandes überhaupt die Möglichkeit besteht, einen Politikwechsel durchzusetzen und wenn »ja«, in welche Richtung ein solcher Politikwechsel von den Voraussetzungen einer »rot-roten« Koalition her angestrebt wird bzw. realisierbar erscheint. Zieht man die Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und PDS sowie die Regierungserklärung von Ministerpräsident Ringstorff zu Rate, so wurde ein Politikwechsel angestrebt, der auf mehr Arbeit, soziale Gerechtigkeit und Demokratie sowie auf eine Versöhnung im Lande abzielt.

Jeder Anspruch auf einen »Politikwechsel« ist heute unweigerlich in die Frage eingebunden, wie der in Deutschland von allen Seiten deklarierte »Reformstau« aufzulösen ist, welche Rolle hierbei marktliberale bzw. sozialstaatliche, wertkonservative bzw. wertoffene Orientierungen spielen sollen. Es geht mithin nicht nur um Veränderungen von Akzenten oder Prioritäten in der Politik, sondern um die Suche nach neuen Wegen in einem gesellschaftlichen Umfeld, das tiefgreifender und komplexer Reformen bedarf. In keiner der großen politischen Parteien Deutschlands gibt es gegenwärtig hierfür klare oder gar einheitliche Orientierungen: Im christdemokratischen Lager Deutschlands gruppieren sich marktliberale, wertkonservative und christlich-sozialstaatliche Vertreter neu. Im sozialdemokratischen Lager steht die Auseinandersetzung um eine Neuaustarierung neoliberaler und sozialstaatlicher Werteorientierungen noch in den Anfangsschritten. Auch bei den »Bündnisgrünen« und im Lager der Sozialisten ringt man um Neuorientierungen – denn sowohl traditionell ökologische als auch traditionell »linke« bzw. »linkssozialistische« Positionen greifen nicht mehr, wenn sie mit den veränderten Realitäten konfrontiert werden.

Bedingungen moderner Reformpolitik

Was nun die Landesebene betrifft, so hat sich auch hier eine Reihe neuer Bedingungen für die Etablierung von Reformen herausgebildet. Diese Bedingungen gelten unabhängig von den konkreten Inhalten der jeweiligen Reformpolitiken, stellen also für linksdemokratische Ansätze nicht weniger neue Herausforderungen dar als für andere:

Erstens: Reformpolitik in den Bundesländern, sofern sie auf Finanzierungen angewiesen ist,2 kann heute in der Regel nicht mehr als Verteilungspolitik überschüssiger Finanzen oder zusätzlicher Neuverschuldung angegangen werden, sondern in der Tendenz nur noch auf Grundlage einer Politik zur Herstellung konsolidierter Staatsfinanzen. Wenngleich diese These im linksdemokratischen Umfeld nicht unumstritten ist,3 sind doch die Töne hörbarer, daß Reformprojekte nicht durch die perspektivische Einschränkung staatlicher Handlungsspielräume erkauft werden dürfen. Neuverschuldungen (bzw. ihre Erhöhung) sind, wenn überhaupt noch akzeptabel, an strikte Kriterien zu binden, nämlich: a) an die Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur nachhaltigen Neuorientierung der Landesfinanzen (Einnahmen, Ausgaben, Transparenz, ressourcenübergreifende Bündelungen, Schwerpunktbildungen etc.) und b) an die Erwartung nachhaltiger Effekte der Landesentwicklung, darunter auch im Bereich der Staatsfinanzen selbst. Die Ursachen hierfür liegen nicht allein in der komplizierten Haushaltslage der öffentlichen Finanzen, sondern – prinzipieller – in den Grenzen des fordistischen Reproduktionsmodells, in tiefgreifenden Veränderungen der Moderne-Entwicklung. Die einstige Koppelung zwischen Wirtschaftswachstum und Wohlfahrt, Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätzen, aber auch zwischen Wirtschaftswachstum und Wachstum der Staatsfinanzen ist zwar nicht völlig aufgehoben, aber brüchiger geworden.

Zweitens: Wenn dies so ist, dann werden Reformvorschläge – aus welcher Richtung sie auch kommen – intensiver denn je mit Verteilungskonflikten und organisierten Interessenkonflikten verbunden sein. Erfolgreiche Reformprozesse, die über das politisch-administrative System angestoßen werden, müssen dabei einerseits danach suchen, die internen Antriebs- und Motivations- sowie die Kooperationskräfte der betroffenen gesellschaftlichen Teilsysteme bzw. Teilsektoren zu stärken – nicht durch ihre traditionelle Verfestigung, sondern durch Anregungen zu Öffnungen, Richtungsänderungen, Interessentransformationen – und gleichzeitig die Möglichkeiten beschneiden, sich auf Kosten anderer Nutzen zu verschaffen.4 Werden einerseits bestimmte Entwicklungsrichtungen beschnitten (z.B. Interessen der Wirtschaft bei den FFH-Gebieten; Sozialbürokratien bei freien Trägern), müssen nach Möglichkeit für diese Bereiche neue Entwicklungschancen eröffnet werden (z.B. ökologisch orientierte Wirtschaftsförderung; projektgebundene statt infrastrukturgebundene Sozialförderung).

