Publication Geschichte - Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Soziale Bewegungen / Organisierung - Rassismus / Neonazismus - 1968 Die selbsternannte «Neue Rechte» und 1968

Erleben wir gegenwärtig ein «68 von rechts»?

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Jule Govrin,

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August 2018

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Demonstration gegen gleichgeschlechtliche Ehe in Paris am 13. Januar 2013 («Manif pour tous»)
Demonstration gegen gleichgeschlechtliche Ehe in Paris am 13. Januar 2013 («Manif pour tous»): Diese Frauen sind als Marianne, die Nationalfigur der Französischen Republik, gekleidet und halten Ausgaben des französischen Zivilgesetzbuches. CC BY 2.5, Marie-Lan Nguyen

2018 ist das 50. Jubiläumsjahr von 1968. 2018 ist auch das Jahr, in dem die schlagkräftigsten politischen Ausbrüche von Rechten kommen. Dies verleitet manche zur Aussage, wir würden gegenwärtig ein «68 von rechts» erleben. Stimmt das?

1968 war der Aufbruchsmoment vieler Bewegungen wie der Stundenbewegung, der sexuellen Revolution, den Frauen- Schwulen und Lebensbewegungen, der Anti-AKW-Bewegung. Es war ein politisches Ereignis, das die Nachkriegs-BRD grundlegend veränderte.  Seit den 1990ern schallt aus rechten Ecken immer lauter werdende Kritik an 1968, so wird man in den Reihen der AfD nicht müde, sich über die «linksgrünversiffte» Diktatur der Politischen Korrektheit zu empören. Zugleich feiern die Rechten ihre Erfolge als eigenes '68. Wenn man auf die Entwicklungen ab den 1960ern blickt, zeigt sich, dass diese Selbsteinschätzung vor allem Selbstüberschätzung ist. Es zeigt sich außerdem, dass sich die Rechte in diesem Moment ebenfalls neu formierte. Man kann zwar das Aufbegehren von Mai '68 nicht mit dem Erstarken rechter Kräfte in der Gegenwart gleichsetzen, gänzlich trennen lassen sich die Geschichten rechter und linker Bewegungen aber nicht, denn, wie der Politikwissenschaftler Claus Leggewie festhält: die «Neue Linke und Neue Rechte waren Parallelaktionen», deren «Antagonisten [...] sich wechselseitig» beobachteten, wobei sich die Rechte angesichts des linken Umsturzes anders positionieren musste. Um diese verbundenen Bewegungsgeschichten bis in die Gegenwart nachzuvollziehen, ist es sinnvoll, verschiedenen Strängen zu folgen, deren Verflechtungen aufzeigen, wie die Rechte versucht, linke Schauplätze, Themen und Praktiken für ihre Zwecke zu besetzen: Rassismus und kulturelle Differenz, Antisemitismus und das Andenken der Shoa, sexuelle Politiken und Antifeminismus, Umweltschutz und Selbstverwaltung sowie Kapitalismuskritik.

Wie der Historiker Volker Weiß darlegt, versuchen sich die modernen Faschisten seit den 1960ern vom biologistischen Blut-und-Boden-Rassismus zu distanzieren. Alain de Benoist, Vordenker der Nouvelle Droite, gründete 1968 die Denkfabrik GRÈCE. In seinen Schriften plädiert er für die Anerkennung von kultureller Differenz und schwärmt vom Frieden getrennt lebender Kulturen. Im westdeutschen Umfeld führte der Autor und Aktivist Henning Eichberg der Begriff des Ethnopluralismus ein. Im Laufe seines Lebens distanzierte er sich vom rechtem Denken und seinen Kameraden, doch sein Konzept des «Ethnopluralismus» zirkuliert weiter und dient heutzutage als Kampfbegriff der Identitären Bewegung. Trotz des weltoffenen Anscheins steht dahinter die Idee, kulturelle Identität bedeute, in einer Schicksalsgemeinschaft geboren zu sein, in der man seinen angestammten Platz einzunehmen habe. Dieser kulturelle Rassismus bleibt eugenisch geprägt: Renaud Camus' verschwörungstheoretische Schrift über den «Großen Austausch», deren Übersetzung 2016 bei Antaios erschien, warnt vor Heerscharen von Migrant*innen, die mit den kinderreichen muslimischen Familien die weiße Bevölkerung Frankreichs austauschen würden. Mitunter wird diese These durch die Meinung ergänzt, weiße Familien würden weniger Kinder bekommen, weil die Gleichberechtigung die heterosexuellen Verhältnisse zerrüttet habe.

