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Perspektiven auf die Novemberrevolution 1918/19

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Bernd Hüttner, Axel Weipert,

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September 2018

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Das Land in der Mitte Europas tut sich schwer mit seinen revolutionären Traditionen. Zweifellos gehören sie nicht unbedingt zum Kern dessen, was bisweilen als «nationale Identität» bezeichnet wird. Und mehr noch: Vielfach gibt es nicht einmal ein breit verankertes Wissen über die revolutionäre Geschichte. Deshalb konnte vor einigen Jahren ein Sammelband zu den Ereignissen im November 1918 durchaus treffend mit «Die vergessene Revolution» übertitelt werden. Sind die Deutschen also kein Volk von Revolutionär_innen? Oder zumindest keines, das sich stolz auf seine emanzipatorischen Traditionen besinnt? Stimmt am Ende vielleicht sogar, was Lenin angeblich über die Deutschen zu sagen wusste – dass sie sich, bevor sie einen Bahnhof stürmen, erst eine Bahnsteigkarte kaufen?

Begibt man sich auf Spurensuche in der deutschen Geschichte, wird dagegen klar: Deutschland ist reich an rebellischen Traditionen, an Kämpfen um Gleichberechtigung, um Anerkennung, um demokratischen und sozialen Fortschritt. Dazu zählen die Aufstände der Bauern im 16. Jahrhundert, deren wichtigste Programmschrift, die Zwölf Artikel, neben demokratischen auch wirtschaftliche und soziale Elemente enthielt. Außerdem ist hier die Revolution von 1848 zu nennen, in der es um konstitutionelle Reformen ging, aber ebenso um soziale Forderungen. Ein Höhepunkt dieser langen Reihe von Auseinandersetzungen war die Revolution nach dem Ersten Weltkrieg. Millionen Menschen engagierten sich für ihre Ziele und waren bereit, ein altes, morsches System durch ein neues zu ersetzen.

Zwar traten die alten Herrscher mit dem Kaiser an der Spitze unter dem Druck von unten erstaunlich geräuschlos ab. Bald wurde jedoch klar, dass die Revolution nicht nur Befürworter_innen hatte. Auch die Gegner_innen mobilisierten ihre Kräfte, um von ihren Privilegien zu retten, was zu retten war. Es lohnt sich daher, die Revolution nicht nur aus der Perspektive ihrer Anhänger_innen, sondern auch der ihrer Widersacher_innen zu betrachten – erst diese Gesamtschau gibt ein stimmiges Bild, und nur so werden auch ihre Unzulänglichkeiten verständlich. Die Frage nach Erfolg oder Scheitern der Revolution bedarf also einer differenzierten Betrachtung.

Vieles von dem, was ab November 1918 gefordert und zum Teil durchgesetzt wurde, war bereits seit Langem artikuliert worden. Dazu zählt das allgemeine Wahlrecht für Frauen. Gisela Notz schildert in ihrem Beitrag diesen zähen Kampf. Zugleich macht sie darauf aufmerksam, dass sich die Befürworter_innen dieses Wahlrechts in vielen anderen Punkten keineswegs einig waren, was die Durchsetzung zusätzlich erschwerte. Dennoch gehört das Frauenwahlrecht zu den großen, bleibenden Erfolgen dieser Revolution.

Andere Anliegen konnten nur in Ansätzen umgesetzt werden. Ein umfassendes Rätesystem wurde nicht geschaffen, lediglich Betriebsräte mit beschränkten Kompetenzen konnten etabliert werden. In den Kämpfen um die Räte finden sich allerdings sehr viel weiter reichende Forderungen – noch 1919 konnten dafür Hunderttausende mobilisiert werden, wie Axel Weipert zeigt. In ihrer Funktion als begrenzte Betriebsräte existiert diese neue Institution bis heute – auch hier zeigt sich, wie langfristig die Wirkungen der Revolution waren. Zugleich weist Axel Weipert auf einen wichtigen Faktor hin, der die Revolution von außen beeinflusste: die Ereignisse im revolutionären Russland.

Politischer Kampf erfordert Organisation. Eine der zentralen Organisationen der Revolution war die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD). Mario Hesselbarth zeichnet ihre Geschichte nach und konstatiert, dass sie der «politische Repräsentant der revolutionären sozialistischen Arbeiterschaft» gewesen ist. Ihre Erfolge waren in der Tat beeindruckend, binnen weniger Monate mobilisierte sie fast eine Million Mitglieder und trat zeitweise in die Regierung ein. Dennoch vermochte sie es letztlich nicht, die politische Entwicklung in ihrem Sinn nachhaltig zu beeinflussen.

Über die gesamte Dauer der Revolution, von November 1918 bis Juni 1920, stellte die SPD allein oder in Koalitionen die Regierung Deutschlands. In Stefan Bollingers Untersuchung fällt die Bilanz jedoch zwiespältig aus: Einerseits stehen auf der Habenseite viele Errungenschaften, andererseits setzte die SPD rasch und konsequent auf ein Bündnis mit den alten Eliten und damit auf die falschen Partner. Das konnte nicht ohne Folgen bleiben. Bollinger hält kritisch fest: «Der Klassenkompromiss der MSPD [Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands] war auf den ersten Blick erfolgreich, auf den zweiten ein Verhängnis.» Revolutionen geschehen nicht einfach, sie werden von Menschen gemacht. Gerade die Revolution von 1918 wurde von einer breiten Massenbewegung getragen. Dennoch verbinden wir dieses Ereignis nicht zu Unrecht auch mit einzelnen Persönlichkeiten. Dazu zählen Rosa Luxemburg und Kurt Eisner, deren Lebenswege und Aktivitäten in der Revolution Julia Killet und Riccardo Altieri nachzeichnen. Deutlich wird dabei: So einig sich die beiden in ihren langfristigen Zielen waren, so unterschiedlich waren doch ihre Vorstellungen vom richtigen Weg zum Sozialismus.