Drittens: Der Haupthebel (und im Sinne von Punkt 1 ein weitgehend »kostenloser«) für das Anstreben von Reformprozessen ist die Herstellung einer neuen demokratischen Öffentlichkeit. Darunter sind sowohl Prozesse zu verstehen, die die beabsichtigten Reformprojekte öffentlich diskutieren, zugleich der Versuch, auf diese Weise längerfristig Werteorientierungen zu verändern (Stichworte: Lebensweisen, Konsum, regionale Wirtschaft, Ökologie, Nachhaltigkeit) und insgesamt neue Formen der Demokratie, der Bürgergesellschaft und der Öffentlichkeit zu unterstützen. Prinzipiell können die traditionellen Interessenstrukturen und ihre Blockierungstendenzen nur transformiert werden, wenn eine neue demokratische Öffentlichkeit entsteht, vor allem öffentliche Diskurse über Reform- und Entwicklungsperspektiven des Landes.

Viertens: Das politisch-administrative System kann in mittelfristiger Perspektive die anderen Teilbereiche der Gesellschaft nur dann steuern und auf Reformen hin neu orientieren, wenn es sich selbst neu orientiert. Dies betrifft sowohl die Erschließung finanzieller Mittel für Reformpolitik als auch deren Legitimität (öffentliche Unterstützung) und Handlungsfähigkeit. Sie muß also ihre finanziellen Quellen und ihre Legitimität tendenziell zu einem Gutteil aus der Umorganisation der öffentlichen Hand selbst speisen, vor allem aus der Neuorientierung der öffentlichen Förderpolitik und aus der Verwaltungsreform.

Fünftens: Eine auf nachhaltige Reformen zielende politische Steuerung, will sie erfolgreich sein, kann nur noch über Politiknetzwerke erfolgen, nicht über »Top-Down-Umsetzungen« politisch-administrativer Politikentwürfe. In Politiknetzwerken geht es nicht einfach um Verwaltungskontrolle, sondern um die Herausbildung von Handlungsorientierungen, Überzeugungen, Normen, Regeln, Leitideen, um Überzeugungsgemeinschaften (advocacy coalitions), um die Suche nach Kompromissen, Interessenausgleich, Wettbewerb um geistige Hegemonie. Das alles erfordert einen diskursiven, transparenten, sachorientierten Politikstil, der auch in der Öffentlichkeit Akzeptanz finden kann. Hier müssen sich die jeweiligen Politikentwürfe, wenn sie eine Durchsetzungschance haben wollen, einbringen, einen Platz erobern.

Sechstens: So sehr heute die Notwendigkeit wie auch die Inhalte und Instrumentarien in nationale, europäische und globale Zusammenhänge eingebunden sind, spielt doch der Ansatz des Regionalen bei der Etablierung von Reformschritten eine entscheidende Rolle. Hier sind – gerade in Ostdeutschland – die strukturellen Blockierungen der Interessengruppen wie auch festgefahrene Besitzstände in der Regel noch weniger als auf der Bundesebene ausgeprägt, ergeben sich daraus spezifische Handlungs- und Innovationschancen. Besonders die Chance zur Bildung innovativer, offener, dynamischer Akteursnetzwerke – auch quer zu traditionellen politischen und Interessengruppen – ist auf der regionalen Ebene größer, und gerade hierin liegt das entscheidende Akteursproblem des Zugangs zu Reformen. Andererseits sind die Handlungsbedingungen regionaler Akteure heute viel stärker in die Europäisierungs- und Globalisierungsprozesse eingebunden (nicht schlechthin dadurch »eingeschränkt«).

Neue Politikansätze und reformerische Herausforderungen in Mecklenburg-Vorpommern

Da sich in Mecklenburg-Vorpommern – bislang einmalig in Deutschland – eine »rot-rote« Regierungsform etabliert hat, stellen sich die folgenden drei Fragen, und zwar mit eskalierender Dimension von Frage zu Frage:

Vollzieht sich dort ein Politikwechsel und wenn ja, in welche Richtung (werden spezifische Inhalte »rot-roter« Politik erkennbar)?

Sind Reformansätze im Sinne der o.g. allgemeinen Erfordernisse erkennbar?

Inwiefern kann sich eine SPD-PDS-Regierung von anderen Bundesländern und anderen Modernisierungs- bzw. Reformansätzen unterscheiden, bildet sich ein veränderter Politiktyp heraus, der perspektivisch eine spezifische Variante ostdeutscher Modernisierungspolitik sein könnte – neben beispielsweise der konservativ geführten sächsischen Modernisierungsvariante.

Während bei der erstgenannten Frage (Politikwechsel) doch zumindest eine Reihe klarer Signale erkennbar ist, verweist die zweitgenannte (Reformansätze) weitgehend noch ins Hypothetische bzw. Konzeptionelle und die letztgenannte (spezifische Modernisierungsvariante) bleibt derzeit gänzlich offen.

In den folgenden fünf Punkten sollen die hervorstechendsten Neuansätze politischen Handelns, aber auch die hiermit verbundenen neuen Herausforderungen für die SPD-PDS-Regierungskoalition in Mecklenburg-Vorpommern dargestellt werden:

