Publication Rassismus / Neonazismus - NSU-Komplex Kein Schlussstrich unter NSU-Aufklärung

Anmerkungen zum «NSU-Prozess» und zum Brandenburger Untersuchungsausschuss von Volkmar Schöneburg

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Volkmar Schöneburg,

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July 2018

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Konstituierende Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses, 12.7.2016 Foto: Landtag Brandenburg

Der «NSU-Prozess» ist nach 437 Verhandlungstagen Geschichte. Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte mussten sich wegen neun rassistisch motivierter Morde, einem Mord an einer Polizistin und weiterer schwerer Straftaten über fünf Jahre vor dem Münchener OLG verantworten. Für  Zschäpe lautete der Urteilsspruch lebenslange Freiheitsstrafe. Die Strafen der Mitangeklagten liegen zwischen zehn und zweieinhalb Jahren Freiheitsentzug. Rechtsgeschichte, wie etwa beim «Nürnberger Tribunal» (1945/46) oder beim vom Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer initiierten «Auschwitz-Prozess» (1963/65), wurde in München nicht geschrieben. Schon gar nicht war es der vollmundig angekündigte «Jahrhundertprozess».

Das lag nicht an den verhängten Strafen. Natürlich muss man das krasse Missverhältnis zwischen der relativ milden Strafe von zweieinhalb Jahren für ein jahrelanges Unterstützen einer terroristischen Vereinigung durch André Eminger und den harten Strafen gegen die G 20-Gegner in Hamburg skandalisieren. Doch diesen Widerspruch löst man nicht mit der Forderung nach einer Straferhöhung bei Eminger. Es kommt nicht primär auf die Höhe der Strafe an. Damit wird nur das in der Gesellschaft weit verbreitete Vergeltungsdenken bedient. Außerdem wird durch hohe Strafen kaum jemand abgeschreckt, wie auch im Gefängnis eine Besserung der Verurteilten nicht zu erwarten ist. Aber man verfängt sich leicht in der Logik des Strafrechts.

Der Münchener Prozess hat auf einer anderen Ebene die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Die Hauptkritik am «NSU-Prozess» findet ihren Ausgangspunkt bereits im Agieren der Bundesanwaltschaft im Vorfeld der Hauptverhandlung. Frühzeitig legte sie sich darauf fest, dass Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt ein symbiotisch verbundenes, ideologisch verblendetes und weitgehend isoliert handelndes Trio gewesen seien. Darauf gründete sich dann die Anklageschrift. Das Gericht folgte überwiegend dem Ansatz der Anklagebehörde, obwohl die Anwälte der Nebenkläger überzeugende Argumente dagegen ins Feld führten. Die Folgen dieses Ansatzes sind fatal. Er führte zunächst zu eingeschränkten strafrechtlichen Ermittlungen. Denn keineswegs hat die Bundesanwaltschaft bei den strafrechtlichen Untersuchungen jeden Stein umgedreht, wie sie glauben macht. Zudem wird, indem Beate Zschäpe und die vier Helfershelfer der Öffentlichkeit als übriggebliebener «NSU» präsentiert werden, geleugnet, dass es ein bundesweites neonazistisches Netzwerk gegeben hat, welches das Trio zumindest finanziell und logistisch unterstützt und ihm einen ideologischen Rückhalt geboten hat. Das soziologische Umfeld der Täter und der Taten, ihre gesellschaftlichen Ursachen werden so nur ungenügend ausgeleuchtet. Gleichzeitig wird damit indirekt einem Schlussstrich unter die NSU-Aufklärung das Wort geredet.

Ein zweiter, schwerwiegender Kritikpunkt am Prozess ist die ungenügende Thematisierung des Agierens der staatlichen Institutionen während und nach der Mordserie, dass, so der Publizist Ralph Giordano, fast bis zur Komplizenschaft reichte. Dabei ist ein Versagen bei der Justiz, der Polizei und beim Verfassungsschutz zu verzeichnen. So stellt sich beispielsweise die Frage, warum es der Generalbundesanwalt nach dem Rohrbombenfund in der Jenaer Garage 1998 ablehnte, ein Ermittlungsverfahren wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung gegen Mundlos, Böhnhardt und andere einzuleiten. Kaum vorstellbar, dass dies bei einem anderen politischen Hintergrund auch so gewesen wäre. Weitestgehend ausgeklammert wurde in München der institutionelle Rassismus in der Polizei, der dazu führte, dass jahrelang in die falsche Richtung («Döner-Morde») ermittelt wurde. Oder die Verstrickungen der Geheimdienste: Mehr als 30 Spitzel, die verharmlosend Vertrauenspersonen genannt werden, waren um das Trio gruppiert. Verhindert oder aufgeklärt wurde dadurch nicht eine Tat. Warum? Auch vor Gericht haben die Schlapphüte nichts zur Aufklärung beigetragen. Gibt es strukturelle Gründe für das Versagen der Staatsapparate?

Der strafjuristische Zugriff bewirkt einen Ausblendungsmechanismus, der wiederum für die Politik einen hohen Gebrauchswert besitzt. Genau das ist auch für den "NSU-Prozess" an vielen Stellen zu konstatieren.

Hätte sich das Gericht dieser Themen angenommen, hätte es vielleicht Rechtsgeschichte schreiben können. Bei einem realistischen Blick auf die Strafjustiz wird jedoch schnell klar, dass damit kaum zu rechnen war. Denn Strafjustiz bedeutet immer die Individualisierung gesellschaftlicher Probleme. Der Bestrafungsapparat begründet seine Anklagen und Urteile individualistisch. Persönliche Verantwortung ist hier der Schlüsselbegriff. Der soziale, ökonomische und politische Kontext der jeweiligen kriminellen Handlung wird in der Regel ausgeblendet oder nur formal abgehandelt. Die Strafjustiz bringt gesellschaftliche Problemlagen (hier den gewaltbereiten Rechtsradikalismus) auf das strafrechtliche Zurechnungsmodell der individuellen Schuld und reduziert sie damit zwangsläufig auf persönliche Normabweichung. Damit wird jedoch tendenziell den Gesellschaftsproblemen ihre Entstehungsgeschichte (diese wird auf die Momentaufnahme der kriminellen Tat eingegrenzt) und ihr Bedingungszusammenhang genommen. Die Strafjustiz betreibt, so der französische Soziologe Geoffrey de Lagasnerie, einen Ritus der Entpolitisierung, der Enthistorisierung und Entsozialisierung. Der strafjuristische Zugriff bewirkt einen Ausblendungsmechanismus, der wiederum für die Politik einen hohen Gebrauchswert besitzt. Genau das ist auch für den «NSU-Prozess» an vielen Stellen zu konstatieren. Er ermöglicht die Verantwortung der Staatsapparate herunterzuspielen und die gesellschaftlichen Ursachen der rechten Gewalt auszublenden.