Wie Eisner war auch Eugen Leviné in München aktiv und gilt als einer der führenden Köpfe der Bayerischen Räterepublik. Seine Verteidigungsrede zählt zu den großen Gerichtsreden revolutionärer Politik. Christian Dietrich beschreibt in seinem Beitrag die Umstände der Rede und die Haltung dieser bemerkenswerten Persönlichkeit. Levinés Engagement war demnach getragen von humanistischen Idealen, aber auch von einer basisdemokratischen Vorstellung von den Aufgaben der Räte. Gerade das Justizsystem gehörte zu den Bollwerken der alten Ordnung und bekämpfte die Revolution und ihre Protagonist_innen scharf – was sich nicht zuletzt im Todesurteil gegen Leviné niederschlug.

Zu den Kritiker_innen von Revolution und Republik zählten auch große Teile der protestantischen Kirchen. Karsten Krampitz zeigt auf, dass die Revolution zwar die protestantischen Landeskirchen bis heute neu ordnete, dafür aber in der Weimarer Zeit nur wenig Dank erntete. Die Loyalität zur untergegangenen Monarchie und zum Obrigkeitsstaat blieb stark und bildete die Voraussetzung dafür, dass das «protestantische Milieu zum Rekrutierungsgebiet demokratiefeindlicher Kräfte» wurde. Schließlich führte diese Haltung auch zu einer Offenheit gegenüber dem erstarkenden Nationalsozialismus, die im Katholizismus so nicht zu finden war.

Mit Widerständen ganz anderer Art hatten die Revolutionärinnen zu kämpfen – innerhalb wie außerhalb der revolutionären Bewegung, denn Skepsis schlug ihnen oft auch vonseiten ihrer männlichen Mitstreiter entgegen. Anja Thuns kritisiert zudem, dass die vielfältige Beteiligung von Frauen an der Umwälzung noch immer viel zu wenig gewürdigt wird. Frauen demonstrierten, organisierten Aktionen und artikulierten selbstbewusst ihre Anliegen, wie die von Thuns ausgewerteten Dokumente zeigen. Damit eröffnet sich zugleich eine wichtige Ebene der Revolutionsgeschichte: die Frage nach den Motiven und Erfahrungen der einzelnen Beteiligten.

Gerade mit Blick auf die Ereignisse vor 100 Jahren zeigt sich deutlich: Deutschland verfügt über eine beeindruckende revolutionäre Geschichte. Das wird auch keineswegs durch die Tatsache geschmälert, dass in den Jahren 1918 bis 1920 nicht alle Deutschen Anhänger_innen der Revolution waren oder alle Anhänger_innen die gleichen Ziele verfolgten. Gerade in Zeiten, in denen politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Verhältnisse grundlegend infrage gestellt werden, sind Diskussionen ebenso notwendig wie kontrovers. Wir sind gut beraten, uns unserer emanzipatorischen Wurzeln zu erinnern und um deren Deutung zu streiten. Die Revolution von 1918 bis 1920 kann dabei den Blick besonders für zwei Aspekte schärfen. Einerseits zeigt sie uns, dass gesellschaftlicher Fortschritt erkämpft werden muss, dass viele unserer Freiheiten heute auf das Engagement der damaligen Revolutionär_innen zurückgehen. Zum anderen erinnert sie uns daran, dass viele der mit ihr verbundenen Ziele und Hoffnungen noch immer auf ihre Verwirklichung warten. Wenn die vorliegende Broschüre dazu einen Beitrag leisten kann, hat sie ihren Zweck erfüllt.

In diesem Sinne wünschen wir eine anregende Lektüre.

Bernd Hüttner und Axel Weipert
Bremen/Berlin, Juni 2018
 

Inhalt
  • Gisela Notz
    Geächtet, verfolgt und inhaftiert
    Der Kampf der Sozialistinnen um das Frauenwahlrecht
  • Axel Weipert
    «Russische Zustände» an der Spree?
    Die Revolution 1918/19, ihre Räte und die Rolle Russlands
  • Stefan Bollinger
    Schwierigkeiten einer staatstragenden Partei mit der Revolution
    Die Mehrheitssozialdemokratische Partei (MSPD) in den Jahren 1918/19
  • Mario Hesselbarth
    Repräsentant der revolutionären sozialistischen Arbeiterschaft
    Die Politik der USPD während der Novemberrevolution 1918/19
  • Karsten Krampitz
    «Ecclesiam habemus!»
    Vom Ende der Staatskirche: 100 Jahre Evangelische Kirche in Deutschland
  • Julia Killet/Riccardo Altieri
    Kontrahent_innen und Gleichgesinnte
    Die Rollen von Rosa Luxemburg und Kurt Eisner während der Novemberrevolution 1918/19
  • Christian Dietrich
    «Kein innerer Frieden»
    Eugen Levinés Rede vor dem bayerischen Standgericht im Juni 1919
  • Anja Thuns
    «Cläre, mach’ Du’s!»
    Erinnerungen von Frauen an die Revolutionsereignisse 1918/19
  • Die Autor_innen

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