Publication Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Soziale Bewegungen / Organisierung Grüne auf Kanzler-Kurs gebracht

Text der Woche 24/2003. von Jochen Weichold

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Jochen Weichold,

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June 2003

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Text der Woche 24/2003Zur Sonder-BDK der Grünen am 14. und 15. Juni 2003 in Cottbus

Werner Schulz ist immer wieder für eine Überraschung gut: Auf dem Sonderparteitag der Grünen in Cottbus Mitte Juni profilierte sich der frühere DDR-Bürgerrechtler und jetzige wirtschaftspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen, der bisher dem Realo-Lager zugerechnet wurde, als einer der schärfsten Kritiker der „Agenda 2010“. Unter dem Beifall der Delegierten erklärte er, diese Agenda gebe keine adäquate Antwort auf den Reformbedarf in der Gesellschaft, weil sie einseitig die sozial Schwachen belastet. Weder die Herausnahme des Krankengeldes aus der Versicherung, noch die Kürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld würden Arbeitsplätze schaffen. Durch die Kürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld bei älteren Arbeitnehmern entstehe vielmehr die Gefahr neuer Altersarmut. Die Ausdehnung des Rentenalters auf 67 Jahre sei nichts weiter als eine raffinierte Rentenkürzung. Das sei unsozial. Statt das Krankengeld aus der paritätischen Versicherung auszugliedern, sollten die versicherungsfremden Leistungen aus der Krankenversicherung herausgenommen werden.

Zumindest rhetorisch konnte er mit seinem Auftritt Wilhelm Achelpöhler übertrumpfen, jenen Rechtsanwalt für Verwaltungsrecht aus Münster, der mit seinem Kreisverband das Begehren der grünen Basis nach einer Sonder-BDK ausgelöst hatte. Achelpöhler kritisierte, die Maßnahmen, mit denen der Sozialstaat heute modernisiert werden solle, seien Rezepte von gestern. Es sei eine alte Politik, in Krisenzeiten bei den sozial Schwächsten zu kürzen. Dass bei der Reformierung des Gesundheitssystems einseitig die Arbeitnehmer belastet werden, sei ebenfalls ein altes Konzept. Dagegen könnten Nachfrageimpulse entstehen, wenn Arbeitslose eine vernünftige Grundsicherung erhalten würden. Auch die geplanten Einschränkungen beim Kündigungsschutz seien Beispiele für alte Politik – moderne Politik müsse vielmehr auf die Stärkung der Arbeitnehmerrechte in den Unternehmen abzielen. Statt alte Ideen mit modernen Schlagworten neu zu verkaufen, müssten die Grünen das umsetzen, was sie in ihrem Wahlprogramm versprochen haben. Es sei ein unglaublicher Vorgang, wenn sechs Monate nach der Bundestagswahl diejenigen, die für die Einhaltung des Wahlprogramms der Partei eintreten, begründen müssten, weshalb sie daran festhalten wollen.

Ralf Franke vom Kreisverband Cottbus hatte schon in seinem Grußwort an die Delegierten harsche Kritik an der „Agenda 2010“ geübt: In der Region Cottbus kämen 18 Arbeitsuchende auf eine freie Stelle. Nicht die schnellere Vermittlung der Arbeitslosen sei in Ostdeutschland das Problem, sondern fehlende Erwerbsarbeit. Die zu schaffen, sei das Schröder-Programm ungeeignet, hieß es immer wieder von den Basisvertretern. „Die Agenda 2010 schafft nicht Arbeit, sondern sie vernichtet Arbeit“, unterstrich Barbara Steffens, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen in Nordrhein-Westfalen. Mutig wäre es, wenn gleichzeitig bei Armen und Reichen gespart werden würde. Jetzt werde aber nur bei den Armen gespart, werde auf diese Weise Kaufkraft vernichtet. Ganz in diesem Sinne nannte die frühere Bundestagsabgeordnete Annelie Buntenbach die „Agenda 2010“ „sozial unausgewogen und wirtschaftspolitisch unsinnig“, schlicht „eine falsche gesellschaftspolitische Richtungsentscheidung“. Und der bayerische Landtagskandidat Reynoldo Zavala mahnte die Delegierten in Anspielung auf die Farben der FDP, aufzupassen, „dass sich die grüne Raupe nicht als blau-gelber Schmetterling entpuppt“.

Fraktionschefin Christa Sager fragte angesichts solch massiver Kritik an der „Agenda 2010“ die Delegierten: „Glaubt Ihr denn, der gesamte Bundesvorstand, der Länderrat und die Spitze der Bundestagsfraktion sind alle vom Virus des Neoliberalismus infiziert worden?“ Wenn die Politik jetzt nichts unternehme, würden die sozialen Sicherungssysteme „gegen die Wand fahren“. „Die Reichen können auf soziale Sicherungssysteme verzichten, die Armen nicht.“ Deshalb müssten die Grünen für einen gerechten Umbau dieser Systeme kämpfen. Die geplanten Reformvorhaben würden zwar nicht alle Probleme lösen, aber sie seien auf dem Weg zu einem ökologischen Strukturwandel notwendig.