Erstens: Als Zeichen einer gravierenden Veränderung im Lande, einer Wende bzw. eines Politikwechsels wurde deutschlandweit an sich schon die Tatsache reflektiert, daß SPD und PDS die erste rot-rote Koalition in Deutschland bildeten. Zwar ist es zweifelhaft, daß eine bestimmte Koalition schon ein Wert »an sich« sein kann. Nimmt man aber die deutschlandweiten Reaktionen in den Medien auf die Bildung der rot-roten Koalition, ist es eine Tatsache, daß diese Reaktionen nicht wegen irgendwelcher konkreter politischer Vorhaben erfolgten, sondern »an sich« schon auf die Bildung dieser Koalition. Nicht nur von der Koalitionsarchitektur her war dieser Schritt in Deutschland neu, sondern auch gemessen an den bisherigen Erfahrungen und politischen Orientierungen der beiden beteiligten Parteien. Bei der rot-roten Koalition handelt es sich um die Bewältigung eines gravierenden Umbruchs politischer Akteurskonstellationen, wie er beispielweise nur vergleichbar wäre mit den ersten rot-grünen Koalitionen in anderen Bundesländern. Bemerkenswert an der Veränderung der Akteurskonstellationen ist zunächst die Tatsache, daß beide Partner der Regierungskoalition von den gesellschaftlichen Akteuren im Lande als Adressat ihrer Interessenartikulation und überwiegend auch als kompetente Partner oder kompetente Kontrahenten akzeptiert werden. Man könnte sagen, das ist Normalität. Neu ist, daß für die PDS-Seite der Kreis der Ansprechpartner und somit auch ihre Einflußmöglichkeiten wesentlich größer und differenzierter als während der Oppositionszeit geworden sind,5 ohne daß der Wirkungskreis von SPD und CDU kleiner geworden wäre oder sich daraus direkte Verschiebungen der Wählerpotentiale ergeben würden. Freilich hat die CDU bei den Kommunalwahlen im Juni 1999 und in den Umfragewerten des Jahres 1999 deutlich zulegen können.

Zweitens: Das Land kam durch die Bildung einer handlungsfähigen Regierung aus einer mehrjährigen innenpolitischen Blockadesituation heraus. Seit langer Zeit gibt es wieder eine kooperative, sachorientierte, beiderseits kompromißbereite, aber nicht konfliktfreie Zusammenarbeit innerhalb der Regierung und zwischen den regierungstragenden Koalitionsfraktionen im Landtag. Dadurch sind prinzipiell neue Grundlagen für die landespolitische Gestaltungskraft von Regierungspolitik geschaffen worden. Das ist keine Frage von »links«, »Mitte« oder »rechts«, macht auch noch keine Reformpolitik, ermöglicht aber politische Handlungsfähigkeit. Vernetzungen und Bündelungen von Förderungen werden eher möglich und wurden – wenngleich erst in Anfängen – realisiert. Weiterhin konnte die Regierung auf dieser Grundlage eine Reihe von Problemen lösen, die teils schon unter der Vorgängerregierung thematisiert worden waren, jedoch nicht zum Ergebnis gebracht werden konnten (kurzfristige Planung des Airbus-Projekts Rostock- Laage, allerdings ohne Ansiedlungserfolg für die Endfertigung; Einführung des strikten Konnexitätsprinzips für die Kommunalfinanzierung; neue Abfallwirtschaftsordnung; Regulierung von Konflikten zwischen Tourismuswirtschaft, Landwirtschaft und Umwelt). Neue Initiativen wurden bei der Ausgestaltung und Akzentuierung von EU-Richtlinien und Bundesgesetzen, in von MV ausgehenden Bundesratsinitiativen (z.B. Verbandsklagerecht), beim Übernehmen, Aufnehmen politischer und sozialer Innovationen aus anderen Bundesländern und dem Ausland (z.B. Arbeitsmarktpolitik) ergriffen.

Trotz aller Belastungen der Koalitionsatmosphäre (z.B. durch den Kosovo-Krieg; durch die Haushaltskürzungen im Sozialbereich; durch den Streit um die schulartenunabhängige Orientierungsstufe) gelangte die Koalition bislang nicht in eine ernsthafte Krise. Die Kooperationsmechanismen beider Parteien (regelmäßige Absprachen beider Fraktionsvorsitzenden und Parlamentarischen Geschäftsführer; Kooperation der Fraktions-Arbeitskreise; Minister- und Staatssekretärsrunden mit Teilnahme von Fraktionsvertretern; Koalitionsausschuß) hatten eine koordinierende und konfliktregulierende Wirkung. Mit dem Streit um die schulartenunabhängige Orientierungsstufe entstand jedoch eine neue Konfliktdimension. Zum ersten Mal konnte ein »hausgemachtes« Problem zwischen den beiden Koalitionspartnern nicht gelöst werden. Nachdem die SPD durch eine Abkehr von dieser Orientierungsstufe6 faktisch auch vom Koalitionsvertrag (Punkt 127) abrückte und somit eine für die Koalition stark belastende Situation herstellte, sah sich die PDS ihrerseits veranlaßt, in den Punkten 208 (Obergrenze der Nettokreditaufnahme) und 217 (Verbot wechselnder Mehrheiten) ein Abgehen von der Koalitionsvereinbarung zu erwägen. Die PDS stellt damit eine politische Reaktion in Aussicht, die einerseits ihre Eigenständigkeit unterstreichen soll, im Ergebnis aber den Riß für die Koalition vertiefen könnte. Letzteres muß allerdings nicht zwangsläufig der Fall sein. Wenn beiderseits am Fortbestand der Koalition festgehalten wird – und dies ist derzeit der Fall –, kann auch eine neue, konflikthaftere, aber nicht unproduktive Art des Umgangs der Koalitionspartner miteinander entstehen. Die PDS hat angekündigt, gegebenenfalls auch eigene Anträge in den Landtag einzubringen, beispielsweise für ein Bleiberecht ausländischer Minderjähriger, für das Schulsozialarbeiterprogramm bei gleichzeitiger Entlastung der kommunalen Beteiligung, für ein Schulbauprogramm oder ein spezielles Vorpommern-Programm.

