Welche Spuren hinterlässt die von Mitte-Rechts betriebene Spaltung der Gesellschaft in den Berliner Communities? Über Stimmungslagen und die Reichweite linker Politik in Zeiten zerstörter Zugehörigkeiten sprach Günter Piening mit Ayşe Demir und Safter Çınar vom Türkischen Bund Berlin Brandenburg (TBB), einer der ältesten und größten Migrantenorganisationen Berlins.
Dieses Gespräch ist Teil des aktuellen Online-Schwerpunktes «Migration und Metropolen». Wir beschreiben die Visionen, Versuche, Schwierigkeiten und Chancen auf dem Weg in eine «Stadt für alle» am Beispiel Berlin. In der Auseinandersetzung mit unzähligen solidarischen Initiativen, widerständigen Praktiken und (post)migrantischen Realitäten hat sich die Stadtpolitik zu einem Labor linker Migrationspolitik entwickelt.
Piening: Wenn es um Fragen der Zugehörigkeit geht, dann höre ich aus den Reihen der Migrantenorganisationen häufig den Satz «Wir waren schon mal weiter».
Çınar: Das ist gerade in Berlin eine Geschichte mit Aufs und Abs. Bis 1990 war bei den Arbeitsmigranten, und ich spreche hier vor allem von den türkischen und kurdischen, schon das Gefühl von Zugehörigkeit gewachsen. Mit dem Fall der Mauer verlor nicht nur etwa die Hälfte der Westberliner Arbeitsmigranten ihren Job, es verschob sich auch die gesellschaftliche Debatte auf «Deutschtum». Die Generation der Gastarbeiter, die Westberlin mit aufgebaut hatten, gehörte plötzlich nicht mehr dazu. Die Phase von Rot-Grün auf Bundesebene Ende der 90er verschaffte uns dann ein wenig Luft. Heute haben wir durch das Erstarken der AfD und durch die Diskussion um die Geflüchteten wieder eine Diskussion, die die Anwesenheit von Menschen mit Migrationsgeschichte nicht grundsätzlich in Frage stellt, wohl aber für bestimmte Gruppen, insbesondere Menschen muslimischen Glaubens. Und als solche werden die Menschen türkischer Herkunft markiert.
Demir: Die zweite Generation hat sich bis zum Mauerfall als akzeptierter Teil der Gesellschaft gefühlt, mit dem Mauerfall begann die Degradierung, wir sind nur noch Drittklassbürger.
Es gibt aber auch eine positive Bewegung: Auf der politisch-institutionellen Ebene hat sich gerade in Berlin unter Rot-Rot und jetzt unter R2G - trotz aller Hürden und Hemmnisse – sehr vieles positiv entwickelt. Und in allen Bereichen der Gesellschaft haben sich Menschen mit Einwanderungsgeschichte gute Positionen erarbeitet und die Normalität von Einwanderung ist sichtbarer geworden.
Sarrazin und Folgen
Was aber die gesellschaftliche Akzeptanz von Menschen unterschiedlicher Religion, Herkunft usw. anbelangt, hat ein Rückschritt stattgefunden. Und das begann nicht 2015 mit den steigenden Flüchtlingszahlen. Der Einschnitt nach dem rot-grünen Intermezzo, das uns Hoffnung machte, war früher und trägt den Namen Sarrazin. Mit Sarrazin hat es angefangen, jetzt sehen wir, dass die rechtspopulistischen und rassistischen Sprüche von einem großen Teil der gesellschaftlichen Mitte akzeptiert werden. Es hat eine Verharmlosung stattgefunden, man nimmt es hin, man gewöhnt sich dran.
