Publication Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Soziale Bewegungen / Organisierung - Geschlechterverhältnisse - International / Transnational - Asien - Westasien - Türkei - Befreiung von Gewalt «Es gibt viele Ausreden für männliche Gewalt ...»

«Erkek Şiddetine Bahane Çok …» — Eine Übersicht der jüngsten Diskussionen zur «Istanbulkonvention»

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Tebessüm Yılmaz, Sibel Schick,

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December 2018

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Istanbul – Taksim, 25. November 2018
Slogans auf der Demonstration gegen Gewalt an Frauen am 25. November 2018 (Taksim, Istanbul): «Wir sind keine Familie, sondern Frauen» , «Gegen männliche Gewalt», «Frauen sind gemeinsam stark» Foto: Özge Özgüner

«Wir sind entschlossen, nicht zu schweigen und unsere Rechte nicht aufzugeben!»

Der 25. November, der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, der in der Türkei erneut von Verboten und Polizeigewalt überschattet wurde, liegt hinter uns. Den Tag zum Anlass nehmend, haben wir eine Übersicht der jüngsten Diskussionen zur Istanbulkonvention zusammengestellt, betrachten ihre Umsetzung in der Türkei und in Deutschland.

Yeter! Es reicht!
Queer-feministische Perspektiven auf die Türkei
 
Der Widerstand von Frauen und LGBTI*-Organisationen in der Türkei ist ungebrochen. Trotz massiver staatlicher Repressionen kämpfen sie gegen den wachsenden Autoritarismus und die Polarisierung in der Gesellschaft. Mit einer Kurztextreihe in deutscher und türkischer Sprache möchte die Rosa-Luxemburg-Stiftung einen Blick auf die aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkei aus feministischen und queeren Perspektiven werfen. Sibel Schick (Autorin) und Tebessüm Yılmaz (Friedensakademikerin) berichten.
 
Türkiye’deki kadınların ve LGBTİ* organizasyonlarının direnişi kırılmadı. Devlet kurumlarının büyük baskılarına rağmen büyüyen otorizme ve toplumdaki kutuplaşmaya karşı savaşmaya devam ediyorlar. Rosa-Luxemburg-Vakfı Türkçe ve Almanca yazılmış kısa metinlerle Türkiye’deki güncel politik gelişmelere queer ve feminist bir açından göz atıyor. Sibel Schick (yazar) ve Tebessüm Yılmaz (barış akademisyeni) bildiriyor.

Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, bekannt als Istanbulkonvention, wurde am 11. Mai 2014 in Istanbul zur Unterzeichnung vorgelegt und trat am 1. August desselben Jahres in der Türkei in Kraft. Seit dem 1. Februar 2018 gilt es auch in Deutschland sowie auf internationaler Ebene.

Die Konvention ist einzigartig, da sie die Verantwortung und Pflichten von Staaten hervorhebt, Frauen vor (häuslicher) Gewalt zu schützen. Nicht nur die Täter werden für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen, sondern auch die Staaten, die die Gewalt nicht verhindern. Alle Arten von Gewalttaten gegen Frauen (z.B. psychologische und physische Gewalt, Stalking, Zwangsabtreibungen, Zwangsheirat, Vergewaltigungen) werden im Detail benannt und die direkte Haftung der Parteien der Konvention wird definiert. Staaten werden für die Ergreifung von Präventivmaßnahmen, die Durchführung wirksamer Ermittlungen und für die Verhängung wirksamer Strafen und Entschädigungen verantwortlich gemacht.

Wie bereits in vorangehenden Artikeln diskutiert, hängt der Anstieg von Morden an Frauen und Transmenschen stark mit der Politik, den Diskursen und Aktionen der türkischen Regierungspartei AKP zusammen. Obwohl die Türkei laut GREVIO, der Expertengruppe des Europarates zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, deren Bericht zur Türkei am 15. Oktober veröffentlicht wurde, einige Verbesserungen im Hinblick auf die Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen aus der Istanbulkonvention vorgenommen hat, ist die Lage äußerst komplex. Im Bericht wird festgestellt, dass die Behörden nach wie vor nicht in der Lage sind, ihren Aufgaben und ihrer Verantwortung nachzukommen und dass die Maßnahmen verstärkt werden müssen, um Lücken in der institutionellen Reaktion auf Gewalt gegen Frauen im Hinblick auf die Sorgfaltspflicht zu erörtern und zu schließen. Darüber hinaus widmet der Bericht der Rolle der Polizei bei der Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen besondere Aufmerksamkeit und fordert weitere Verbesserungen im Kampf gegen Victimblaiming, das nicht-Ernstnehmen von Aussagen von Frauen, gegen den Schutz von Tätern, das Kleinreden von Gewalt und Gewalt gegen Überlebende. Auch wird die Bedeutung von Aufklärung über Gendergerechtigkeit und Sensibilisierung für psychische Gewalt für Beamt*innen in Verwaltung und Justiz sowie Polizist*innen betont.

Erwähnenswert ist die Sorge von GREVIO um die Sicherheit von Frauen sowohl während sogenannter Sicherheitsoperationen in Nordkurdistan als auch im Ausnahmezustand. So ist GREVIO laut des Berichts «über ein erhöhtes Risiko von Gewalt, insbesondere sexualisierter, für Frauen in betroffenen Gebieten und besonders für Frauen, die infolge von Operationen in Gewahrsam oder inhaftiert worden, besorgt.» Auch wird die Rolle von Massenentlassungen von Beamt*innen für die Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen nach Verhängung des Ausnahmezustands erwähnt. Darüber hinaus werden traditionelle Vorstellungen, nach denen Frauen nur ein Teil der Familie sind und häusliche Geschlechterrollen zugewiesen bekommen, staatliche Politiken zum Schutz von familiären Strukturen, Regelungen, die die Familie anstelle des Schutzes von Frauen bevorzugen, und staatliche Interventionen wie Zwangsschlichtungen und Streitbeilegungsverfahren als große Hindernisse der Gewaltprävention genannt.

