Publication Geschichte - Parteien- / Bewegungsgeschichte 2. Juni 1967 - Die Westberliner Studentenproteste und der Tod Benno Ohnesorgs

Text der Woche 23/2002. von Michael Herms

Information

Series

Online-Publ.

Published

May 2002

Ordering advice

Only available online

Text der Woche 23/2002Sicher ohne zu ahnen, dass er damit dessen späteres Ende vorwegnahm, erklärte Jürgen Habermas 1963 vor dem SDS: "Ihnen bleibt nur die eine Alternative, entweder werden Sie die intellektuellen Kader für eine neue Partei oder Sie unternehmen den Versuch einer action directe und gehen in die berufsrevolutionäre Untergrundarbeit."

Tatsächlich zeichnete sich Mitte der 60er Jahre in Teilen der westdeutschen Studentenschaft ein Positionswandel ab, paarten sich hochschulspezifische mit Gesellschaftskritik und politischen Forderungen wie etwa die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, die Verhinderung der Notstandsgesetze oder die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und mit neuen Protestformen (Ostermärsche, Sit-ins, Teach-ins und Straßendemos). Ebenso wichtig wurde eine vom "Establishment" abweichende Lebensform: Beatmusik, Kommunenleben oder die praktizierte Freizügigkeit im Sexualleben prägten die neue Jugendkultur. Am deutlichsten wurde dies in Westberlin. Der SDS entwickelte sich zur "Avantgarde" der Studentenbewegung, wobei seine politische und ideologische Ausstrahlung bei weitem seine organisatorische Kraft überstieg.

Zugleich wuchs ein Interesse an Gesellschaftstheorie. Während sich im SDS eine spürbare Affinität für die Theorien der "Frankfurter Schule", verbunden mit Vorstellungen von einer bevorstehenden Revolution, entwickelten, stieß die "Diktatur des Proletariats" auf Ablehnung. Im SDS stand die Frage: Marx oder Marcuse? Dessen im Mai 1967 erschienenes Buch "Der eindimensionale Mensch" charakterisierte die westlichen Länder als Staaten der Unfreiheit und goss Öl in das revolutionäre Feuer der Studentenbewegung. SDS-Anhänger sahen sich als Teil eines weltweiten Befreiungskampfes, sie verlagerten den Protest vom Campus auf die Straße. Zunehmend richteten sich ihre Proteste gegen den "autoritären Staat", den Vietnamkrieg und das Establishment. Rechtsstaat und parlamentarische Demokratie wurden in Frage gestellt, die jüngste Vergangenheit und die aktuelle Politik der BRD kritisch hinterfragt, die "Dritte Welt" rückte ins Bewusstsein.

Im Februar 1966 kam es außerhalb der Universität zu einer ersten größeren Demonstration gegen den Vietnamkrieg mit einem "Sit-in" vor dem "Amerika-Haus". Im Frühjahr 1967 spitzte sich die Lage zu. Bei Demonstrationen gegen den Besuch des US-Vizepräsidenten Humphrey kam es zu blutigen Ausschreitungen der überzogen reagierenden Polizei. Wenige Wochen später formierte sich der Studentenprotest gegen einen anderen unliebsamer Besucher, den Schah von Persien. Nachdem es schon am Vormittag des 2. Juni zu Zusammenstößen zwischen Schergen des Potentaten und Demonstranten vor dem Schöneberger Rathaus gekommen war, versammelten sich letztere am Abend trotz eines massiven Polizeiaufgebots vor der Deutschen Oper. Dort wurde Benno Ohnesorg ohne ersichtlichen Grund angeschossen und verstarb noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Das Opfer war weder ein SDS-Funktionär noch sonst ein Politaktivist.

Während der Todesschütze, Polizeiobermeister Karl-Heinz Kurras, straffrei ausging, schob der Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz den Demonstranten die Schuld am Tod ihres Kommilitonen zu. Die Polizei unterband Trauermärsche; der Senat erließ noch am 3. Juni ein generelles Demonstrationsverbot; willkürliche Verhaftungen folgten, man erwog die Einführung von Schnellgerichten. Es entwickelte sich eine Pogromstimmung, monatelang herrschte in der Stadt ein regelrechter Ausnahmezustand.

