Publication Ungleichheit / Soziale Kämpfe Kapitalismus total

Eine Auseinandersetzung mit dem herrschenden Marktfundamentalismus. von Michael Brie

Information

Series

Online-Publ.

Author

Michael Brie,

Published

March 2002

Ordering advice

Only available online

Eine Auseinandersetzung mit dem herrschenden Marktfundamentalismus

Der Kapitalismus ist wieder ins Gerede gekommen. Dagegen schien vor zehn Jahren, 1989, doch alles klar: Der Kapitalismus ist nicht nur besser als der Staatssozialismus, sondern er ist zugleich die beste aller möglichen Gesellschaften. Marx war toter als ein toter Hund und sein Werk wurde in das Reich historischer Absurditäten verbannt. Der Kapitalismus schien in der Lage zu sein, alle jene Probleme, auf die seine Kritiker immer wieder verwiesen hatten, letztlich doch zu lösen.

Zehn Jahre später sind diese Gewissheiten fragwürdig geworden. Zwar ist die Faszination, die von der ungeheuren Entwicklungsfähigkeit des Kapitalismus ausgeht, ungebrochen, doch wächst zugleich wieder die Besorgnis über die Zerstörungen, von denen diese Entwicklung begleitet ist. Nur sind auch hier Gewinne und Verluste sehr ungleich verteilt. Fasziniert sind alle von diesem Kapitalismus, betroffen von den Zerstörungen aber sind gerade die, die am wenigsten die Macht haben, sich öffentlich zu äußern und wirksam zu wehren. Und wenn, dann schlagen sie oft jene tot, die sich noch weniger wehren können.

Ein machtvoller Geist geht um auf diesem Globus – der Kapitalismus. Was aber ist dieser allgegenwärtige Kapitalismus? Um das zu erfahren, kann man entweder im Hauptwerk von Karl Marx, dem „Kapital“ (1867), oder im Hauptwerk des wohl erfolgreichsten Börsenspekulanten der Gegenwart, George Soros, „Die Krise des globalen Kapitalismus“ (1998), nachlesen.

Marx beschrieb die „allgemeine Formel des Kapitals“ mit jener Bewegung, in der aus Geld ein Mehr an Geld wird. Kapital sei „geldheckendes Geld“: „Die Zirkulation des Geldes als Kapitals ist Selbstzweck ... Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos.“ Und ganz ähnlich findet Soros hinter dem kapitalistische Weltsystem ein einziges Grundprinzip: „Geld. Am Ende, darüber sollten wir uns keine Illusionen machen, dreht sich alles um Profit und Reichtum.“

Wenn man also eine kurze Definition haben will: Kapitalistisch sind jene Gesellschaften, in denen die Kapitalverwertung (das Prinzip der „Profitmaximierung“) in Wirtschaft, Politik, Kultur und internationalen Beziehungen herrscht, sei es direkt oder sei es über jene Zwänge, die sich aus seiner Vorherrschaft für alle Bereiche der Gesellschaft ergeben. Heute werden sie oft „Sachzwänge“ genannt. In Wirklichkeit sind es Machtverhältnisse und Vergesellschaftungsformen.

Konfrontiert mit der Janusköpfigkeit des Kapitalismus des 19. Jahrhunderts – Anhäufung privaten Reichtums in den Händen der Kapitaleigentümer auf der einen und Verelendung des Proletariats auf der anderen Seite (und Belege dafür gab es mehr als genug) – entwickelte der klassische Marxismus die Position einer radikalen Beseitigung des Marktes. Die Macht des Kapitals, sich alle gesellschaftlichen Lebensbereiche zu unterwerfen, ließe sich, so die Behauptung, nur dann brechen, wenn man den Ausgangspunkt der Kapitalbewegung, das Geld selbst, abschaffe.