Obwohl der GREVIO-Bericht erst vor einem Monat erschienen ist, hat Süleyman Soylu, der türkische Innenminister, in einer Ansprache zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen wieder gezeigt, wie die AKP-Regierung mit Frauen und Frauenrechten umgeht. Soylu zitierte das bekannte Sprichwort «Das Paradies liegt der Mutter zu Füßen» und erbat danach Gottes Barmherzigkeit für Frauen, die von Männern getötet wurden. Soylu verherrlicht damit nicht nur die Mutterschaft von Frauen, sondern verschleiert damit vielmehrdie Unfähigkeit des Staates, seine Pflichten und Verantwortung zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen zu erfüllen. Währenddessen kündigte der Gouverneur von Istanbul ein Verbot der alljährlichen Demonstration für Frauenrechte im Istanbuler Stadtteil Taksim zum 25. November an. Trotz Tausender Frauen, die sich unter dem diesjährigen Motto «Es gibt viele Ausreden für männliche Gewalt ... Wir sind entschlossen, nicht zu schweigen und unsere Rechte nicht aufzugeben!» versammelt hatten, griff die Polizei mit Tränengas und Schutzschilden durch, um das Verbot des Gouverneurs durchzusetzten und den Marsch zu stoppen.

Das Verbot und das Vorgehen der Polizei zeigen einerseits die Willkür von (männlicher) Gewalt gegen Frauen und wie diese vom Staat bekräftigt wird. Andererseits wird damit unterstrichen, dass die AKP-Regierung die Verpflichtungen der Istanbulkonvention nicht erfüllt. Es scheinen jedoch die am Taksim und anderswo demonstrierenden Frauen zu sein, welche die Behörden zur Einhaltung der Konvention drängen und den Kampf für den Schutz und Stärkung von Frauen ermöglichen.

Während der GREVIO-Bericht für die Türkei vorliegt und die dortige Situation zeigt, existiert noch kein Bericht zu Deutschland. Obwohl die Konvention schon vor sieben Jahren unterzeichnet wurde, wartete die Bundesregierung bis 2018 auf die Umsetzung, um davor die notwendigen rechtlichen Vorkehrungen treffen zu können.

Obwohl die Istanbulkonvention von ihren Mitgliedsstaaten wirksame Präventions- und Schutzmechanismen verlangt, ist Deutschland davon noch weit entfernt. Aufgrund des föderalen Systems hat jedes Land seine eigene Gesetzgebung. Trotz der Tatsache, dass diese einzelnen Gesetze teilweise Regeln zum Schutz und zur Prävention enthalten, ist die Grundbedingung der Konvention ziemlich klar: landesweit verabschiedete und angewandte Gesetze.

Ein weiteres Problem, das vor allem in der Praxis auftritt, ist, dass die Konvention nicht alle in einem Land lebenden Frauen betrifft. Nachdem die massiven sexuellen Übergriffe am Silvesterabend 2015 in Köln stattfanden, wurde das deutsche Gesetz zu sexueller Gewalt und Vergewaltigung reformiert. Das neue Gesetz erleichtert die Abschiebung ausländischer Staatsbürger, wenn sie aufgrund derartiger Verbrechen verurteilt werden. Viele Migrantinnen und Geflüchtete sind jedoch an die Aufenthaltserlaubnis ihrer Partner gebunden. Das bedeutet, dass im Falle der Verurteilung und Abschiebung eines verheirateten Mannes seine unschuldige Frau zusammen mit dem Täter abgeschoben wird. Darüber hinaus zwingt dieses Gesetz -man bedenke, dass die meisten Sexualverbrechen im Inland begangen werden - Frauen, die von ihren Partnern missbraucht werden, zum Schweigen, hält sie von einer Anzeige ab und setzt sie langfristig sexueller Gewalt aus.. Daher bietet das Gesetz diesen Frauen keinen Schutz.

Im Jahr 2017 wurde alle 2 bis 3 Tage eine Frau von ihrem aktuellen oder ehemaligen Partner getötet. Die realen Zahlen könnten noch höher sein, da es keine Datenerhebung über Frauenmorde gibt, die von alleinstehenden Männern begangen werden. Die Art und Weise der Datenerhebung in Deutschland erweckt den Eindruck, dass die Regierung diese Morde als natürliche Folge eines heterosexuellen Familienkonzepts betrachtet. Darüber hinaus ist die Situation in Frauenhäusern, wie an den vom Familienministerium am 20. November herausgegebenen Statistiken deutlich wird, bestürzend. Die Kapazität der Unterkünfte ist auf 6000 begrenzt, was für ein Land mit 80 Millionen Einwohnern sicherlich nicht ausreichend ist. Deshalb finden viele Frauen keinen sicheren Ort und sind gezwungen zu Hause zu bleiben, wo sie Gewalt ausgesetzt sind.

Der Europarat hat angekündigt, dass der erste GREVIO-Bericht über Deutschland im Jahr 2020 vorgelegt wird. Wenn die Bundesregierung der Welt beweisen will, dass sie Frauen effektiv schützt, muss sie sich beeilen, neue Strategien zur Prävention von Gewalt an Frauen zu entwickeln.