Enteignung von ›oben‹ und (Wieder-)Aneignung von ›unten‹ - tragfähige theoretische Konzepte für linke Analysen und Politiken?
Bericht vom Europäischen Workshop des Netzwerks „Privatisierung – Öffentliche Güter – Regulation“ der Rosa Luxemburg Stiftung, auf dem 27. Jahreskongress der Bundeskoordination Internationalismus, 21.05.2004, Kassel.
Zur Bearbeitung struktureller Überakkumulation und Erschließung neuer Verwertungsbereiche greifen herrschende Gruppen zunehmend auf Politiken der Kommodifizierung, Inwertsetzung, Privatisierung etc. zu - neuere Ansätze, etwa von David Harvey (New York, „The New Imperialism“), diskutieren dies unter dem schwer übersetzbaren Begriff von „dispossession“, meist als „Enteignung“ übersetzt. Dagegen werden in linken Diskursen Konzepte der Deprivatisierung und Verteidigung öffentlicher Güter und / oder alltagspraktische Politiken der Wiederaneignung gesetzt. Diskutiert werden soll in zwei Blöcken, inwiefern diese Begrifflichkeiten für die Analyse gegenwärtiger Widersprüche neoliberaler Vergesellschaftung und die Entwicklung entsprechender widerständiger Praxen nutzbar gemacht werden können oder mehr verdecken als sie verdeutlichen.
Enteignung / Aneignung – beide Begriffe sind äußerst ambivalent. Enteignung wurde im marxistischen Diskurs zunächst mit der sog. „ursprünglichen Akkumulation“ in Verbindung gebracht, wie sie Marx in Kapital I entziffert hat. Gemeint sind die gewaltsamen Prozesse der Vertreibung vom Land in die Städte und die Enteignung der unmittelbaren Produzenten von den Produktionsmitteln. Beides diente als unverzichtbare Voraussetzung kapitalistischer Vergesellschaftung. Später galt die Enteignung entsprechend als das zentrale Projekt der Linken im Sinne einer „Expropriation der Expropriateure“ (Marx). Im der weiteren Praxis sozialistischer Politik verkürzte sich die Perspektive auf die Verstaatlichung der Produktionsmittel – eine Perspektive, die aufgrund historischer Erfahrungen und Niederlagen von der politischen Agenda gefegt wurde. Die reale Politik läuft heute wieder in die entgegengesetzte Richtung: hin auf eine Privatisierung von sog. Öffentlichen Gütern und Commons und eine Kommodifizierung von allem und jedem. Dies ist eine der Grundlagen einer veränderten Produktionsweise unter neoliberaler Hegemonie um neue Verwertungsmöglichkeiten zu erschließen, überakkumuliertes Kapital zu absorbieren, gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu verschieben und über die veränderte Eigentumsverhältnisse Machtpositionen zu betonieren.
Dagegen wird nun vermehrt die Perspektive der (Wieder-)Aneignung von links thematisiert. Zunächst erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Marx Aneignung in erster Linie als kapitalistische Aneignung von Mehrwert begreift. Und tatsächlich hat die Aneignung von Mehrwert heute dank globaler Ausdehnung des Lohnverhältnisses Maßstäbe angenommen wie nie zuvor. Doch hat Marx in den Widersprüchen kapitalistischer Vergesellschaftung und der Entwicklung der Produktivkräfte immer auch die Perspektive der Aneignung von ›unten‹ formuliert. Nicht nur des stofflichen Reichtums, sondern auch von Subjektivität, Denkräumen, Räumen der gesellschaftlichen und individuellen Entwicklung etc.
Im Spannungsverhältnis dieser Begriffe und den Widersprüchen, den damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen bewegte sich die 3,5-stündige Diskussion, an der sich ca. 30 Personen beteiligten. Bezweckt war ein Doppeltes: 1. Die Prüfung der Begriffe auf ihren analytischen Gehalt, inwiefern sie reale Verhältnisse besser begreifbar machen; 2. die Frage, welche politischen Perspektiven sich daraus ergeben und wie verallgemeinerungsfähig diese sind. Christian Zeller (Zürich) versuchte unterschiedliche Dimensionen von Enteignung zu identifizieren: a) Privatisierung; b) Raub und Spekulation; c) Aneignung andernorts produzierten Mehrwertes (via Oligopolisierung und Zentralisierung); und d) Schaffung intellektueller Eigentumsrechte. Er versucht damit die Diskussionen um ein „finanzgetriebenes Akkumulationsregime“ (Chesnais) und eine neue Welle der Enteignung (Harvey) zusammen zu bringen – Ergebnis sei eine Form der „Akkumulation ohne Investition“, womit er einen globalen Gesamtzusammenhang des Kapitalismus zu kennzeichnen versucht. Ulrich Brand (Kassel) diesen Analysetypus als überallgemein. Er bleibe sehr unkonkret auf unterschiedliche Bedingungen und Lebensverhältnisse bezogen, daher auch unklar, was dies für politische Praxis zur Folge hätte.
