Publication Demokratischer Sozialismus - Sozialismus SIEB — Sozialismus in einem Bundesland

Spielräume von Regionen, von Kommunen und möglicherweise auch von Bundesländern zu nutzen, fordert Christoph Spehr.

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Christoph Spehr,

Published

August 2018

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In den 1950er Jahren führten einige marxistische Historiker (alles Männer), namentlich Maurice Dobb, Paul Sweezy, Rodney Hilton und Christopher Hill, eine ausführliche Debatte über die Frage: Wann hat der Kapitalismus eigentlich angefangen? Oder umgekehrt: Wann hörte der Feudalismus auf?

Das Ergebnis dieser, auch heute noch interessant zu lesenden Debatte war, vereinfacht ausgedrückt: Das kann man so genau nicht sagen. Zwischen dem Frühkapitalismus der Städte, der Neuorganisation der Landwirtschaft im Zuge der Manufaktur, den bürgerlichen Revolutionen, der Industrialisierung und dem endgültigen Verschwinden des Adels als einflussreicher gesellschaftlicher Klasse, spannt sich ein Prozess von mehreren Jahrhunderten, 300 oder 500 Jahre, je nach historischem Geschmack. Kein schrittweiser Übergang, sondern ein Wechsel von Vorstößen und Rückschlägen, von Experimenten und Verallgemeinerungen, voller Ungleichzeitigkeiten zwischen Produktionsbereichen, vollgepackt mit Widersprüchen, aber ein Prozess, wo am Ende die eine Produktionsweise die andere abgelöst hat. Wo die Grenze liegt, darüber streiten sich hinterher die Historiker*innen. Für die Zeitgenossen gibt es kein Ortsschild, an dem man vorbeifährt und sieht: Oh, jetzt sind wir raus aus Wanne-Eickel.

Leben im Übergang

Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus (wenn die Geschichte diesen glücklichen Verlauf nehmen sollte) anders vollzieht. Man führt eine Produktionsweise ja nicht ein wie eine EU-Verordnung oder ein Waschmittel. Sie entwickelt sich, weil die sich verändernde Art und Weise, wie produziert wird, nach veränderten gesellschaftlichen Regeln verlangt, wie entschieden wird, insbesondere anderen Eigentumsverhältnissen. Oder indem veränderte Regeln die produktiven Umbrüche befördern und vorantreiben, die bereits begonnen haben. Das zieht sich.

Nach der Lesart der Weltsozialforen und der gesellschaftlichen Linken ist der Kapitalismus noch gar nicht fertig damit, alle Verhältnisse seiner Logik zu unterwerfen. Nach der Lesart der neuen Radikalkapitalisten, wie der Österreichischen Schule, leben wir seit den politischen Revolutionen Ende des Ersten Weltkriegs (mit Sozialstaat, rechtlicher Gleichmacherei, Unternehmenssteuern und permanenten Eingriffen ins Eigentum) praktisch im Sozialismus. Die Wahrheit wird vermutlich irgendwo dazwischen liegen. Man nennt das Übergang.

Die Idee vom «Sozialismus in einem Land» (SIEL) ist durch die historischen Ereignisse recht unpopulär geworden. Wladimir Woinowitsch setzte 1982 noch einen drauf mit der literarischen Satire «Moskau 2042», wo der «Kommunismus in einer Stadt» eingeführt wurde. Vom «Kommunismus in einer WG» will heute ebenfalls niemand mehr was wissen. Trotzdem muss man ja irgendwo anfangen; die italienischen Frühkapitalisten haben auch nicht erst auf die Weltrevolution gewartet, und Lenin bekanntlich auch nicht. In der sozialistischen Debatte zwischen 1848 und 1917 wurde immer ein bisschen überschätzt, wie super alles laufen würde, wenn die Revolution überall gleichzeitig passieren würde. Dabei kann der politische Umbruch die Veränderung in dem, wie wir alle produzieren, weder ersetzen noch verordnen, nur begleiten und befördern. Unterm Strich ist die entscheidende Frage immer (wie uns «Animatrix» lehrt): Ist es dort, wo man den Veränderungen mehr Raum gibt, produktiver? Lehrt der gesellschaftliche Fortschritt die anderen dadurch das Fürchten, dass er auch ein produktiver Fortschritt ist? Auf wen und auf was kann man dabei bauen?