Außenminister Joschka Fischer hielt die Frage nach der gerechten Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes zwar keineswegs für erledigt. Man brauche aber, erklärte er den Delegierten, zunächst Verteilungsmasse und dafür Investitionen, deren Förderung die „Agenda 2010“ dienen würde. Wer solle denn die Investitionen tätigen, fragte der Außenminister, wenn nicht die Reichen? Den Wohlhabenden zu nehmen und den Armen zu geben, komme ihm vor, wie aus einem versiegenden Brunnen noch schneller zu schöpfen. Über diese Frage müssten die Grünen „als Regierungspartei diskutieren und handeln“, ohne die wirtschaftliche und soziale Realität aus den Augen zu verlieren. Angesichts der für den kommenden Winter zu erwartenden fünf Millionen Arbeitslosen dürfe man nicht dem Schicksal tatenlos zusehen und ansonsten nur „die Fahne der Gerechtigkeit hochhalten“.

Schon zu Beginn der BDK hatte Parteichef Reinhard Bütikofer für die „Agenda 2010“ der Bundesregierung geworben und von den Delegierten verlangt, vom Sonderparteitag müsse das deutliche Zeichen ausgehen, dass die Grünen „die Partei der Reformpolitik“ seien. Aber: „Wir dürfen nicht nur Reformen fordern, sondern müssen auch sagen, in welche Richtung sie gehen sollen.“

Wie bereits auf dem Perspektiven-Kongress der Grünen drei Wochen zuvor in Düsseldorf betonte Bütikofer, heute stehe eine Richtungsentscheidung der Modernisierung an: „Blinde Modernisierung“ mit der Absage an den Sozialstaat oder eine „Modernisierung nach menschlichem Maß“, die sich an Werten wie Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und Emanzipation ausrichte. Dabei gehe es um einen erweiterten Begriff der Gerechtigkeit, der Teilhabegerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit und Internationale Gerechtigkeit mit Verteilungsgerechtigkeit verbinde. Wenn man sich in Europa umschaue, dann zeige sich, dass dort, wo die politische Linke strukturkonservativ sei, die „neokonservative Revolution“ Auftrieb bekomme. Soziale Sicherung gebe es in Zukunft nur durch den Mut zum Wandel. Daher müssten die Grünen Visionen und längerfristige Perspektiven aufzeigen.

Bütikofer plädierte in diesem Kontext für eine „Agenda plus“, für eine viel weiterreichende grüne Reform-Perspektive, in der die Zukunft der Wirtschaft die zentrale Frage sei. Der Parteichef verlangte in diesem Zusammenhang eine „grün bestimmte Modernisierung der Wirtschaft“ und einen Subventionsabbau insbesondere auf den Gebieten, die ökologisch schädlich sind. Längerfristige Ziele der Grünen seien die Einführung einer sozialen Grundsicherung und einer Bürgerversicherung. Bütikofer unterstrich, dass die Abwärtsspirale auf dem Arbeitsmarkt – sinkende Investitionen, ansteigende Lohnnebenkosten, wachsende Arbeitslosigkeit – durchbrochen werden müsse. Diese „Baustelle“ werde zu Recht von der „Agenda 2010“ thematisiert.

Bundesumweltminister Jürgen Trittin verteidigte die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitnehmer: Bisher hätte nur die Wirtschaft davon profitiert, die die Arbeitnehmer früher in den Ruhestand geschickt hätte, während die Lasten dafür die Mitglieder der Arbeitslosenversicherung getragen hätten. Ohne auf die ins Auge gefassten zusätzlichen Diskriminierungen für Arbeitslosenhilfeempfänger einzugehen, plädierte Trittin für die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, denn damit werde die Diskriminierung der Sozialhilfeempfänger beendet. Thea Dückert, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag und arbeitsmarktpolitische Sprecherin, assistierte ihm mit der Behauptung, mit dem Arbeitslosengeld II würden die heutigen Sozialhilfeempfänger bessergestellt. Die „Agenda 2010“ komme damit den wirklich Armen in dieser Gesellschaft zugute. Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, verklärte das Arbeitslosengeld II gar als „Einstieg in die Soziale Grundsicherung, für die wir immer eingetreten sind“.

Mitglieder der Grünen-Führung verteidigten immer wieder den geplanten Ausstieg aus der paritätischen Krankenversicherung beim Krankengeld mit dem Argument, die Lohnnebenkosten seien in Deutschland zu hoch und dürften nicht weiter steigen. Sie rechtfertigten die Kürzung der Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld als notwendigen Schritt zu einem „aktivierenden Sozialstaat“ und priesen, assistiert von einigen jungen Delegierten, die anvisierte Erhöhung des Renteneinstiegsalters als Beitrag zur Generationengerechtigkeit. Die Befürworter entschuldigten die angepeilten unsozialen Maßnahmen mit dem Hinweis auf das geplante Aufbrechen der Monopole im Gesundheitswesen oder auf die Reform der Handwerksordnung, die es künftig auch Gesellen ermöglichen soll, sich wirtschaftlich selbständig zu machen. Obwohl sich die gesamte Führungsriege aus Partei, Bundestagsfraktion und Bundesregierung für die „Agenda 2010“ ins Zeug legte, war es schon bemerkenswert, wie wenig die grüne Prominenz an inhaltlichen Argumenten in die Debatte einzubringen hatte, um dem verbreiteten Unmut der Delegierten gegenzusteuern.