Hatte Marx Grundlagen für eine fundamentalistische Ideologie der Marktnegation entwickelt, so herrscht heute ein anderer Fundamentalismus – der neoliberale „Marktfundamentalismus“ (Soros). Die Vertreter dieser Ideologie glauben, dass die uneingeschränkte Durchsetzung des freien Spiels der Marktkräfte und damit der völlig ungebremsten Dominanz der Kapitalverwertung die Lösung der gegenwärtigen Probleme sei. Sie wollen den Staat, die Gesellschaft, die Familie, jeden einzelnen in einen Unternehmer verwandeln: „Wettbewerbsstaat“ und „unternehmerische Wissensgesellschaft“ sind zwei Schlagwörter dieser Ideologie.

George Soros ist milliardenschwerer Profiteur des Weltkapitalismus. Gerade deshalb lässt es aufhorchen, wenn er nach einem Jahrhundert, für das Auschwitz Inbegriff nicht zu überbietenden Grauens war (und er selbst ist Auschwitz nur durch falsche Papiere entkommen), behauptet: „Der heutige Marktfundamentalismus ist eine wesentlich größere Bedrohung ... als jede totalitäre Ideologie.“ Hinzuzufügen wäre nur, dass der neoliberale Marktfundamentalismus selbst eine Variante totalitärer Ideologien ist: Ein einzelnes Prinzip sozialer Kooperation und sozialen Austauschs – der durch die Kapitalverwertung vorangepeitschte Markt – soll die Totalität der gesamten Gesellschaft organisieren.

Aber eine ins Totalitäre gesteigerte Vorherrschaft des Kapitals ist nicht überlebensfähig. Vorübergehende Erfolge der neoliberalen Globalisierungsattacke sollten diese Tatsache nicht verschleiern. Auch der sowjetische Staatssozialismus hatte mit dem Sieg über Hitlerdeutschland und dem Sputnikschock seine großen Stunden. Die Planwirtschaft war nicht immer und nicht überall unterlegen gewesen. Über Jahrzehnte schien vielen der „Vormarsch des Sozialismus“ unaufhaltbar. Der Westen hat gigantische Summen investiert, um dem zu widerstehen. Vor allem wurde er dabei auf einige Zeit sozialer.

In den Auseinandersetzungen mit dem politischen Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts entwickelte sich die Philosophie und Praxis der politischen Gewaltenteilung. Mit dem Widerstand der Arbeiterbewegung gegen die ruinöse Praxis einer Billigkonkurrenz der Arbeiter um die knappen Arbeitsplätze entstanden Formen der Tarifautonomie, der Vertretung von Interessen der abhängig Beschäftigten als Macht auf dem Arbeitsmarkt. Zur Sicherung nicht zuletzt der militärischen und wirtschaftlichen Macht der Nationalstaaten entwickelte sich ein Sozialstaat. Es kam zur Teilung wirtschaftlicher, politischer und kultureller Macht zwischen dem Kapital und anderen sozialen Kräften. Genau dies ist die Bedingung der langfristigen und zugleich eingeschränkten Existenz des Kapitalverhältnisses.

Die Krisen kapitalistischer Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert wurden dadurch immer wieder überwunden, dass Schritte weg von einer totalen Vorherrschaft der Kapitalverwertung und hin zu wirtschaftlicher Gewaltenteilung, des Ausbaus des Staates und Stärkung der Zivilgesellschaft als Garanten sozialer Integration, Durchsetzung sozialer und kultureller Grundrechte gegangen wurden. Die Einschränkung von Vormacht des Kapitals und seiner Selbstverwertungsinteressen war, so paradox es klingt, die wichtigste Bedingung für die Erfolgsgeschichte kapitalistischer Wirtschaften. Die andere Seite dieser Geschichte sind wiederholte Versuche, jede Fessel der Kapitalverwertung überhaupt abzustreifen. Denn wer, der Geld hat, möchte nicht (fast) um jeden Preis „Mehr-Geld“ haben?!

Die Versuche der Totalisierung des Kapitalverhältnisses sind deshalb zum Scheitern verurteilt, weil sie die Bedingungen der Existenz dieses sozialen Verhältnisses untergräbt, erstens wirtschaftlich, zweitens politisch und drittens moralisch.