Drittens: Auf dauerhafte, stabile und neue Grundlagen wurde der bereits 1997 eingeleitete Kurs der Haushaltssanierung gestellt. Die Politik ging zu einer langfristigen Konzeption und Praxis nachhaltiger Haushaltssanierung über und beginnt in ersten Schritten, auf dieser Grundlage das Land zu gestalten. Während sich das Land in den Jahren 1995 und 1996 noch jeweils mit über 2 Md. DM jährlich neu verschuldete, wurde seitdem der Kreditbedarf konsequent zurückgefahren: 1997 auf knapp 1,5 Md. DM, 1998 auf knapp 1,3 Md. DM, 1999 auf 924 Mio. und im Jahr 2000 auf ca. 650 Mio. DM. Im Jahre 2002 soll die Kreditaufnahme höchstens noch 450 Mio. DM betragen. Die Verschuldung des Landes war in den neunziger Jahren steil angestiegen und hatte bis zum Jahre 1998 die Summe von 13,7 Md. DM erreicht. Im Jahre 2000 sind es etwa 15,2 Md. DM Schulden. Dafür müssen im Jahre 2000 ca. 880 Mio. DM (!) an Zinsausgaben zur Verfügung gestellt werden; in den nächsten Jahren wird diese Ausgabenlast noch nicht sinken können. Eine sukzessive Absenkung der Nettokreditaufnahme – vorerst geplant bis zum Jahre 2002 – stoppt noch nicht das Anwachsen des Schuldenberges (im Jahre 2003 voraussichtlich 16,6 Md. DM 7), jedoch wird ein Weg in diese Richtung, zur Bewahrung bzw. Wiedererlangung politischer Gestaltungsfähigkeit, beschritten. Konsequent orientiert man damit auf eine nachhaltige Haushalts- und Finanzpolitik. Eine Absenkung der absoluten Verschuldung und eine Absenkung der jährlichen Zinslasten können wahrscheinlich erst nach einer Senkung der Neuverschuldung auf »Null« in Angriff genommen werden; erst dann kann der Schuldenberg abgebaut werden.

Neu ist an dieser Politik insbesondere auch die Tatsache, daß die PDS diesen Kurs von Beginn der Koalition an mittrug und trotz mancher »Bauchschmerzen« mitgestaltete. Nun wird – wie dargestellt – dieses Mittragen wieder in Frage gestellt. Dabei ist absehbar, will man die Sanierung vorantreiben, daß die Einnahmen des Haushaltes perspektivisch deutlich enger werden. Allein auf Grund des prognostizierten Bevölkerungsrückganges8 ergeben sich bei der Umsatzsteuerverteilung, beim Länderfinanzausgleich und den Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen gegenüber 1999 Mindereinnahmen von 40 (im Jahre 2000), 71 (2001), 95 (2002) und 116 (2003) Mio. DM.9 Ein zusätzlicher Einnahmeausfall in Höhe von 199 Mio. DM (bereits saldiert durch erwartete Mehreinnahmen) entsteht infolge steuerrechtlicher Änderungen des Bundes. Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß der Solidarpakt I im Jahre 2004 ausläuft und die Konditionen für einen Solidarpakt II ab 2005 für das Land gewiß härter werden.

Natürlich wäre ein Politikwechsel, der gerade darin besteht, die Haushaltssanierung an sich in den Mittelpunkt zu stellen, genauso perspektivlos für das Land wie ein Politikwechsel, der neue politische Ziele an den Herausforderungen der Haushaltssanierung vorbei entwickelt. Für linksdemokratische Politik ist es die schwierigste, aber letztlich unumgehbare Herausforderung, die Haushaltssanierung als Mittel und Chance zu nutzen, politische Ziele für eine sozial gerechtere und zukunftsfähige Entwicklung des Landes zu entwickeln bzw. neu zu definieren. Sie läßt sich m.E. nur angehen, wenn von den oben allgemein genannten sechs Reformerfordernissen ausgegangen wird; sie erfordert in vielem die Transformation von Interessen (einschließlich potentieller Wählergruppen) statt ihrer einfachen Verteidigung und Bewahrung. Hierfür sind Innovationsgeist und politische Initiative, Öffentlichkeit und parteienübergreifendes Handeln notwendig, sind Ideen und Öffentlichkeitsarbeit gefragt, nicht jedoch eine enge Sicht auf Parteiinteressen oder das Ausprobieren politischer Mittel des Drucks. Hier stellen sich Risiken für die Bewahrung des bisherigen Einflusses der Parteien, weil traditionelle Interessen nicht mehr auf traditionelle Weise bedient werden können. Andererseits kann man annehmen, daß (nur) die Parteien, die solche Reformorientierungen zu bewältigen suchen, sich auf diesem Wege langfristig neue Chancen für die Erlangung geistiger Hegemonie und neue Wählerpotentiale erarbeiten. Denn einen anderen Weg als die Verbindung von Haushaltskonsolidierungspolitik und Modernisierungspolitik gibt es ohnehin auf Dauer nicht; die Frage ist nur, wie und mit welchen Inhalten dies durchgesetzt wird und wer hierbei die Initiative in der Hand hält.

Viertens: Der Politikstil der Regierung und der sie tragenden Koalitionsparteien ist merklich kommunikativer geworden. Politische Prozesse werden deutlich mehr in einem diskursiven Kontext und als Verhandlungsprozesse mit den Organisationsträgern von Interessengruppen geführt. Exemplarische Beispiele dafür waren/sind die Verhandlungsprozesse um die FFH-Gebiete, die Krankenhausplanung und das Bündnis für Arbeit. Es besteht die Möglichkeit (aber nicht die Gewähr), daß die Akzeptanz bei den verschiedensten Interessenverbänden weniger von ideologischen Dispositionen oder traditionellen Bindungen ausgeht, sondern sich eher auf Kooperation und Einbeziehung in Entscheidungsprozesse stützen kann. Dadurch würden tendenziell die Akteurskonstellationen im Lande auf neue Grundlagen gestellt, würden natürlich daraus auch neue Ansprüche an die Politik erwachsen.