Der Antrag des Bundesvorstandes, der sich klar für das Schröder-Programm aussprach, konnte sich dann im Abstimmungsverfahren nur relativ knapp gegen Agenda-kritische bzw. die „Agenda 2010“ ablehnende Anträge behaupten. Fast 150 Änderungsanträge zum Leitantrag des Bundesvorstandes signalisierten, wie groß der Unmut der Parteibasis an dem ins Auge gefassten sozialpolitischen Kurs der rot-grünen Bundesregierung war. Durch die Übernahme bzw. modifizierte Übernahme eines großen Teils dieser Änderungsanträge wurden einerseits viele Delegierte in den Kurs der grünen Führung eingebunden, andererseits blieben nur wenige Anträge übrig, über die abgestimmt werden musste.

Während sich Änderungsanträge, die die Beibehaltung der paritätischen Finanzierung des Krankengeldes, die Verhinderung der Lockerung des Kündigungsschutzes, einen Verzicht auf die Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitnehmer oder die Aufgabe des Vorhabens forderten, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzulegen, nicht durchsetzen konnten, erhielten der Antrag von Werner Schulz, die Lasten der deutschen Einheit nicht weiter über die Sozialversicherungssysteme, sondern aus Steuern zu finanzieren, und der Antrag von Christian Ströbele, die grüne Bundestagsfraktion solle sich zum Vorreiter einer verfassungskonformen Wiedereinführung der Vermögenssteuer machen, das deutliche Votum der Delegierten.

Insbesondere der Ströbele-Antrag fungierte als Ventil, mit dem eine Mehrheit der Delegierten ihrer Unzufriedenheit mit dem Schröder-Programm Luft verschaffte. Die Wiedereinführung der Vermögenssteuer wird von ihnen als Signal gesehen, die Kosten der Sozialsysteme entsprechend der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der einzelnen besser zu verteilen und so die soziale Schieflage in der Gesellschaft zu mindern.

Schließlich fand der Leitantrag des Bundesvorstandes eine Mehrheit von fast 90 Prozent. In ihm sprechen sich die Grünen für eine Reformpolitik aus, die auf den grünen Grundwerten Gerechtigkeit, Ökologie, Selbstbestimmung und Demokratie basiert. Die „Agenda 2010“ sei dabei angeblich ein erster Schritt zu mehr Gerechtigkeit in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. In Wirklichkeit akzeptierten die Delegierten mit dem Beschluss Vorschläge wie die kürzere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes oder das Vorhaben, dass die Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen künftig das Krankengeld allein tragen.

Die Debatte auf der BDK in Cottbus zeigte insgesamt, dass weite Teile der Partei das Parteitagsmotto „Sozial ist nicht egal“ durchaus ernst nahmen. Viele Delegierte argumentierten im klassisch linken Sinne für mehr Verteilungsgerechtigkeit in dieser Gesellschaft. Andererseits hat sich die grüne Parteiführung dem neoliberal geprägten Mainstream in der Gesellschaft angepasst, hat sie die herrschenden Argumentationsmuster übernommen und zu ihren eigenen gemacht. Dabei kann sie sich offenbar besonders auf jene Delegierte stützen, die vor allem die erst nach 1990 in die Partei eingetretenen Mitglieder vertreten, die neue Wertorientierungen und Lebenserfahrungen mitgebracht haben, welche zum Teil auch neoliberalen Ideen einen Nährboden bieten.

Mit dem Sonderparteitag von Cottbus haben die Grünen den unsozialen Kurs der Regierung Schröder objektiv gestärkt. Wie zuvor der sozialdemokratischen Führung mit dem Sonderparteitag der SPD ist es der grünen Führungsriege mit dieser BDK gelungen, die widerstrebende Parteibasis in diesen Kurs weitgehend einzubinden. Trotz vieler Vorbehalte der Basisvertreter, die zu Recht in dem sozialpolitischen Kurs der rot-grünen Bundesregierung zu große soziale Härten und mangelnde Gerechtigkeit ausmachten, konnten die Kritiker lediglich einige Änderungen im Detail durchsetzen. Cottbus offenbarte jedoch eine beträchtliche Distanz zwischen jenen, die avantgardistisch auf dem neoliberal geprägten Agenda-Weg voranpreschen, und großen, sozial engagierten Teilen der Parteibasis, die auch nach der Sonder-BDK der „Agenda 2010“ kritisch gegenüberstehen. Eine Distanz, die der grünen Führungsriege noch sehr zu schaffen machen wird, wenn der ersten Agenda eine zweite oder dritte folgen wird.