Die DDR betrachtete diese Entwicklungen mit Zwiespalt. Die eskalierende Gewalt dicht vor der eigenen Haustür war nicht in ihrem Interesse. Andererseits ließen sich die Ereignisse für die "antiimperialistische" Propaganda nutzen. Aus diesem Grunde boten die DDR-Staatsorgane an, den Trauerzug für Benno Ohnesorg unkontrolliert über die Transitstrecke nach Hannover zu geleiten, was auch geschah. Die FDJ begleitete den Trauerzug mit Kundgebungen und Hartmut König sang "Wie starb Benno Ohnesorg? Student aus Westberlin. Was wisst Ihr über ihn?" Eine eher platonische Fragestellung, denn keinesfalls durfte der antiautoritäre Stil auf die eigene Jugend übergreifen. Deren Vordenker sollten Marx, Engels und Lenin bleiben und nicht etwa Adorno, Marcuse, Mao oder Che Guevara.

Am 9. Juni fand Ohnesorgs Beerdigung statt. Direkt nach dem Trauermarsch von 10 000 Studenten durch Hannover prallten auf dem Kongress "Hochschule und Demokratie" die Positionen der Gemäßigten und der Antiautoritären deutlich aufeinander. Bemüht um die Eindämmung der letzteren Tendenz forderte Habermas die Beseitigung des Theoriemangels, eine verstärkte "Radikalität bei der Auslegung und Praktizierung unserer sozialrechtstaatlichen und demokratischen Verfassung" sowie eine stärkere Antizipationsfähigkeit und eine wachsame Phantasie. Demgegenüber wandte sich Dutschke gegen jegliche Kanalisierung des Protests und warf Habermas vor, mit einem "begriffslosen Objektivismus" das zu "emanzipierende Subjekt" zu erschlagen.

Der Tod Benno Ohnesorgs zog eine Radikalisierung der Proteste nach sich. Jetzt stand die Frage: Protest oder Widerstand und wenn Widerstand mit welchen Mitteln? Herbert Marcuse vertrat im Juli 1967 vor Studenten in Westberlin die Legitimität von Gegengewalt revolutionärer Massen, wenn die bestehenden Gesetze sich als zu enger Rahmen erweisen, und er hatte dabei etwa einen dauerhaften Generalstreik oder Betriebsbesetzungen durch die Belegschaften vor Augen. Die Attentate auf Martin Luther King und auf Rudi Dutschke im April 1968 wurden zu Initialzündungen für gewalttätige Straßenkämpfe und massive Polizeieinsätze über die Ostertage. (Angriffe BILD und den Springer-Konzern.) Es folgten die Mairevolten in Frankreich und weitere Proteste gegen die Notstandsgesetzgebung.

Ulrike Meinhoff u.a. hielten die Zeit für einen schonungslosen, auch bewaffneten Kampf für gekommen. Sie und ihre Freunde gerieten in eine tödliche Sackgasse und in eine weitgehende Isolation. Marcuse lehnte 1972 in "konkret" einen individuellen Terror gegen hochgerüstete Staaten ab.

Im September 1967 lehnte Dutschke die bisherige Organisationsform und den "Versuch einer Sammlungsbewegung sozialistischer Gruppen und Grüppchen" ab. Mit seinem Plädoyer für mehr Spontaneität und eine "Propaganda der Tat" setzte er das Signal auf eine Ablösung des antiautoritären vom KPD-nahen Flügel. Die Spaltung der Studentenbewegung war nicht mehr aufzuhalten. Zum Zerfall des SDS trug schließlich auch die Niederschlagung des "Prager Frühlings" bei.

Die Forderungen der Studentenbewegung von 1967/68 flossen teilweise in die Reformen der im Oktober 1969 gebildeten Sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt ein, die somit den Protest kanalisierte. Gemäßigte engagierten sich fortan in der Frauenemanzipation, in der Anti-AKW-Bewegung und begannen schließlich als Sozialdemokraten oder Grüne ihren Marsch durch die Institutionen. Orthodoxe schlossen sich in K-Gruppen zusammen; Marxisten-Leninisten in der DKP.

 

Berlin, im Mai 2002