Christoph Görg (Frankfurt/Main) kritisierte die „innere Konsistenz“ dieses Ansatzes: sehr unterschiedliche Bereiche würden unter einen Begriff gezwungen. Er erinnert an das werttheoretische Faktum, dass Abschöpfung von Mehrwert durch zinstragendes Kapital nur auf der Aneignung andernorts produzierten Mehrwerts aufruhen kann. Es handelt sich bei Spekulationen nicht um Raub, sondern um eine Art „innerkapitalistische Enteignung“, wenn man so will. Etwas anderes ist die Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft zum Zwecke der Steigerung absoluter Mehrwertaneignung. Noch etwas ganz anderes ist die Ausdehnung kapitalistischer Verwertung, d.h. die „Enteignung“ nicht-kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Die Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse im Sinne ursprünglicher Akkumulation ist dabei seit jeher mit Raub und Gewalt verbunden erreicht durch die Entwicklung der Gentechnologien aber eine neue Stufe. Der Begriff der Kommodifizierung sei ebenfalls nicht ausreichend, da die Ressourcen um die es geht auch früher schon der Warenform unterworfen waren, etwa auf lokalen Märkten. An der Biopiraterie wird deutlich, dass es um mehr als Raub und Kommodifizierung geht. Auch bisher als Waren verfügbare Produkte oder Wissen wird in kapitalistische Produktionsmittel verwandelt. Zwar spielt Gewalt noch immer eine Rolle, Grundlage kapitalistischer Produktionsformen ist aber gerade der „frei“ geschlossene Vertrag (auch mit indigenen Bevölkerungen). Der Begriff der „Inwertsetzung“ fasse daher klarer, worum es geht. Darum drehen sich dann auch konkrete Kämpfe. Diese Auseinandersetzungen um Software sind ein weiteres Beispiel. In der Diskussion wurde dann die Frage nach Strategien der „Außerwertsetzung“ ins Spiel gebracht.
Im zweiten Teil konnte nur schwer daran angeknüpft werden. Es ging zunächst um soziale Praxen im globalen Süden, die durchaus als Formen der (Wieder-)Aneignung von ›unten‹ beschrieben werden können. Entgegen alter Vorstellungen der Verstaatlichung als Enteignung von ›oben‹ verweisen diese Praxen in durchaus widersprüchlicher Weise auf eine eher staatskritische Herangehensweise. Nicht weil eine grundsätzliche Staatsablehnung dominiere – das sehen die Beteiligten durchaus unterschiedlich (vgl. die Debatte in Das Argument 253), sondern weil die meisten Staaten in den vergangenen 30 Jahren eine neoliberale Politik betrieben. Staat als Materialisierung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse scheint für Aneignungsperspektiven als unerreichbar. Insofern sind gegenwärtige Aneignungspraxen auch der Schwäche der Linken geschuldet –was sich allerdings auch als Stärke erweisen kann, indem stärker auf die subjektiven Bedingungen von Veränderung und Möglichkeiten der Verallgemeinerung in kollektiven Prozessen gezielt wird (vielleicht im Sinne echter Vergesellschaftung statt Verstaatlichung). Jedenfalls eignen sich Bewegungen wie die Zapatistas oder die MST notwendige Bedingungen und Räume individueller und gesellschaftlicher Reproduktion an und verbinden dies mit neuen Formen der Organisation. Aber auch in weniger organisierten Formen versuchen Menschen im kleineren rahmen kollektiv sich die notwendigen Bedingungen des Überlebens anzueignen: von der gemeinsamen Beschaffung der täglichen Lebensmittel, über das organisierte Abzweigen von Strom oder Wasser, das unerlaubte Kopieren von Software, bis zur Besetzung und den Weiterbetrieb von Fabriken.