Eine damit verbundene Herausforderung wird darin bestehen, die kooperativen Beziehungen zwischen den beiden Koalitionspartnern weiterzuentwickeln. Dazu gehört sowohl die Profilierung der eigenständigen Positionen innerhalb beider Parteien als auch die gezielte Suche nach den gemeinsamen Schnittmengen. Kompromißfähigkeit und gemeinsames Konfliktmanagement zwischen den Koalitionspartnern, so wichtig und so kompliziert das auch ist, reichen aber für moderne Politik nicht aus. Die o.g. Kooperationsmechanismen sind derzeit noch zu sehr auf Fehlervermeidung und zu wenig auf die Etablierung neuer Politikansätze gerichtet, sie bringen zu wenig Ideen, Anregungen, Motivationen hervor. Der Wettbewerb der beiden Koalitionspartner um realistische, innovative Politikangebote wird zunehmen. Den Schwierigkeiten, die sich in den Beziehungen der beiden Koalitionspartner in der letzten Zeit anbahnten, liegen sowohl unterschiedliche Gesellschafts- und Politikvorstellungen als auch eine unterschiedliche Bereitschaft zu reformerischen Veränderungen zugrunde. Gesellschaftsvorstellungen und Reformbereitschaften sind auch innerhalb der beiden Parteien selbst sehr inhomogen, werden nach außen hin noch zu wenig nachvollziehbar vermittelt und erscheinen daher zum Teil nur als Konflikte. Der externe Maßstab für die Bewertung der Koalitionspolitik geht mehr in die Richtung, ob pragmatisch und allgemein nachvollziehbar Fortschritte bei der Lösung von Problemen des Landes erzielt werden oder nicht, ob hierfür die Handlungsmöglichkeiten für die kommunale und subregionale Ebene erweitert werden oder nicht.

Die CDU profitierte im letzten Jahr von der Enttäuschung über Rot-Grün und Rot-Rot in der Bevölkerung. Sie vermochte, ihren Einfluß in Verbänden zu stabilisieren oder zu halten (Unternehmerverbände, Feuerwehrverband, THW, Landessportbund, Tourismusverband, Landkreistag). Sie nimmt direkt oder über die Verbände Einfluß auf die Landespolitik und Landesverwaltung. Man kann aber auch davon ausgehen, daß die CDU Mecklenburg-Vorpommerns vor einer neuen Herausforderung steht: Sie wird durch die Umkehrung des Bundestrends und die inneren Veränderungs prozesse in der Bundes-CDU tendenziell dazu veranlaßt, von der gegenwärtig vorherrschenden Fundamental-Opposition zu einer Sachopposition überzugehen und bestehende Differenzen zwischen den Koalitionspartnern SPD und PDS zu nutzen. Dies würde die rot-rote Variante vor völlig neue Herausforderungen stellen, auf lange Sicht möglicherweise die Koalitionskarten neu mischen. Hinzu kommt, daß schon jetzt die CDU-nahen Verbände Rot-Rot nicht boykottieren, sondern in konstruktiver Sacharbeit ihre definierten Interessen durchzusetzen suchen. Und während die CDU-Fraktion im Landtag derzeit noch geschlossen und frontal gegen Rot-Rot agiert, tendieren die CDU-Wähler im Lande wie überhaupt immer die Wählerschaft eher dahin, sich an dem zu orientieren, was sie für das Landeswohl halten. Schließlich hat die neue Koalition gerade auf dem Felde der politischen Kultur Akzente gesetzt, die normalerweise einer Blockbildung entgegenstehen. Schon jetzt scheint deshalb klar, daß bestimmte landespolitische Ziele (wie vor kurzem gerade die Verankerung des Konnexitätsprinzips) in der Perspektive auch einen Dialogzugang zur Opposition erfordern und insgesamt noch mehr als bisher ein dialogischer, innovativer und pragmatisch lösungsorientierter Politikstil entwickelt werden muß.

Nicht zuletzt geht es um den schrittweisen, aber gezielten Aufbau einer demokratischen Öffentlichkeit im Lande und besonders auch in den Kommunen, ohne die die Einleitung von zukunftsfähigen Reformen kaum vorstellbar ist. Heute kann man noch nicht oder bestenfalls nur marginal feststellen, daß es medial vermittelte öffentliche Diskurse über grundlegende Fragen der Entwicklung des Landes gäbe. Die Medien bedienen eher die Lust auf Sensation und Konflikt als die Mühen des inhaltlichen Diskurses. Interessanter sind hingegen regionale und politikfeldspezifische Foren, so zu Fragen der Perspektiven der Jugend. Die demokratische Bürgergesellschaft, die sich von »unten« her in die politischen Prozesse einbringt, ist dennoch zu wenig entwickelt. Oder – auch darüber wäre nachzudenken – sie ist von den kulturellen Eigenheiten der Menschen im Lande auf besondere Weise geprägt. Die demokratische Bürgergesellschaft oder »Zivilgesellschaft« in Mecklenburg-Vorpommern wird ohne Zweifel andere kulturelle Merkmale aufweisen als jene in Nordrhein-Westfalen oder Sachsen. Hiervon wäre auch in der Politik auszugehen. Wissenschaftliche Erkenntnisse fehlen indes hierzu noch.

