Publication Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen Die verschmähte Braut

Die Grünen nach ihren Parteitagen Ende November 2017 in Berlin und Ende Januar 2018 in Hannover

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Jochen Weichold,

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January 2018

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Annalena Baerbock und Robert Habeck wurden am 28.1.2018 als Parteivorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gewählt. © Dominik Butzmann

Da hatten sich Die Grünen so schön herausgeputzt und waren den potentiellen Regierungspartnern bis über die Schmerzgrenze hinaus entgegengekommen. Doch dann beging die Lindner-FDP Fahrerflucht und ließ eine mögliche Jamaika-Ehe scheitern. Auf der Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) in Berlin feierten die Delegierten die grünen Verhandlungsführer um die beiden Spitzenkandidat*innen zur Bundestagswahl 2017, Parteichef Cem Özdemir und Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt, und beschlossen mit großer Mehrheit, weiterhin gesprächsbereit zu bleiben und auch für die Beteiligung an einer Minderheitsregierung als Juniorpartner der CDU zur Verfügung zu stehen. Ein Antrag einer Gruppe linker Grüner um Karl-Wilhelm Koch vom Kreisverband Vulkaneifel, lediglich für die Tolerierung einer Minderheitsregierung zur Verfügung zu stehen, fand hingegen nur wenige Befürworter. Doch Bundeskanzlerin Angela Merkel setzte lieber auf das bewährte Modell einer Großen Koalition als auf Experimente einer schwarz-grünen Minderheitsregierung oder eines von den Grünen tolerierten Kabinetts und verschmähte damit das Angebot der grünen Braut zur unkonventionellen Heirat.

Zwei Monate später hatte man den Eindruck, dass die große Mehrheit der Delegierten die Regierungsträume ad acta gelegt und sich auf vier weitere Jahre Opposition im Bundestag eingestellt hatte. Lediglich eine Gruppe um Özdemir und Göring-Eckardt hegte die Hoffnung, doch noch zum (Regierungs-)Zug zu kommen. Die Bundestagsfraktionsvorsitzende prophezeite auf der BDK in Hannover, dass die Große Koalition über kurz oder lang zerbröseln werde. Dann werde niemand an den Grünen vorbeikommen: «Und wir sind bereit, Regierungsverantwortung zu übernehmen.»

Doch der Glanz des Spitzenkandidaten-Duos verblasst zunehmend, sein Stern sinkt. Özdemir hätte zwar gern den Co-Fraktionsvorsitz der Grünen im Bundestag übernommen, sah aber zu geringe Chancen, gewählt zu werden, und ist nach der Neuwahl des Bundesvorstandes ohne Verwendung. Göring-Eckardt scheiterte bei den Wahlen zum Parteirat in der ersten Runde für die Frauenplätze. Bei der Abstimmung über die sogenannten offenen Plätze (traditionell den Männern vorbehalten) erreichte sie nur mit Mühe und Not das Quorum. Reinhard Bütikofer, der Co-Vorsitzende der European Green Party, der – wohl wissend, dass ihm das schaden könnte – in seiner Vorstellungsrede noch für die Reala geworben hatte, verfehlte hingegen den Einzug in das Gremium.

Die neuen Stars am grünen Partei-Himmel sind seit Hannover Robert Habeck und Annalena Baerbock – die neu gewählten Co-Parteivorsitzenden. Beide werden zwar dem Realo-Flügel der Partei zugerechnet, gehören jedoch nicht zu den Hard-Core-Realos um Winfried Kretschmann (Ministerpräsident von Baden-Württemberg) und Boris Palmer (Oberbürgermeister von Tübingen). Baerbock setzte sich mit 64 Prozent der Stimmen gegen die Fraktionsvorsitzende der Grünen im niedersächsischen Landtag, die Parteilinke Anja Piel, durch – ohne Zweifel eine deutliche Niederlage für den seit längerem geschwächten linken Parteiflügel. Habeck, der ohne Gegenkandidaten antrat, erhielt 81 Prozent der Stimmen. Beide Politiker*innen stellten in ihren dynamisch-mitreißenden Bewerbungsreden die Frage der sozialen Gerechtigkeit in den Mittelpunkt und suchten so nicht ohne Erfolg den Schulterschluss mit den Parteilinken. Baerbock, Bundestagsabgeordnete und frühere Landesvorsitzende der Grünen in Brandenburg, erklärte, sie kämpfe in der Lausitz für den Kohleausstieg, aber sie kämpfe auch in Brandenburg dafür, dass Regionen nicht abgehängt werden. Sie rief Die Grünen dazu auf: «Lasst uns niemals selber damit anfangen, Öko gegen Soziales auszuspielen.» Das seien zwei Seiten derselben Medaille.