Ein besonders interessanter Fall ist Venezuela, in welchem sich Aneignungspraxen von ›unten‹ und ›oben‹ in widersprüchlicher Weise verbinden. Bekannt sein dürften die Auseinandersetzungen und Demonstrationen, die damit verbunden sind und Zivilgesellschaft, Bürokratie und auch Militär spalten. Dario Azzelini (Berlin/Italien) schildert dagegen den von der Regierung Chavez eingeleiteten Prozess der Verfassungsgebung und wie er von der Bevölkerung „angeeignet wurde“: ca. 300 von 600 Vorschlägen aus der Bevölkerung sind in die neue Verfassung eingegangen. Ergebnis dieser Politisierung ist eine Identifikation mit der Verfassung als Grundlage gesellschaftlichen Zusammenlebens, die auch im Alltag Verwendung findet. Enthalten sind u.a. das Verbot von ausländischen Militärbasen auf venezolanischem Territorium, ein Verbot von Privatisierungen, eine kostenfreies Gesundheits- und Bildungssystem für alle, ein Recht auf Ernährungssicherheit und Wohnung, das Recht indigener Bevölkerungen auf Nutzung der tradierten Ressourcen, der Sozialversicherungsschutz von Hausarbeiter(innen) etc.
Das praktizierte politische Prinzip wird als Partizipation und Protagonismus bezeichnet und zielt auf die Subjekte und ihre Selbstorganisation. Der klassische Parlamentarismus wird abgelehnt. Selbstorganisationsprozesse der Bevölkerung sollen von Regierungsebene gestärkt werden. So wird versucht angesichts des sog. Unternehmerstreiks Fabrikbesetzungen durch Beschäftigte und lokale Gemeinschaften staatlicherseits abzusichern und Versuche zur verbesserten Kontrolle der Produktionsmittel zu festigen (dabei wird stets streng legalistisch vorgegangen). Vorgesehen ist auch lokale Selbstverwaltungsinitiativen zu stärken, die mittelfristig sogar die vorhandene kommunale Bürokratie ablösen sollen. Gleichzeitig sollen auf diese Weise Gegner in den staatlichen Verwaltungen entmachtet werden. Die kollektive Selbstorganisation ist sogar zwingend, beispw. für die Aneignung von Land. Nutzungs- und Besitzrechte dieser Ländereien sind vererbbar, das Eigentum aber nicht verkäuflich. Den Prozesscharakter solcher Umwälzungen im gesellschaftlichen Gefüge bezeichnet Azzelini als „De-Globalisierung“, der u.a. darauf zielt die Abhängigkeit von Lebensmittelimporten (bisher 70%) zu reduzieren. Die Bedingungen sind nicht schlecht: anders als Nachbarländer verfügt Venezuela über reiche Ölreserven in staatlicher Hand und hat trotz Verschuldung bislang keine IWF-Kredite in Anspruch nehmen müssen, muss sich also keinen Strukturanpassungsmaßnahmen neoliberalen Musters unterwerfen. Widersprüche im Verhältnis von Selbstorganisation, sozialen Bewegungen und links-populistischer Regierung wurden nicht thematisiert. Für einen Vergleich mit anderen Ländern bleibt keine Zeit. Angesichts extrem einseitiger Presseberichterstattung über Venezuela stand Information im Vordergrund.