Ein damit verbundenes, von den Parteien noch zu wenig aufgegriffenes Thema der Entwicklung politischer Kultur besteht in der Förderung bürgergesellschaftlichen Engagements, in der Vereinfachung oder Beseitigung von Hürden für Bürgeranfragen, demokratischer Bürgerinitiativen, Bürgerbegehren und Bürgerentscheide. Einiges ist in Richtung von Demokratieverbesserungen zweifellos im Verlaufe des letzten Jahres eingeleitet worden, ohne damit jedoch auf besondere Resonanz in der Bevölkerung zu stoßen. Zu hoffen ist, daß der aus der Bundes-SPD hervorgebrachte Vorstoß zur Weiterentwicklung der Bürgerdemokratie auch neue Impulse für die Landesentwicklung bringt. Der in der Bevölkerung vorherrschende politische Frust kann nur aufgelöst werden, wenn sich nicht nur in der Koalition, sondern auch im Lande selbst, in der Öffentlichkeit ein neuer Stil des Dialogs und der sachorientierten Auseinandersetzung entwickelt. Moderne, reformorientierte Politik hat nun mal – anders als strukturkonservative Politik – nur eine Chance, wenn sie auf öffentliche demokratische Debatten und öffentliche demokratische Lernprozesse setzt. Dies scheint eine der wichtigsten Herausforderungen und Voraussetzungen für progressive Reformprozesse zu sein.

Fünftens: In einer Reihe von Projekten und Handlungsmustern finden Politikinhalte der Demokratie, der Versöhnung und der Gerechtigkeit einen größeren Niederschlag als zuvor. Hierin besteht gerade für die Linken die eigentliche Kernfrage der Bewertung dieser Regierungskoalition: Kann eine rot-rote Regierung mehr Demokratie und soziale Gerechtigkeit erreichen als andere Regierungsformen? Wenn diese Frage auf Mecklenburg-Vorpommern bezogen wird, zeigt sich gegenüber den CDU-geführten Vorgängerregierungen eine Reihe neuer Akzente in dieser Richtung: Für Demokratieverbesserungen sprechen die Einführung des Wahlrechts ab 16 Jahre (kommunale Ebene), Verbesserung der demokratischen Rechte in den Schulen, Stärkung von Mitspracherechten beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Für die Umsetzung des Versöhnungsgedankens spricht seitens der Koalition der Verzicht auf eine Art der Auseinandersetzung, die dem politischen Gegner die Würde nimmt; daneben könnte es der Verzicht auf die »Regelanfrage« beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit sein, wenn dies – was bislang zu wenig der Fall ist – mit einer differenzierteren öffentlichen Vergangenheitsbewältigung einherginge. Und für mehr Gerechtigkeit sprechen die Bestrebungen, Arbeitslosen eine Chance über die Schaffung eines öffentlichen Beschäftigungssektors zu geben, den Zukunftschancen junger Menschen größere Aufmerksamkeit zu widmen (Mobilitätshilfen, »Jugend baut«, Etablierung von Jugendfirmen, Projekt DUO usw.), Gleichstellungsfragen zwischen Mann und Frau als ressortübergreifendes politisches Anliegen zu entwickeln, das soziale Beratungs- und gesundheitliche Betreuungsnetz aus- und Dispensaireketten aufzubauen oder die umstrittene Förderung des privaten Erwerbs von Plattenbauwohnungen.

Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang eine Arbeitsmarktpolitik, die auf einen intelligenteren Einsatz der vorhandenen arbeitsmarktpolitischen Instrumente und Mittel setzt. Der Einstieg in einen öffentlichen Beschäftigungssektor (ÖBS), der hierbei nur einen neben anderen Politikinhalten darstellt (mit bisher über 300 Beschäftigten in gemeinwohlorientierten Arbeitsprojekten), zielt auf eine Verbesserung der »weichen« soziokulturellen Standortfaktoren, auf die Etablierung regionaler Netze zwischenbetrieblicher und institutioneller Strukturen, auf die Selbstorganisation und -koordination lokaler/regionaler Akteure. Es geht also nicht einfach um eine staatliche Alimentierung von Arbeitsplätzen, sondern um den Aufbau gemeinwohlorientierter, aber wettbewerbsfördernder sozioökonomischer regionaler Infrastrukturen.

Wahrnehmungsmuster der Akteure

Diese genannten fünf Punkte, die gleichsam reformorientierte Ansätze wie auch neue Herausforderungen zum Ausdruck bringen, ändern noch nichts daran, daß von den durch uns befragten Akteuren in Parteien, Verbänden, Verwaltungen und anderen Institutionen keine neue Gesamtqualität des Regierungshandelns wahrgenommen wird. Wenn sie nicht wahrgenommen wird, kann folglich von ihr auch kein Motivations- oder Innovationsschub ausgehen. Auch innerhalb des Regierungslagers, besonders in der PDS, wird auf die kritischen Punkte der bisherigen Koalitionszeit aufmerksam gemacht, ohne die beachtlichen Neuansätze, die die Koalition erbracht hat, gering zu schätzen. Es gibt – so stimmen die meisten der von uns befragten Akteure überein – Ansätze eines Politikwechsels, aber keinen Politikwechsel, keine neue Gesamtqualität der Politik auf Landesebene. Es wird mehr diskutiert im Lande – das ist der Ansatz einer Veränderung der politischen Kultur –, aber es gibt noch keine neue politische Kultur und kein neues politisches Klima im Land. Von einer neuen geistig-moralischen Führerschaft bzw. Hegemonie im Lande durch die Koalition kann man nicht sprechen. Im Gesamtbild überwiegt die Kontinuität – manche Gesprächspartner drücken es kritischer aus: Es gibt nicht viel Neues. Sie drücken dabei vor allem auch aus, was mehrheitlich in der Bevölkerung empfunden wird. Der Regierungswechsel wurde nur ansatzweise zu einem tatsächlichen Politikwechsel fortgeführt. Positiv gewendet, betonen vor allem Führungskräfte in der Ministerialverwaltung, daß es eine sinnvolle Kontinuität des Regierungshandelns gäbe. Möglicherweise wäre es nach eineinhalb Jahren auch nicht realistisch, einen tatsächlichen »Politikwechsel« oder gar eine neue Reformpolitik zu erwarten. Die Frage ist jedoch, ob diese Ansätze erweitert und vertieft werden können, so daß sie im Lande mit wachsender Zustimmung wahrgenommen werden. Auch diese Frage ist heute noch offen.

