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Ein Jahr nach dem Putschversuch in der Türkei: Hintergründe und Folgen des 15. Juli 2016

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Hatip Dicle,

Published

July 2017

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Hatip Dicle
Hatip Dicle bei einer Diskussionsveranstaltung kurz vor dem Referendum zum Präsidialsystem in der Türkei in Berlin, 7.4.2017 CC BY 2.0, Rosa-Luxemburg-Stiftung

Der Putschversuch in der Türkei jährt sich am 15. Juli zum ersten Mal. Die politischen Entwicklungen, Analysen und Informationen der verurteilten vermeintlichen Putschisten legen die Vermutung nahe, dass die offiziellen Stellungnahmen der Regierung zu diesem versuchten Staatsstreich zumindest zweifelhaft sind. Dennoch kann keineswegs von einer Aufklärung der Hintergründe gesprochen werden. Dafür gibt es noch zu viele unbeantwortete  Fragen.

Während wir die Scheinwerfer auf den Putschversuch von 2016 richten, vergessen wir manchmal, dass die Geschichte der Republik Türkei eine Geschichte zahlreicher Staatsstreiche ist. Genau genommen war der Putsch als Mittel der Machtergreifung auch bereits im Osmanischen Reich üblich. Denn in der rund 60jährigen Geschichte des Vorgängerreiches der heutigen Türkei kam es nicht selten vor, dass infolge von Intrigen, die bis zum Brudermord reichten, ein Herrscher weggeputscht wurde und einem Neuen Platz machen musste. Den letzten dieser Staatsstreiche im Osmanischen Reich vollzog das so genannte Ittihad und Terakki Komitee (Komitee für Einheit und Fortschritt), das nach der Machtergreifung dem Osmanischen Reich in seinen letzten Atemzügen nicht nur die Ideologie eines rassistischen Türkismus einverleibte, sondern auch verantwortlich für den Völkermord an den Armenier*innen und Suryoye zeichnete. Nach dem vollständigen Zusammenbruch des einstigen Großreiches im Zuge des ersten Weltkriegs, knüpfte dann die 1923 gegründete türkische Republik an die nationalistische Ideologie von Ittihad und Terraki an.

Ich bin heute 62 Jahre alt. Als sich am 27. Mai 1960 der erste Militärputsch in der Geschichte der türkischen Republik ereignete, war ich ein fünfjähriger Junge. Ich erinnere mich, dass an den ersten Tagen des Staatstreichs türkische Kampfflieger im Tiefflug über meine Heimatstadt Diyarbakir sausten. So sollte die kurdische Bevölkerung wohl von der Macht der Militärs beeindruckt werden. Meine Mutter stopfte mir und meinen Geschwistern damals Watte in die Ohren, damit wir schlafen und uns das Dröhnen der Turbinen nicht aufschrecken konnte. Doch das wirkte scheinbar nicht, denn sonst wäre dieses Dröhnen der Kriegsflugzeuge nicht meine einzige Erinnerung an den Putsch von 1960 gewesen.

Als es dann am 12. März 1971 zu einem zweiten Militärputsch in der Türkei kam, war ich 16 Jahre alt und besuchte das Gymnasium. Ich hatte damals noch kein politisches Bewusstsein. Aber ich erinnere mich sehr gut an diese angstvolle Zeit. Überall wurden Fahndungsplakate mit der Aufschrift «Gesuchter Anarchist» verklebt und im Radio ununterbrochen Listen von Personennamen verlesen, die das Militär suchte. Ich wusste damals, dass es sich um revolutionäre Jugendliche handelte. Ich kann mich auch gut daran erinnern, dass der Radiobericht über die Hinrichtung des revolutionären Führers Deniz Gezmiş und seiner zwei Genossen meine Mitschüler*innen und mich sehr bewegte.

Beim dritten Putsch am 12. September 1980 war ich dann 25 Jahre alt. Mein politisches Bewusstsein war gereift und ich, ein junger Bauingenieur, hatte mich auf der Seite der Revolutionäre positioniert. Vom Staatsstreich erfuhr ich früh morgens von meinem Vater, der zum Morgengebet aufgestanden und von der Machtübernahme der Militärs überrascht worden war. Er weckte mich und wir hörten, wie über das Radio militärische Märsche abgespielt wurden. Dieser Putsch betraf mich viel direkter. Wie viele andere kurdische Jugendliche auch, wurde ich von den Putschisten festgenommen und gefoltert.

Es ist bekannt, dass die AKP erstmals 2002 mit dem Label einer politisch-islamischen Partei die Parlamentswahlen gewann und seitdem an der Macht ist. Zunächst funktionierte die AKP wie eine Koalition verschiedener islamischer Orden und Gruppen. Schon damals hatte Recep Tayyip Erdoğan die Führungsrolle in diesem Bündnis inne. Doch er galt nicht, wie heute, als einzige Autorität innerhalb der Partei. Ein wichtiger Pol der Macht war auch der Orden des Predigers Fethullah Gülen. Die so genannten Gülenisten waren damals ein respektabler Partner Erdoğans. Heute werden sie in den türkischen Medien als «Terroristen der FETÖ» bezeichnet.

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