Denn, dieser Rückblick sei noch erlaubt: Auch das bürgerliche Eigentum an den Produktionsmitteln und der bürgerliche Zugriff auf den Staat folgte der gewachsenen Rolle und Macht des Bürgertums in der Produktion, nicht umgekehrt. Das ist dieser unangenehme Aspekt der «Reife» von Veränderungen. Es ist rechtlich ohne weiteres möglich (und in der Finanzkrise passierte es auch), in einem Nationalstaat oder sogar in einem Bundesland Schlüsselindustrien zu verstaatlichen und in Belegschaftseigentum umzuwandeln. Es drängt sich nur grade nicht so auf, weil die Werktätigen, die dort arbeiten, gar nicht so stark darauf brennen, zu einer gesellschaftlich verantwortlichen Produktion überzugehen und ihre Konzerne entsprechend umzubauen.

Produktive Reibung

Was die Frage aufwirft: Wo drängt es denn? Wo reibt sich die allgemeine, gesellschaftliche Produktivität mit der beschränkten Rationalität, wie sie von Investoren, Privateigentümern, privilegierten sozialen Gruppen und einer kameralistisch denkenden Finanzverwaltung verhängt wird?

Erstens: Beim Boden. Die allgemeine Produktivität wird – vor allem in den Städten, aber auch auf dem Land – massiv und zunehmend gehemmt durch Privateigentum an Grund und Boden. Kommunen sind soziale Innovationsmaschinen, und diese Funktion wird kaputtgemacht, weil mit Boden spekuliert und Stadtentwicklung blockiert wird. Immer mehr des Sozialismus‘ unverdächtige Organisationen fordern, kommunalen Boden als Gemeingut zu behandeln: Durch Bodenbevorratung, Verkaufsverbot für kommunale Flächen, Erbpacht, Ankauf, Förderung von Genossenschaften, veränderte Grundbesteuerung usw. Dafür gibt es Handlungsspielräume auf Länderebene. Im Prinzip ist privater Grundbesitz ein Überbleibsel der feudalen Grundrente. Jeder Schritt auf diesem Feld, wie bescheiden auch immer, gehört in den Kontext «Übergang».

Zweitens: Bei der Bildung. Die Veränderung der Arbeit bedeutet kein Verschwinden der Arbeit, sondern eine Verlagerung. Man braucht sehr viel weniger Leute, um ein Auto zusammenzuschrauben, aber sehr viel mehr Leute in Forschung, Entwicklung, Bildung, Steuerung, um Autos wieder abzuschaffen. Wer in die Bildung investiert und dabei neue Wege geht, gewinnt. Während bürgerliche Ansätze darauf orientieren, Schule-Kita-Uni so einzurichten, dass sie angeblich «inklusiv für alle» ist, fragt linke Bildungsreform: Was sind die spezifischen Zugänge proletarischer, migrantischer, nicht privilegierter Gruppen und ihrer Kinder zu Bildung und Lernen? Wie kann man didaktisch darauf aufbauen? Die Gemeinschaftsschule ist okay, aber wichtiger sind pädagogische Konzepte, die danach suchen, wie junge Leute aus nichtbürgerlichen Schichten eigentlich lernen und wie sie dabei optimal unterstützt werden. Das ist aktive Klassenpolitik.

Drittens: Beim Verkehr. Verkehr ist Klima, Klimapolitik ist Übergang. Wir müssen raus aus dem «Gernsback-Kontinuum» (William Gibson), der Zukunftsvision der 40er Jahre mit riesigen Highways und chromblitzenden, fliegenden Individualkisten. Nicht umsonst haben in den USA bereits Bundesländer erklärt, das Pariser Übereinkommen weiter umsetzen zu wollen, egal ob Trump austritt. Schlüssel ist der Ausbau des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Die ganze Debatte über freien ÖPNV ist schön, aber weitgehend sinnlos, wenn nicht zuerst der ÖPNV erheblich leistungsfähiger gemacht wird: Mit neuen Linien, kürzeren Takten, aufnahmefähig für mehr Leute. Wenn dann im zweiten Schritt der motorisierte Individualverkehr eingeschränkt wird, schafft das öffentliche Flächengewinne – die natürlich nicht privatisiert werden dürfen.