Çınar: Die ganze Verlogenheit sehen wir an der Debatte um die vermeintliche Bedrohung durch Mehrstaatlichkeit, was ja schon immer vor allem auf die Menschen aus der Türkei gemünzt war. Nach jedem Erdoğan-Besuch beginnt eine Loyalitätsdebatte. Wer für Erdoğan demonstriert, dem wird sofort unterstellt, dass er sich hier nicht heimisch fühlt, und es beginnt eine neue Debatte um die Staatsbürgerschaft. Die Frage, mit wem ich mich wo wann solidarisiere, ist doch keine Frage der Staatsbürgerschaft! Mit diesen Kampagnen wird immer wieder in Frage gestellt, dass die Menschen hier heimisch sind und fühlen können. Das hinterlässt tiefe Spuren. In den letzten 20 Jahren ist soviel kaputt gemacht worden, dass – selbst wenn wir heute eine Super-Politik hätten – es zwei Generationen dauern würde, bis unsere Nachkommen sich als akzeptierter Teil dieser Gesellschaft fühlen.
Piening: Was genau ist kaputt gemacht worden?
Demir: Die Motivation ist kaputt gemacht worden. Man hatte Zukunftsvorstellungen. Man dachte, es gibt Hürden und Hemmnisse, aber dieses Land, «wir!», schaffen das. Inzwischen wird Migration nur in negativen Kontexten zur Sprache gebracht. Das führt dazu, dass man sich noch ausgegrenzter fühlt. Es ist Fakt, dass ein Mensch mehrere Identitäten hat, sich politisch für was weiß ich wo interessiert. Wenn ein hier aufgewachsener Jugendlicher sich nicht für die Verbesserung seiner Lebensumstände hier einsetzt, sondern für Erdoğan auf die Straße geht, dann muss hier etwas schiefgelaufen sein.
Migrantenorganisationen und Geflüchtete
Piening: Wie hat die Community auf die Dominanz der Flüchtlingsthematik reagiert? In der Solidaritätsbewegung der Geflüchteten sind die traditionellen Migrantenorganisationen nur wenig sichtbar.
Çınar: Die Zusammenarbeit zwischen den etablierten Migranten und den Geflüchteten ist in der Tat etwas schwierig, da wird häufig eher das Trennende als das Gemeinsame betont. Ein Teil der Arbeitsmigranten fühlt sich durch die Geflüchteten um die Arbeitsplätze bedroht. Das ist ein wichtiger Faktor. Verrückterweise werden gegenüber den Geflüchteten genau jene Vorwürfe erhoben, denen sie selbst in den 60ern, 70ern ausgesetzt waren: sie sind faul, machen unsere Frauen an usw.
Piening: Dabei wären die Erfahrungen der Migrantenorganisationen doch sehr wichtig für die Geflüchteten.
Demir: Die Migrantenorganisationen stehen nicht im Fokus der Flüchtlingsarbeit, aber sie sind sehr aktiv. In Projekten wie Patenschaftsprogrammen bringen wir Arbeitsmigrant*innen und Geflüchtete zusammen. Dabei geht es nicht nur um praktische Unterstützung z.B. bei Qualifikationsfragen. Wir müssen auch die Geschichte der Migration erzählen, wie wir zu einer Interessenvertretung gekommen sind, warum das notwendig ist. Durch diesen Austausch wirken wir auch Ressentiments der verschiedenen Gruppen untereinander entgegen.
Çınar:: Die Frage ist, ob die Geflüchteten in einer Situation sind, wo sie für so was ansprechbar sind. Die Themen kommen doch erst auf die Tagesordnung, wenn sich ihre Situation normalisiert hat. Im Moment sind die Fragen nach Bleibeperspektive, Familiennachzug, Wohnung doch übermächtig. Es sind unter den Geflüchteten nur einzelne, die das interessiert, was darüber hinausgeht.
Piening: Dann wäre doch die Wohnungspolitik ein gutes Feld, um gemeinsam zu kämpfen. Aber auch hier sieht man migrantische Mieter*innen seltener, obwohl sie doch in den Innenstadtbezirken die Hauptbetroffenen der Verdrängung sind.