Am kritischsten wird unter den befragten Akteuren – sei es innerhalb des Koalitionslagers oder außerhalb – eine gewisse Entscheidungsschwäche wahrgenommen. Zwar wird zugestanden, daß die Spielräume relativ gering sind, andererseits wird angemahnt, daß die Möglichkeiten nicht konsequent genutzt werden, daß es an Beweglichkeit und Weitsicht fehle. Schwerer noch wiegt, daß der Koalition seit dem Streit um die schulartenunabhängige Orientierungsstufe das Merkmal zugeschrieben wird, möglicherweise nicht einmal solche Beschlüsse verwirklichen zu können, die klar in der Koalitionsvereinbarung festgelegt waren und zudem nicht zu den schwierigsten Problemen des Landes gehören.

Perspektiven

Auch wenn regionale Reformansätze in starkem Maße in nationale, europäische und globale Zusammenhänge gestellt sind, stellen sie zunehmend ein relativ selbständiges politisches Aktionsfeld dar, können sich in unterschiedlichen Varianten entwickeln und sogar eigenständige Anstöße hervorbringen. In Mecklenburg-Vorpommern bleiben die Herausforderungen, einen solchen Reformkurs einzuleiten, der das Land nicht überfordert, aber neue Perspektiven zeigt: In öffentlichen Diskursen zukunftsorientierte Leitideen für die Entwicklung des Landes und seiner Sub-Regionen erarbeiten; Haushaltskonsolidierung mit Reformperspektiven und Interessentransformation verbinden; Prioritäten, Mechanismen und Effizienzen der Landesförderpolitik überprüfen nach Gesichtspunkten der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit und nach der Verbesserung sozialer Gerechtigkeit; hierbei die Zusammenarbeit zwischen den Ressorts zu verbessern und nach Synergieeffekten zu suchen; Wirtschafts- und Arbeitsförderung integrativ nach Schwerpunkten voranbringen; ÖBS zu einem modernen gemeinwohlorientierten Dienstleistungsbereich entwickeln, der zur Entwicklung regionaler sozioökon omischer Infrastrukturen beiträgt und sich neben einer öffentlichen Grundförderung auch eigenfinanzieren kann und leistungsorientiert stimuliert wird; moderne, bürger- und dienstleistungsorientierte Verwaltungsreform, die weniger mit neuen Zentralisierungen bei der Ministerialverwaltung einhergeht als vielmehr mit Subsidiariät, Eigenverantwortung, Stimulierung regionaler innovativer Akteursnetzwerke.

In diesen Herausforderungen – wie sie hier skizziert sind – verbinden sich allgemeine Reformerfordernisse mit solchen, die eher auf einen modernen linksdemokratischen Ansatz zielen. Diese Verbindung wäre mit dem gegenwärtig bestehenden Koalitionsgefüge in Mecklenburg-Vorpommern prinzipiell kompatibel, wenn sich beide Parteien entschiedener auf einen modernen Reformkurs einließen. Die Frage nach der Möglichkeit einer linksdemokratisch mitgestalteten und beeinflußten regionalen Reformalternative ist heute noch nicht ausreichend diskutiert und erst recht noch nicht praktisch entschieden, auch mit der rot-roten Regierungsform in Mecklenburg-Vorpommern nicht. Eine günstige Voraussetzung (»Voraussetzung« ist noch keine hinreichende Bedingung!) hierfür besteht jedoch in diesem Lande: Regierungsmacht. Denn solche weitreichenden reformerischen Veränderungen und derart komplexe gesellschaftliche Steuerungsprozesse können zwar auch aus der Opposition heraus beeinflußt werden, dürften ihr aber ohne die entsprechenden Steuerungs- und Entscheidungskompetenzen letztlich kaum den »Stempel« aufdrücken können.

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Frank Berg – Jg. 1951, Prof. Dr. phil. habil., Sozialwissenschaftler/Politikwissenschaftler am BISS e.V. – Brandenburg-Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien

 

»Der Übergang von der ›Interessensicherung‹ zur ›Interessentransformation‹ ist ein gesellschaftlicher Vorgang, der durch Politik nur dann beschritten werden kann, wenn es ein öffentliches Bewußtsein über die Notwendigkeit und die Möglichkeit solcher Transformationen gibt. Dazu gehören die Einsicht, dass man aussteigen muß, und die begründete Hoffnung, auf einem neuen Weg nicht nur Altes zu verlieren, sondern auch Neues zu gewinnen.«
Rainer Land: Reformpolitik in Zeiten der Depression, Berliner Debatte INITIAL, H. 4/5, 1999, S. 13.

Ostdeutschland kann durchaus eine Vorreiterrolle spielen, und zwar nicht – wie dies schon beinahe die Regel ist – in bezug auf die Abkopplung von den Tarifregulierungen, sondern bei der Anbahnung struktureller und institutioneller Reformen hin zu einem neuen Modernisierungspfad.