Die selbsternannte «Neue Rechte» strebte ab den 1960er Jahren an, sich von der «Alten Rechten» und dem Nationalsozialismus zu distanzieren. Die Protestierenden von '68 wandten sich dagegen, dass sich die Elterngeneration über die NS-Zeit ausschwieg und ehemalige NSDAP-Funktionäre in der Nachkriegs-BRD hohe Ämter bekleideten wie der in den 1960ern amtierende Bundeskanzler Kiesinger. Wie die Literaturwissenschaftlerin Gabriele Kämper aufzeigt, sah die «Neue Rechte» 1998 ihren Moment gekommen, als der Schriftsteller Martin Walser dazu aufrief, mit der Erinnerungskultur der Shoa abzuschließen. Für die Rechten bedeutete dieses konservative Plädoyer, das SPIEGEL-Verleger Rudolf Augstein unterstützte, ein Einfallstor in die Mitte der Gesellschaft.  Dies gipfelte 2017 darin, dass der AfD-Politiker Björn Höcke das Holocaust-Denkmal in Berlin als «Denkmal der Schande» bezeichnete. Zwar vermeidet man, allzu offen antisemitisch aufzutreten, dennoch zeigen sich die antisemitischen Tendenzen in den Schlussstrichforderungen gegenüber der Erinnerungspolitik.

1968 war der Aufbruch der sexuellen Emanzipationsbewegungen, die mit bürgerlichen Sexualmoral und patriarchalen Geschlechterrollen brachen, um neue Lebens- und Liebesweisen zu ermöglichen. Seit 2012 ruft in Frankreich das fundamentalistisch-katholische Bündnis Manif Pour Tous zu Massendemonstrationen auf, um gegen die Öffnung der Ehe vorzugehen. Sie erklären ökonomische Unsicherheit in neoliberalen Zeiten durch instabile Geschlechterverhältnisse und verklären das traditionelle Familienmodell zum antikapitalistischen Schutzraum. Zugleich greifen rechte Politiker_innen auf feministische Argumente zurück, um antimuslimisch zu hetzen. Sexismus wird der Figur des Fremden zugeschrieben, während er in den eigenen Reihen ausgeblendet oder im antifeministischen Ressentiment ausgelebt wird.

Linke Themen übernehmen

Weiterhin strebte die Rechte an, linke Themen wie diejenigen der Anti-AKW- und Umweltbewegungen für sich zu besetzen, so warb die NPD 2010 mit dem Slogan «Umweltschutz ist Heimatschutz». Neben solchen inhaltlichen Anschlussmöglichkeiten ließen sich Eichberg und seine Kameraden in den 1960er und 19870ern, wie der Soziologe Thomas Wagner in seiner 2017 erschienenen Studie «Die Angstmacher» beschreibt, von Praktiken linker Selbstverwaltung inspirieren. 2018 gibt es mit der Casa Pounda in Rom ein von Faschisten besetztes Haus, in Halle verfügen Identitäre über ein Hausprojekt und Götz Kubitschek, Aktivist und Verleger der Zeitschrift Sezession und von Antaios, gibt sich in den Medien als selbstverwalteter Landwirt von Schnellroda.

Indessen bildet Ökonomie das Überthema, das andere Themen wie sexuelle Politiken und Rassismus verbindet, da die moderne Rechte antikapitalistisches Vokabular der Linken aufgreift und gegen sie wendet. Rechte Autoren beschreiben Entfremdungserscheinungen im globalen Kapitalismus, doch für sie liegt die Problemursache nicht im Wirtschaftsliberalismus, sondern in allzu liberalen Lebensweisen. Zwar sprechen rechte Parteien ökonomische Probleme wie Gentrifizierung und Arbeitslosigkeit an, die Verantwortung dafür schreiben sie jedoch Migrant*innen zu. Dabei verleihen sich die modernen Faschisten den Anschein von antikapitalistischem Revoluzzertum. Diese Selbstinszenierung wurde und wird dadurch begünstigt, wie der Soziologie Didier Eribon darlegt, dass sozialdemokratische Parteien den Begriff der Klasse aufgaben und autoritäre Wirtschaftspolitiken vorantrieben. Ehemalige 68er wie Joseph (alias Joschka Fischer) beförderten diesen Kurs, was den Rechten dabei dient, die Errungenschaften von 1968 mit der Wirtschaftspolitik neoliberaler Regierungen gleichzusetzen.

Hierfür eigneten sie sich linke Theorie und Praxis für ihre Zwecke an. Diese Diskursstrategie bezeichnet Benoist als «Metapolitik». Er bezieht sich dabei auf Antoniio Gramsics marxistische Hegemonietheorie und fordert, um kulturelle Hegemonie zu erringen, müsse die Rechte Allianzen mit Konservativen schließen und reaktionäre Begriffe wie «Volk» oder «Umvolkung» in  Massenmedien einschleusen. Dazu bedienen sich Aktivisten wie Kubitschek aus dem Agitationsrepertoire von 1968: Er rief in Anlehnung an die  Subversive Aktion, eine antikapitalistische Gruppe der 1960er, der Rudi Dutschke angehörte, die Konservative-Subversive Aktion  ins Leben. Die rechte Parodie der linken Protestgruppe trat 2008 ins Licht der Öffentlichkeit, als sie eine Konferenz über 1968 an der Humboldt-Universität störte. Die Aktivisten warfen Flugblätter in die Luft und gebärdeten sich als die wahren Rebellen der Gegenwart.