Habeck, Umweltminister und stellvertretender Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, für den zuvor die in der Satzung verankerte Trennung von Amt und Mandat durch die Einführung einer Übergangsfrist von acht Monaten für die Wahrnehmung beider Funktionen mit rund 78 Prozent der Stimmen weiter gelockert worden war, konstatierte eine wachsende Kluft zwischen dem Gefühl in der Gesellschaft, dass etwas Neues beginnen müsse und etwas Altes zu Ende gehe, das Neue aber noch keinen Umriss habe, auf der einen Seite und der Verhaltensstarre in der Politik auf der anderen Seite: «In einer Zeit, in der ein post-moderner Kapitalismus im Moment alles – das Privateste, Arbeit, Zeit, Glück, Intimität, Lebenszufriedenheit – in Wert setzt, und dieses In-Wert-Setzen ausquetscht, auswringt – in dieser Zeit muss unser politisches Verständnis weiter gehen.» Die Ordnungsfunktion des Staates und die Institutionen des Gemeinwesens müssten gestärkt und Garantiesysteme entwickelt werden, die Humanität schützen und die der Durch-Ökonomisierung des Privaten eine Grenze setzen. Es brauche Umverteilung und eine härtere Versteuerung von Kapital und von Vermögen wenn wir wollten, dass sich Menschen an den Rändern nicht verabschieden. In diesem Sinne plädierte Habeck für eine neue, ökologische, linksliberale Politik der Grünen, die für Gemeinsinn streite und so mehrheitsfähig werden könne.

Die Abweichung vom bisherigen Flügelproporz bei der Besetzung der Spitzenpositionen der Grünen auf der BDK in Hannover ist Ausdruck dafür, dass die Flügel in der Partei zwar nicht verschwunden, aber nicht mehr so dominant wie in der Vergangenheit sind. Vor allem jüngere Mitglieder, die in den letzten Jahren in großer Zahl den Weg in der Partei gefunden haben, agieren pragmatisch; für sie sind die Flügelkämpfe Vergangenheit. Die Grünen zählen heute mehr als 65.000 Mitglieder – rund 3.500 mehr als vor einem Jahr und 12.000 mehr als Ende 2010. Selbst für ältere Jahrgänge der Grünen scheint heute die politisch-fachliche Kompetenz der Kandidatinnen und Kandidaten wichtiger zu sein als deren Flügelzugehörigkeit. So bekannte der eingangs erwähnte Karl-Wilhelm Koch, einen guten inhaltlichen Draht zu Annalena Baerbock zu haben und ihre Kandidatur für den Parteivorsitz zu unterstützen. Und der Alt-Linke Jürgen Trittin sprang Habeck bei dessen Anliegen nach einer Übergangsfrist von acht Monaten bei der Wahrnehmung von Amt und Mandat zur Seite.

Allerdings bedeutet die Wahl von zwei Vertretern des Realo-Flügels zu Parteivorsitzenden keine generelle tektonische Verschiebung der personalpolitischen Landschaft in den grünen Parteigremien. Im neuen sechsköpfigen Bundesvorstand sitzen mit dem Politischen Bundesgeschäftsführer Michael Kellner und den beiden stellvertretenden Parteivorsitzenden Gesine Agena und Jamila Schäfer ausgewiesene Vertreter des linken Parteiflügels. Im Parteirat fehlt künftig das politische Schwergewicht Reinhard Bütikofer als Vertreter des Realo-Flügels (siehe Tabellen).

Die Grünen haben auf ihrem Parteitag in Hannover die bereits seit Jahren vertretene Position bekräftigt, in der «linken Mitte» der Gesellschaft verortet zu sein. Sie entfernten sich jedoch mit der erneuten Lockerung der Trennung von Amt und Mandat einen weiteren Schritt von ihren Gründungsidealen, zu denen die Verhinderung von Macht in wenigen Händen gehörte. Ob Die Grünen weiter nach rechts rücken oder auf die stattfindenden Umbrüche in der Gesellschaft moderne, realistische Antworten finden, dürfte sich kaum aus der Lockerung der Trennung von Amt und Mandat sowie aus dem Abgehen von der bisherigen Praxis, den Parteivorsitz zwischen realpolitischem und linkem Flügel zu splitten, ableiten lassen. Das wird sich in den anstehenden Debatten der Partei um ein neues Grundsatzprogramm zeigen, das 2020 zum vierzigjährigen Bestehen der Grünen angenommen werden soll.