Demir: Sie sind schon aktiv dabei, aber längst nicht so massenhaft, wie wir uns das vorstellen. Allgemein gesprochen: Der Kampfgeist der 70/80er Jahre ist verloren gegangen. Nach den Erfahrungen der letzten 30 Jahre herrscht eine gewisse Resignation. Es ist schwer, Menschen zu Demonstrationen zu bewegen. Selbst bei NSU-Veranstaltungen sehen wir nur wenig Menschen mit Migrationsgeschichte. Die Migrantenorganisationen arbeiten gegen diesen Trend, gehen in die Commmunities, versuchen wieder eine Dynamik hineinzubringen.
Piening: Umso wichtiger wäre also eine Politik, die verändert, die wieder Hoffnung schafft, dass der Ausgrenzungsprozess nicht ewig so weiter geht. In Berlin hat die LINKE Regierungsverantwortung. Merkt man das? Was unterschiedet sie von anderen Konstellationen?
«Linke Politik zu schleppend»
Çınar: Ich erwarte unter der Überschrift LINKS eine Politik gegen Diskriminierung und für Gleichbehandlung und Chancengleichheit. In der Migrationspolitik hieße das, eine bessere Partizipationspolitik, ein besseres Zuwanderungs- und Aufenthaltsrecht, erleichterte Einbürgerung. 90 Prozent der Forderungen, die der TBB zur Abgeordnetenhauswahl 2016 vorgelegt hat, finden sich im Koalitionsvertrag wieder. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Politik der LINKEN die Perspektive der migrantischen Organisationen ernst nimmt und berücksichtigt.
Demir: Aber die Umsetzung geht viel zu schleppend und wichtige Positionen werden verwässert. Dadurch entsteht kaum Strahlkraft. Erfolge sehen wir bei der Antidiskriminierungspolitik. Es wird ein Landesantidiskriminierungsgesetz geben, auch wenn es in der Endphase der Verhandlungen ein wenig verwässert wurde. Und auch die Bemühungen, den Begriff «Rasse» aus der Verfassung zu streichen, sind zu begrüßen. Leider konnten wir die Untersagung des Herkunftssprachenverbots an einigen Schulen nicht durchsetzen.
Çınar: Für das gesellschaftliche Klima ist sehr wichtig, dass sich beim Reden über Migration die Terminologie des Senats deutlich unterscheidet gegenüber einer Mitte-Rechts Regierung. Im Umgang mit rassistischen Ereignissen wie Chemnitz etwa gibt es einen wohltuenden Unterschied zwischen den Stellungnahmen aus dem Berliner Senat und denen der Bundesregierung. Das sind gute richtige und wichtige Sachen.
Piening: Reicht das, damit die Hoffnung auf eine «Politik der Zugehörigkeit» entsteht?
Demir: Als Migrantenorganisationen spüren wir eine erheblich bessere Akzeptanz. Wir werden jetzt einbezogen in Entscheidungen, werden gehört und sind akzeptiert. Diese Akzeptanz ist Voraussetzung dafür, dass ein Gefühl von Zugehörigkeit entstehen kann. Das geht aber alles viel zu schleppend.
Çınar: Und wenn das in der Breite Wirkung zeigen soll, dann muss sich auch in den Lebenslagen etwas bewegen – bei der Arbeitslosigkeit, in der Bildungs- und Wohnungspolitik. Wenn hier keine Verbesserungen zu spüren sind, werden die Botschaften nicht ankommen, wo sie ankommen sollen. Solange werden die rechten und antidemokratischen Kräfte das ausnutzen und das demokratische Positive wird nicht so rüberkommen. Wenn dieser Senat am Ende eine gewisse Erleichterung auf dem Wohnungsmarkt schafft und dafür gesorgt hat, dass die Arbeitslosenzahlen bei den Migranten nicht höher sind als bei denen ohne Migrationshintergrund, dann wird man ihm vielleicht auch andere Sachen glauben.