Anschließend ging es über zu den Möglichkeiten von Aneignungspraxen im Norden. Auch dieser Schwenk blieb relativ unverbunden zum vorherigen. Die politischen und sozialen Bedingungen sind kaum vergleichbar. Ingo Stuezle (Berlin) versuchte daher erst gar nicht einen Zusammenhang herzustellen, beschränkte sich vielmehr auf die Begründung und die Probleme der Berlin Umsonst Kampagne. Die Kampagne versuche sich abzusetzen von einerseits konkretistisch und staatszentrierten Alternativkonzepten wie sie von Teilen der Gewerkschaften oder Attac formuliert würden und andererseits von einer „kommentierenden“ radikalen Linken, die sich nicht in die Kämpfe hinein begibt. Auch das Berliner Sozialforum versuche Widerstände zu vernetzen, die es kaum gibt. Die Kampagne setzt daher am verbreiteten Unmut über Sozialkürzungen und der längst gängigen Praxis individueller rebellischer Aneignung (Klauen, Downloaden, Schwarzfahren etc.) an. Es geht darum solche Praxen zu politisieren und kollektiv zu organisieren. Dabei wird kontinuierlich das eigene Vorgehen kritisch hinterfragt und modifiziert. Die ersten Aktionen richteten sich auf die Verteuerung öffentlich bereitgestellter Dienstleistungen (Schwimmbäder, ÖPNV). Prompt wurde der Vorwurf erhoben, nur staatlich subventionierte Bereiche anzugreifen, also selbst staatszentriert zu handeln. Im Studi-Streik wurde entsprechend versucht die Aneignung auf andere Bereiche zu lenken, etwa das Buffet der Tagung des Bundesverbandes Deutscher Arbeitgeber (BDA): „kein Betteln, sondern nehmen“, ist das Motto. Mit der Ankündigung der Aktion Moma-Umsonst wurde auf eine stärkere Medien-Resonanz gesetzt. Die entsprechend hohe Polizeipräsenz verhinderte jeden Versuch des kostenfreien Genusses der Kunst. Damit wurde ein „symbolischer Überhang“ der Kampagne deutlich, die keine reale Aneignung zur Folge hat. Umso erstaunlicher, dass „Politik auf niedrigem Niveau solchen Anklang findet“: das Konzept einer „radikalen Sozialpolitik“ von ›unten‹ verbreitet sich in anderen Städten (Hamburg, Dresden, Köln). Die Anschlussfähigkeit ist jedoch begrenzt, die Kampagne gelangt kaum über den Dunstkreis der radikalen Linken hinaus (anders als etwa bei Häuserkämpfen). Vielleicht ist die Forderung und Aneignung eines sozialen Zentrums eine Möglichkeit breitere Kreise anzusprechen? Oder ist dies doch nur ein Rückzugsort?
In der Diskussion wurde hervorgehoben, dass es noch nicht gelungen sei, alternative Praktiken wieder sichtbar (Klauen als Notwendigkeit), etwa wie es bei der Frage der Migration in Ansätzen gelang (Kanack Attack: „wir sind unter euch“). Gefordert wird ein offensives Angehen der Eigentumsfrage, auch der Produktionsmittel. Stuezle setzt dem entgegen, dass die konkrete Praxis, die sich mit einer solchen Forderung verbindet unklar bliebe. Man könne die kapitalistische Infragestellung nicht von außen an die Leute herantragen, sondern muss an konkreten Bedürfnissen ansetzen. Erst in den Kämpfen formiert sich Politik. Auch er sieht, das Problem, dass die Kampagne nicht in der Arbeitswelt verwurzelt ist. Unter gegebenen Bedingungen von Massenarbeitslosigkeit und Prekarisierung radikale Politik in der Produktion zu betreiben ist ein schwieriges, aber notwendiges Unterfangen. Vielleicht wäre dies ein Thema für den nächsten BuKo-Kongress: Aneignung der Arbeit.
Trotz Überlänge der Veranstaltung blieb keine ausreichende Zeit zum diskutieren. Die angeregte Beteiligung bestätigt aber, dass es lohnend war die unterschiedlichen Diskussionsstränge, die sonst getrennt voneinander behandelt werden, zusammenzubringen. Es gelang aber (noch) nicht, sie wirklich miteinander zu artikulieren, was eben auch an den Kategorien liegen mag: Enteignung und Aneignung, v.a. wenn man sie dichotomisch als Politiken von ›oben‹ und ›unten‹ setzt, verleiten dazu einen dialektischen Zusammenhang zu konstruieren, der überallgemein bleibt und weder analytisch noch praktisch ausreichend trägt. Der Begriff der Aneignung, das zeigt der Kongress, regt jedoch zu Diskussionen an, bewegt Positionen. Und er wirkt politisierend, was sich an der ganz praktischen Aneignung der Kassler Innenstadt deutlich und mit hohem Spaß-Faktor zeigte (vgl. den Bericht von Markus Euskirchen auf www.linksnet.de/linkslog/)
Pünktlich zum Kongress erschienen ist die neue Ausgabe der Zeitschrift Arranca! – Aneignung II: http://arranca.nadir.org/aktuell.php3