Das zweite europäische Sozialforum nimmt Konturen an
Vorbereitungstreffen in Bobigny, 27.-30. September 2003
Eigentlich hatte die internationale Programmgruppe in Paris am 20. und 21. September sowohl die Rednerlisten für die zentralen Konferenzen des Europäischen Sozialforums als auch die Liste der vorgeschlagenen Seminare fertigstellen sollen. Allein die Debatten um die Rednerlisten brauchten jedoch zwei Tage, um die gewünschten Zusammensetzungen zu erreichen: der Anteil der Frauen, der eigentlich grundsätzlich 50 Prozent erreichen sollte (der Vorschlag für die 18 Rednerinnen und Redner aus Deutschland wurde so gemacht) lag beispielsweise bei etlichen Ländern aus dem Süden Europas und bei den Vertretern der Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes deutlich niedriger. Auch sollen auf den unterschiedlichen Konferenzen sowohl Fachleute verschiedener Gebiete, Frieden, Umwelt, Welthandel, Einwanderungspolitik usw., als auch Aktivisten der sozialen Bewegungen und der Betroffenenorganisationen zu Wort kommen.
Diesen Vorschlag zu erarbeiten, damit die "Assemblée Européenne", die vom 28. bis 30. September in Bobigny in der Nähe von Paris tagte, ihn bestätigen konnte, brauchte seine Zeit. Fast noch komplizierter war es, aus den über 700 Vorschlägen, die von Organisationen und Initiativen aus ganz Europa für die Durchführung von Seminaren gemacht wurden, die maximal 240 auszuwählen, die schon aus räumlichen Gründen überhaupt stattfinden können. Vielen Gruppen wurde empfohlen, sich mit anderen, die ähnliche Vorschläge gemacht hatten, zusammen zu schließen und eine gemeinsame Veranstaltung anzubieten. So war eine zusätzliche Tagung der Programmgruppe am 26. und 27., vor Beginn der Assemblée, erforderlich geworden. Am Ende jedoch konnten ausgewogene Vorschläge erarbeitet werden, die bestätigungsreif waren.
Das zweite Europäische Sozialforum wird nun also am 12. November mit künstlerischen Programmbeiträgen eröffnet und am 15. November mit einer großen Demonstration in Paris für Frieden und gegen Sozialabbau beendet. Veranstaltungsorte werden Saint Denis, Bobigny, Ivry - drei Vorstädte von Paris - sowie die Hauptstadt selbst, vor allem mit dem großen Veranstaltungszentrum von La Villette, sein.
In diesem Zusammenhang überschattete eine scharfe Kontroverse die Assemblée von der ersten Sitzung am 28. bis zur letzten am 30. September. Was ist der Hintergrund? Die französische Regierung ist derzeit dabei, die berufsspezifische Arbeitslosenversicherung der Bühnen-, Film- und Fernsehbeschäftigten unter Verweis auf die Welthandelsorganisation zu "reformieren", d.h. sie zu beseitigen. Diese Versicherung war 1936 begründet worden und zielt darauf, die übliche Arbeit mit Unterbrechungen in den beschäftigungslosen Zeiten auszugleichen und damit Künstlern eine gewisse soziale Absicherung zu geben. Seit diese "Reformdebatte" im Sommer begann, gab es eine Reihe von Protesten der Künstler, Demonstrationen, Streiks, Störungen bei Dreharbeiten, Protesterklärungen bei Festivals. Das Motto: "Kunst ohne Künstler ist wie Demokratie ohne Stimmen" richtet sich gegen die internationalen Medienkonzerne, die reale Künstler immer weniger brauchen und stattdessen unmenschliche virtuelle Welten produzieren.
Nun hatte die Stadt Ivry, die zudem ein traditioneller Ort der Kunstproduktion ist, beschlossen, 400.000 Euro für die Unterstützung des Europäischen Sozialforums zur Verfügung zu stellen. Die müssen nach französischer Kommunalverfassung allerdings in Ivry selbst ausgegeben werden. Der einzige Veranstaltungsort, in dem sich große Tagungen dort machen lassen, ist allerdings ein Multiplex-Kino, das einem der einschlägigen Konzerne gehört. Aus der Sicht protestierender Künstler ist dies eine symbolische Unterordnung des Sozialforums unter Konzerninteressen. Aus der Sicht der französischen Organisatoren bedeutete, dort nicht hinzugehen, auf die Unterstützung von Ivry zu verzichten und mindestens 60 Seminare weniger machen zu können. In der Debatte sagte ein Vertreter des Bauernverbandes, er verstehe die Künstler nicht; die Vertreter der globalisierungskritischen Bewegung fliegen ja auch mit einem Flugzeug nach Cancun, das einem Konzern gehört, und benutzen für ihre Kommunikation meist E-Mail und einen Computer von Microsoft. Entscheidend sei doch der Inhalt. Am Ende wurde vereinbart, zwischen den französischen Organisatoren des Forums und den Organisationen der Künstler weiter im Gespräch zu bleiben. Das könnte den Protagonisten der Globalisierung so passen, ausgerechnet deren Opfer gegen das Sozialforum in Stellung zu bringen, sagte ein griechischer Freund in der Pause.
Eine weitere Auseinandersetzung entspann sich um die Fortsetzung der Bewegung der Sozialforen. Die europäische sozialkritische Bewegung braucht eine Entscheidung über ein drittes Sozialforum, und sie sollte auf dem Forum in Paris verkündet werden. Erklärte Kandidaten sind Österreich, London und Athen. Die Österreicher schlugen ein Sozialforum im Sommer in Salzburg vor. Das wurde von den politischen Akteuren aus den südlichen Ländern abgelehnt. Es passe nicht in ihren "politischen Kalender" und außerdem solle ein Sozialforum ja nicht nur ein nettes Event sein. Derweil hatten sich die Vertreter der drei griechischen Gruppierungen einerseits und die Londoner andererseits auf einen Vorschlag im Doppelpack geeinigt: 2004 London und 2005 Athen. Der englische Vorschlag hatte dadurch an Gewicht gewonnen, dass ein persönlicher Beauftragter des "roten" Bürgermeisters von London, Ken Livingston, anwesend war und die Unterstützung der Stadt mitteilte. Einige große britische Gewerkschaftsverbände haben ebenfalls Unterstützung signalisiert.
Die französische Tagungsleitung wollte die Assemblée von Bobigny mit einem Beschluß zu London und Athen zu Ende bringen. Dagegen wurde aus Portugal und Osteuropa eingewandt, man könne nicht zustimmen, weil mehr Zeit zum Nachdenken und zur Konsultation in den eigenen Netzwerken erforderlich sei. Aus Italien wurde dagegen betont, es bestehe doch ein "breiter Konsens" der Anwesenden und man könne die wenigen Nicht-Zustimmungen fallen lassen. Dem folgte die Versammlung nicht - einen "breiten Konsens" gibt es nicht, nur einen Konsens oder eine "breite Mehrheit". Die aber wäre der Abschied vom Konsensprinzip und der Einstieg in Mehrheitsentscheidungen gewesen. Das hätte die Grundlagen der Bewegung der Sozialforen deutlich verändert. Das spürten die Anwesenden. So wurde beschlossen, am 10. November in Paris eine zusätzliche Assemblée Européenne zu veranstalten, zu dem einen Zweck, dem Sozialforum von Paris den Vorschlag für das nächste Europäische Sozialforum zu unterbreiten.