Demir: Notwendig ist ein grundlegend anderer Blick auf die Berliner Gesellschaft. Derzeit arbeitet sich die Politik an dem Thema Geflüchtete ab. Dabei ginge es darum, gemeinsame Interessen zum Ausgangspunkt zu machen – in der Arbeitsmarktpolitik, in der Rentenpolitik, bei Schule und Kitas, beim Wohnen. Die Aufgabe der Politik muss sein, Forderungen als gemeinsame zu entwickeln. Diese Gelegenheit, an die Communities ranzukommen, wird vertan, wenn man alles auf das Thema Geflüchtete und Migration konzentriert. Solch eine Politik würde auch zur Entlarvung der Rechten beitragen.
Wie weltoffen ist Berlin wirklich?
Piening: Ist ein Problem der Regierungs-LINKEN nicht auch, dass die Erfolge sehr kleinteilig sind? Fehlt nicht ein anderes Bild, eine andere Erzählung von Stadtgesellschaft – die «Gesellschaft der Vielen» als übergreifende Klammer und Ausgangspunkt der Politik? Da steckt doch eine ungeheure Kraft, die politisch ungenutzt bleibt. Es ist doch verblüffend, dass in den Erzählungen über diese Stadt die Rechten dominieren, die mit der Wirklichkeit – der Normalität einer Einwanderungsstadt - nun gar nichts zu haben.
Demir: Meinst Du ernsthaft, diese «Stadt der Vielfalt» wird gelebt? Solange ich mit meinen schwarzen Haaren oder ein Bekannter von mir mit seiner Homosexualität und schwarzen Haaren sich nicht in bestimmte Bezirke Berlins traut, würde ich dem nicht zustimmen. Es ist doch unerträglich, dass Angriffe auf Menschen, die nicht einer angeblichen deutschen Norm entsprechen, fast zum Alltag geworden sind und sich kaum einer darüber aufregt. Wir haben uns zu lange zurückgelehnt, haben gesagt, Berlin ist diese weltoffene Stadt. Sie ist es aber nicht. Jede*r siebte Berliner*in hat AfD gewählt. Und bei den Gegendemonstrationen gegen Rechts waren in Stuttgart oder Hamburg mehr Leute auf der Straße als in Berlin.
Çınar:: Wenn man bestimmte politische Erfolge erzielt, vergisst man häufig, dass man auch für deren Erhalt kämpfen muss. Es besteht immer die Gefahr, dass da Kräfte sind, die das zurückdrehen wollen. Das haben wir in Berlin vielleicht nicht immer im Blick gehabt.
Demir: Mittlerweile erkennen aber mehr Menschen, dass wir es uns zu leicht gemacht haben mit unserer Beschwörung des vielfältigen Berlins. Deswegen entstehen doch Bündnisse wie «#unteilbar». Da tut sich was. Wir sind alle an einem Punkt angelangt, wo wir sagen, wir müssen uns zusammentun und gemeinsam gehen. Menschenverachtende Einstellungen in der Gesellschaft insgesamt – Homophobie, Rassismus, Frauenfeindlichkeit – das sind Themenbereiche, entlang derer wir uns zusammenfinden. Ich hoffe, dass wir spätestens durch die Ereignisse in Chemnitz aufgerüttelt sind.
Das Gespräch fand statt am 9.10.2018.
Ayşe Demir ist seit 2012 Vorstandssprecherin des TBB. Arbeitsschwerpunkte der gelernten Sozialpädagogin sind Anti-Rassismus-Arbeit, Migration und Verbraucherschutz, Projektmanagement und Netzwerkarbeit. Sie ist schon seit Jahren im migrations- und partizipationspolitischen Bereich tätig. Seit Oktober 2018 ist sie zudem Lehrbeauftragte an der Alice-Salomon-Hochschule.
Safter Çınar ist Mitbegründer des TBB. Çınar war in den Achtzigern stellvertretender bzw. Vorsitzender der GEW Berlin, später Leiter der Ausländerberatungsstelle und Migrations- und Integrationsbeauftragter des DGB Berlin-Brandenburg. Er hat über Jahrzehnte in vielen Funktionen die Entwicklung der Berliner Migrantenorganisationen und der Migrations- und Partizipationspolitik maßgeblich mitgestaltet.
Weitere Informationen zum TBB unter tbb-berlin.de.