Am 15. März 2000 beschloß der Landtag einstimmig (!) die Verankerung des Konnexitätsprinzips in der Landesverfassung. Konnexität bedeutet, daß das Land verpflichtet ist, den Kreisen und Gemeinden Mehrkosten auszugleichen, wenn vom Land durch Gesetz oder Verordnung Aufgaben an die Kreise und Gemeinden übertragen werden.

Koalitionsvertrag zwischen SPD und PDS,
Punkt 127: »Um den pädagogischen, demographischen und flächenlandspezifischen Anforderungen gerechter zu werden, wird die schulartenunabhängige Orientierungsstufe eingeführt. Ihre Anlagerung an die Grundschule oder eine weiterführende Schule wird nach den jeweiligen Gegebenheiten vor Ort entschieden. In der Legislaturperiode werden die notwendigen Maßnahmen für den langfristigen Übergang zur sechsjährigen Grundschule eingeleitet.«

Punkt 208: »Die Obergrenze für die Nettokreditaufnahme wird im Jahr ... 2000 auf 650 Mio. DM, im Jahr 2001 auf 550 Mio. DM, im Jahr 2002 auf 450 Mio. DM festgesetzt. In begrenztem Umfang kann einvernehmlich eine Verschiebung der Kreditaufnahme innerhalb des Vierteljahreszeitraumes vorgenommen werden.«

Punkt 217: »Beide Fraktionen verpflichten sich, nicht mit wechselnden Mehrheiten abzustimmen. Die freie Gewissensentscheidung des einzelnen Abgeordneten bleibt hiervon unberührt.«

»Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Positionen der PDS hat die CDU nicht zum ersten Mal angekündigt. Worte sind das eine, Taten das andere. Und selbige haben wir im Landtag noch nicht zur Kenntnis nehmen können.«
Angelika Gramkow, Fraktionsvorsitzende der PDS, Presseinformation vom 25. April 2000.

 

1 Frank Berg, Thomas Koch: Politikwechsel in Mecklenburg-Vorpommern? Studie, März 2000, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, 99 Seiten, im Erscheinen.

2 Weniger auf eine Finanzierung angewiesen sind z.B. solche wichtigen Reformbereiche wie Demokratie und politische Kultur. Die Reformmöglichkeiten in anderen Bereichen, so zum Beispiel bei der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, Umwelt-, Verkehrs-, Sozial- und Bildungspolitik sowie bei der Regionalentwicklung insgesamt hängen zu einem großen Teil von den Finanzierungsmöglichkeiten ab.

3 Vgl. hierzu u.a. die Diskussion im Neuen Deutschland vom 25. Februar und 16. März 2000.

4 Vgl. Rainer Land: Reformpolitik in Zeiten der Depression, in: Berliner Debatte Initial, 1999, Heft 4/5, S. 5-19; vgl. auch Renate Mayntz, Fritz W. Scharpf: Steuerung und Selbstorganisation in staatsnahen Sektoren, in: dieselben (Hg.): Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, Frankfurt/Main, New York 1995, S. 9-38.

5 Die Vergrößerung des Wirkungskreises bezieht sich vor allem auf die drei PDS-Minister, bedingt auch auf die PDS-Fraktion im Landtag (kaum jedoch auf den Landesverband der PDS). Seitens der verschiedensten Interessenorganisationen, darunter der Unternehmerverbände, werden sie heute kraft ihrer Regierungsposition wesentlich mehr als in den zuvor liegenden »Oppositionszeiten« als Adressat, Ansprech- und Verhandlungspartner ihrer Interessenpolitik akzeptiert.

6 Nach den Vorstellungen der SPD sollen zwar in allen Schulformen gemeinsame Rahmenlehrpläne bis einschließlich 6. Klasse gelten (bei zusätzlichen Förder- und Teilungsstunden im Hauptschulbereich), die Eltern behalten jedoch das Entscheidungsrecht darüber, in welcher Schulform die 5. und 6. Klasse absolviert wird.

7 Vgl. Mittelfristige Finanzplanung 1999-2003 des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin 1999.

8 Nach einer Prognose der Bevölkerungsentwicklung verliert das Land Mecklenburg-Vorpommern zwischen 1998 und 2010 etwa 4,7% seiner Einwohner (84.075 Personen). Vgl. Klaus-Peter Möller, Matthias Günther (Eduard Pestel Institut für Systemforschung e.V.): Bevölkerungs-, Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung in Mecklenburg-Vorpommern bis zum Jahr 2010, hrsg. vom Wirtschaftsministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern und LBS Ostdeutsche Landesbausparkasse, Hannover 1998.

9 Vgl. Mittelfristige Finanzplanung 1999-2003 des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin 1999, S. 27f.

10 Franz Müntefering: Demokratie braucht Partei. Die Chance der SPD, Beitrag vom 2. April 2000. Hier wird u.a. eine Einführung von Vorwahlen bei den Kandidatenaufstellungen ab Bundestagswahl 2006, die Einführung des Kumulierens bei Kommunalwahlen sowie die Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene vorgeschlagen.

11 Diese Einschätzung vertreten vor allem Akteure, die aus dem Umfeld der ehemaligen Bürgerbewegungen in der DDR kommen. Bemerkenswerte, wenngleich umstrittene Ergebnisse für eine Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit erbrachte Mitte der neunziger Jahre die Enquetekommission »Leben in der DDR, Leben nach 1989 – Aufarbeitung und Versöhnung« des Landtages.

12 Vgl. Helmut Müntefering: Der Einstieg in den öffentlich-geförderten Beschäftigungssektor in Mecklenburg-Vorpommern, in: Harald Werner (Hg.): Zwischen Staat und Markt. Der öffentliche Beschäftigungssektor, Hamburg / Schwerin 1999, S. 132-144