Erstens: Von Rosa Luxemburg wurde ein Position entwickelt, deren wirkliche Bedeutung uns möglicher Weise gerade erst jetzt bewusst werden wird. Sie schrieb 1913 über die Akkumulation des Kapitals: „Der Kapitalismus ist die erste Wirtschaftsform mit propagandistischer Kraft, eine Form, die die Tendenz hat, sich auf dem Erdenrund auszubreiten und alle anderen Wirtschaftsformen zu verdrängen ... Er ist aber zugleich die erste, die allein, ohne andere Wirtschaftsformen als ihr Milieu und ihren Nährboden, nicht zu existieren vermag, die also gleichzeitig mit der Tendenz, eine Weltform zu werden, an der inneren Unfähigkeit zerschellt, eine Weltform der Produktion zu sein.“

Nur ein Beispiel: Der Kapitalismus hat sich in den letzten zweihundert Jahren fast die gesamte Fertigung materieller Güter außerhalb der privaten Haushalte unterworfen. Im Gefolge ist die Beschäftigung in Landwirtschaft und Industrie in den USA auf ein bzw. rd. zwölf Prozent gesunken. Es wurde Zeit für Dienstleistungen frei, vor allem für humanorientierte Dienstleistungen, Zeit aber auch für individuelle Selbstverwirklichung und gemeinschaftliche Tätigkeit. Indem das Kapital mit seinem Zwang zur Effizienzsteigerung sich die Güterfertigung unterwarf, hat sie das Reich dieser besonderen Notwendigkeit immer weiter eingeengt und den Zwang geschaffen, neue Wirtschaftsformen zu schaffen.

Humanorientierte Dienstleistungen aber, ganz zu schweigen von Selbstverwirklichung und gemeinschaftlicher Tätigkeit, Reiche der Freiheit überhaupt, lassen sich nicht im gleichen Maße kapitalisieren wie die Güterfertigung. Es sind jedoch gerade diese Bereiche von Kultur, Bildung, Wissenschaft und Sozialarbeit, die die eigentlichen Innovationsquellen und Basis einer lebenswerten Gesellschaft der Vergangenheit wie der Zukunft darstellen.

Der Zwang zur Effizienzsteigerung, der vom Kapitalverhältnis ausgeht, schränkt es zwangsläufig auf einige Wirtschaftsbereiche ein und erzwingt zugleich eine Abhängigkeit von anderen, von nichtkapitalistischen Bereichen. Die humane, die soziale und zukünftig auch die ökologische Dimension von Wirtschaft ist Bedingung für Wirtschaft. Sie sind es auch, von denen eine immer größere Nachfrage ausgeht, die den Motor kapitalistischer Produktion darstellt. Die Umverteilung von heute 40 bis 50 Prozent des Bruttosozialprodukts in nichtkapitalitische Bereiche ist irreversibel.

Zweitens: Kapitalverwertung ist auf eine stabile Rechtsordnung, auf eine legitime politische Macht, auf öffentliche Infrastruktur (vor allem auch Bildung, Wissenschaft, Kultur) angewiesen. Gerade jene Länder waren in den letzten 200 Jahren erfolgreich, in denen diese Bedingungen gegeben sind. Dies verlangt aber, dass Recht, politische Macht und Entwicklung der öffentlichen Infrastruktur in ihrem Eigenwert erhalten werden. Nur zwei aktuelle Verweise: Wer aus politischem Machtinteresse Geld von Waffenhändlern nimmt oder Wahlen mit Spekulationsgewinnen und Geldwäsche finanziert, wird Waffenhändler wohl kaum politisch kontrollieren und Demokratie nur schwerlich bewahren können.

Drittens ein nur scheinbar schwaches, ein moralisches Argument: Totalitäre Herrschaften sind auch deshalb zusammengebrochen, weil sie nicht auf Dauer akzeptiert wurden. Wieso, um alles in der Welt, sollten gerade wir es hinnehmen, dass unsere Gesellschaft in eine Aktiengesellschaft verwandelt wird, die das Wohl der Vielen opfert, nur um der Gewinne einiger weniger Hauptaktionäre willen?