Diese Provokationsform wurde von neu entstehenden Gruppen wie den Idenititären aufgenommen. Der bloc identitaire trat 2010 in Frankreich in Erscheinung als Aktivisten ein Moscheendach besetzten und eine Kriegserklärung veröffentlichten, die sich gegen das Erbe von Mai '68 richtet. Die Ableger der Identitären, die in Österreich und Deutschland unter der Führung von Martin Selllner durch den Spektakelcharakter ihrer Aktionen Aufmerksamkeit in den Medien erlangten, fahren dieselbe Doppelstrategie: 1968 wird zum verzerrten Feindbild einer vermeintlichen linken Hegemonie überhöht. Sie behaupten, das gesamte «Establishment» in Politik, Wirtschaft und Kulturbetrieb sei von Alt-68er_innen durchdrungen, attackieren die Protagonist*innen von Mai '68 als Stellvertreter*innen dieser angeblichen linken Hegemonie seien und bezichtigen sie der Heuchelei, der Intoleranz, der Zensur und des Totalitarismus. In diesem Verschwörungsbild wird das Erbe von 1968 als kulturelle Diktatur gezeichnet, die zu einem kompletten Werteverlust geführt habe und gegen die sich die Rechte als neues «Anti-Establishment» in Szene setzt. Während auf ästhetischer Ebene die Aktionsformen von 1968 nachgeahmt werden, werden die politischen Ergebnisse von 1968 vehement kritisiert.

Das Bestreben bleibt autoritär und rückwärts gewandt

Je lauter die Rechte wird, desto häufiger fallen die Vergleiche mit 1968. Ein Vertreter der Partei UMP würdigte die Manif Pour Tous als «Mai '68 von rechts». Es ist wenig erstaunlich, dass solche Äußerungen von konservativen bis reaktionären Personen kommen, die das Erbe der linken Protestbewegungen ohnehin verunglimpfen wie jener UMP-Politiker oder der Kolumnist Jan Fleischhauer, der im SPIEGEL verlauten ließ, die Rechten seien die «wahren Erben der Achtundsechziger». Wie unzutreffend derartige Vergleiche sind, zeigt sich alleine daran, dass die Protagonist*innen der sexuellen Revolution bürgerliche Familienmodelle und Geschlechterrollen und kapitalistische Gesellschaftsverhältnisse aufbrechen und verändern wollten. Dahingegen ist die Veränderung, die die Rechten anstreben, rückwärts gewandt. Denn so sehr sie sich als modern und mitunter auch als moderat zu verkaufen versuchen, pflegen sie nach wie die nostalgisch verklärte Vision einer Rückkehr zu autoritären, patriarchalen Verhältnissen in einer Welt, in der Kulturen strikt getrennt, in der Geschlechterrollen rigide geregelt sein sollen und in denen die Gesetze der Reichen gelten. Wie die Philosophin Bini Adamczak schreibt, sind revolutionäre Momente davon geprägt, dass neue Beziehungsweisen entstehen. 1968 war ein Moment des Aufbruchs zu alternativen Lebens- und Liebesweisen. Was die Rechten anstreben, ist ein Zusammenbruch des solidarischen Zusammenlebens, für das linke Protestbewegungen 1968  (und davor und danach) eintraten. Diese Bewegungen waren antiautoritär, sie wehrten sich gegen Machtverhältnisse ihrer Gegenwart. Rechte mögen sich noch so sehr als Revoluzzer empfinden, ihr Bestreben ist zutiefst autoritär. Sie wollen Machtverhältnisse, die nach 1968 brüchig geworden sind, wieder herstellen, um zu rigiden Ordnungen zurückzukehren, in denen jeder seinen vom Schicksal zugewiesenen Platz einnimmt. Trotz der geteilten Geschichten hat das revolutionäre Aufbegehren von Mai '68 nichts mit diesem faschistische Machtwillen gemein.

 
Jule Govrin ist Philosophin und forscht an der Schnittstelle von Politischer Theorie, Sozialphilosophie und Ästhetik, aktuell zu dem Topos der Authentizität in der politischen Ideengeschichte der Moderne und Spätmoderne. Neben ihrer akademischen Arbeit ist sie journalistisch tätig, u.a. bei ZEIT Online.