Viertens: Beim Lohn. Der Schrödersche Niedriglohnsektor ist nicht nur sozial eine miese Nummer, sondern ein Innovationshemmer erster Güte. Nur wenn Arbeit nicht billig ist, wird in Maschinen investiert (Hartz IV als Druck zur Dequalifizierung ist wirtschaftspolitisch ähnlich verheerend). Der Spielraum von Bundesländern ist wieder größer geworden: Nicht nur mit Landesmindestlöhnen, auch mit Tarifbindung in der Vergabe kann wieder operiert werden, seit die EU-Rechtslage sich geändert hat. Den Pseudo-Wettbewerb zurückdrängen, bei dem bloß Löhne gedrückt werden, heißt Innovation fördern.

Fünftens: Bei der Migration. Zuwanderung ist nicht nur ein humanitäres Gebot und eine wichtige entwicklungspolitische Kooperation. Sie vermeidet schrumpfende Gemeinwesen, Fachkräftemangel, Krisen der Sozialversicherungssysteme. Sie trägt dazu bei, durch mehr Diversität und Internationalität auf internationalen Märkten bestehen zu können. Schlechte Bildungssysteme, schlechte Systeme der Anerkennung ausländischer Abschlüsse, fehlende Modelle zur erwerbsbegleitenden Qualifizierung und Ausbildung blockieren diese Chance. Die Kompetenzen der bereits ansässigen migrantischen Bevölkerung werden in ähnlicher Weise vergeudet. Auch wenn viele Handlungsfelder auf Bundesebene liegen: Den Schub zu einer modernen Einwanderungskultur können auch Bundesländer entfalten. Ein vernetztes Weltproletariat fällt nicht vom Himmel.

Sechstens: Bei der Innovation. Start-Ups sind nett, aber ihre Innovationskraft liegt meistens in bequemeren Anwendungen, nicht in technologischen Durchbrüchen. Das «Kapital des Staates» (Mazzucato) für eine innovative Wirtschaftsstruktur in die Waagschale zu werfen, erfordert mehr: Forschungsverbünde schaffen und fördern; Wirtschaftsförderung an überdurchschnittliche Löhne der geschaffenen Arbeitsplätze binden; sich weniger auf die abschmelzenden industriellen Kerne konzentrieren als auf den Aufbau wissensorientierter Dienstleistungen und die Kreativwirtschaft; den wachsenden Sektor der Kooperativen, Genossenschaften, Non-profit-Betriebe, Sozialunternehmen unterstützen und bevorzugen.

Siebtens: Bei der Verwaltung. Ein kritischer öffentlicher Dienst, der die Widersprüche artikulieren darf und die Machtverhältnisse nicht schon im Denken vorwegnimmt, wäre ein großer Gewinn.

Fördern, was zum Übergang gehört

All das verlässt nicht den Rechtsrahmen der heutigen kapitalistischen Gesellschaft. Trotzdem ist es etwas anderes als soziale Abfederung. Es ist der Versuch, sich auf die Aspekte zu konzentrieren, die der steigenden Bedeutung des menschlichen Faktors in der gesellschaftlichen Produktivität Rechnung tragen. Das zu fördern, was zum Übergang gehört: Gemeinbesitz, kooperative Arbeit, nichtbürgerliche Zugänge, sozialer Aufstieg, wachsendes Selbstbewusstsein, kollektive Aneignung. Das auszuprobieren, was möglicherweise zu zukünftigen Strukturen gesellschaftlicher Produktion passt. Wichtig ist, dass man versucht, weiter zu gehen als andere, weiter als bisher. Wenn man 10, 20 Jahre in diese Richtung geht und beweist, dass man progressiver und produktiver sein kann, könnten andere, weitergehende Schritte folgen.

Es ist viel beklagt worden, dass die Spielräume der Nationalstaaten schwinden. Die Frage ist, ob die Spielräume anderer Einheiten wachsen: Die von Regionen, von Städten und Kommunen, möglicherweise auch von Bundesländern. Spielräume, eine andere gesellschaftliche Bewegung, eine andere Logik aufzunehmen. Der Sozialismus in einem Bundesland (SIEB) ist zumindest bereit, das auszuloten.
 

Christoph Spehr ist Historiker und Autor. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Linksfraktion in der Bremischen Bürgerschaft. Ansonsten ist er Mitglied im Kulturzentrum «Paradox», bei der NGO «Fair Oceans» und im Landesvorstand der Bremer LINKEN.