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Nach den Kommunalwahlen in der Türkei am 31. März beginnen die Sparmaßnahmen, meint Ümit Akçay.

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Ümit Akçay,

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Warten am staatlichen Gemüsestand, Istanbul 2019
Istanbul, 11. Februar 2019: Menschen warten in der Schlange vor einem Zelt im Stadtteil Bayrampasa, um Gemüse zu kaufen, das von der Gemeinde zu staatlich subventionierten Preisen angeboten wird. REUTERS/Murad Sezer

Die Türkei befindet sich inmitten einer tiefen Wirtschaftskrise. Die Währungskrise im August 2018 markiert dabei den Beginn der ersten Phase der Krise 2018-2019. Die Auswirkungen der Währungskrise breiteten sich schnell über die Wirtschaft aus: während Inflation, Zinsen und Arbeitslosigkeit anstiegen, waren ein Rückgang industrieller Produktion und ein stagnierendes Wirtschaftswachstum zu verzeichnen. Die zweite, derweil noch andauernde Phase ist von Versuchen der Erdoğan-Regierung geprägt, die Krise in ihren Auswirkungen zu bekämpfen und anderen die Verantwortung für die Krise anzulasten. Die dritte Phase wird nach den Kommunalwahlen am 31. März 2019 beginnen. In diesem Artikel möchte ich mich im Zusammenhang der anstehenden Kommunalwahlen mit dem Hintergrund, den verschiedenen Phasen und der aktuelle Lage der Wirtschaftskrise 2018-2019 befassen.

Zum Hintergrund

Die türkische Wirtschaft wurde zwischen 1998 und 2008 durch Programme des Internationalen Währungsfonds (IWF) gesteuert. Unterdessen erlebte die Türkei 2001 ihre historisch schwerste Wirtschaftskrise. Bei den Parlamentswahlen im Jahre 2002 scheiterten die Parteien, die während der Krise 2001 Teil der amtierenden Koalitionsregierung gewesen waren, an der 10-Prozent-Hürde. Die nur wenige Monate vor den Wahlen gegründete Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) gelangte so allein an die Macht.

Das IWF-Programm, das strenge Austeritätsmaßnahmen beinhaltete, wurde von der AKP unverändert übernommen und umgesetzt. In der ersten Hälfte der 2000er Jahre sorgte die expansive Geldpolitik der USA für ein dynamisches Wachstum in der Weltwirtschaft. Wachsender Risikohunger trieb internationale Fonds in Richtung aufsteigender Marktwirtschaften. Die AKP-Regierungen profitierten ausgiebig von diesen Kapitalströmen. Die unter diesen Bedingungen von der AKP durchgesetzten neoliberalen Reformen führten unter anderem zu einer Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Privatisierungen und zur Unabhängigkeit der Zentralbank. Gleichzeitig wurden Mechanismen der sozialen und finanziellen Inklusion etabliert, die der Dämpfung möglicher negativer Auswirkungen der Marktreformen dienen sollten.[1]

Nach der Rezession der Weltwirtschaft in den Jahren 2008-2009 wurde koordiniert durch die US-amerikanische, die europäische und die japanische Zentralbank eine expansive Geldpolitik (Quantitative Easing) betrieben, in deren Folge Kapitalströme wieder in Länder wie die Türkei zu fließen begannen. Die türkische Wirtschaft fand so 2010 schnell den Weg aus der Krise und genoss bis 2013 ein kräftiges Wachstum.

Das Jahr 2013 wurde für die Türkei zu einem Wendepunkt. Grund dafür waren nicht allein das deutlichere Zutagetreten der autoritären Züge der AKP infolge der Gezi-Proteste oder der sich verschärfende Zwist zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung. Gleichzeitig lösten nämlich im Mai 2013 Signale der US-Zentralbank Fed hinsichtlich einer Zinserhöhung auf den Märkten einen Richtungswechsel von Kapitalbewegungen aus. Das von der AKP seit 2002 beherzigte Wirtschaftsmodell, das auf den Zufluss von ausländischem Kapital angewiesen war, geriet in der Folge ins Stocken.

Die Krise des Akkumulationsmodells

Das Wirtschaftsmodell der AKP bestand in einer Fortsetzung des im Anschluss an die Krise von 2001 übernommenen IWF-Programmes und basierte auf hohen Zinsen zwecks einer Zurückdrängung der Inflation. Die hohen Zinssätze hatten jedoch manche Nebenwirkungen. Aufgrund von Kapitalzuflüssen legte die Landeswährung (die Türkische Lira) immens an Wert zu, was wiederum den Import beflügelte. Preisgünstige Importe schwächten die Produktionsstruktur in den Bereichen Landwirtschaft und Industrie und verstärkten die Auslandsabhängigkeit. Um im Zuge der Krise 2008-2009 Wirtschaftswachstum zu stimulieren, gestattete die AKP Unternehmen außerhalb der Finanzbranche (non-financial corporations), Fremdwährungsschulden aufzunehmen und sich gegenüber dem Ausland zu verschulden. Unternehmen vergrößerten nach dieser Liberalisierung schnell ihre Devisenschulden. Letztlich bewirkte das Modell eine Zunahme sowohl der Importabhängigkeit der Produktion als auch der Empfindlichkeit des Wirtschaftswachstums gegenüber Kapitalbewegungen.

Im Rahmen des nach 2013 einsetzenden strukturellen Krisenzyklus kam es in der Türkei 2014, 2016, und 2018 drei Mal zu einer Konjunkturabschwächung. Der erste Rückgang konnte dank kurzfristig aufblühender Kapitalbewegungen, der zweite hingegen dank einer Ausweitung staatlich geförderter Kredite überwunden werden. Als die wirtschaftliche Lage sich Anfang 2018 jedoch rapide zu verschlechtern begann, zog man die eigentlich für 2019 angesetzten Parlaments- und Präsidialwahlen vor. Bei den am 24. Juni 2018 abgehaltenen Wahlen wurde der AKP-Parteivorsitzende Recep Tayyip Erdoğan zum Staatspräsidenten gewählt. Zudem sicherte sich eine Koalition aus der AKP und der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) die Mehrheit im Parlament.

Die Währungskrise

Nach diesen Wahlen vollzog sich in der Türkei mit dem Übergang vom parlamentarischen System zum Präsidialsystem ein Wechsel des Regierungssystems. Das Präsidialsystem zeichnet sich durch eine Aufhebung der Gewaltenteilung und eine Zentralisierung der Macht in den Händen der Exekutive und des Staatspräsidenten aus.

Zu der politischen Unsicherheit, die der Systemwechsel verursachte, kamen im August Spannungen zwischen der Türkei und den USA hinzu. Nach anfänglichem Druck seitens US-Präsident Donald Trump hinsichtlich der Freilassung eines in der Türkei inhaftierten US-Staatsbürgers, dem Pastor Andrew Brunson, spitzte sich die Lage kurze Zeit später angesichts der Androhung wirtschaftlicher Sanktionen der USA gegen die Türkei weiter zu. Die Türkische Lira verlor in dieser Phase rasch an Wert. Der Wertverlust zwischen Januar und August 2018 belief sich auf etwa 40 Prozent.[2]

Bekämpfung der Auswirkungen der Krise

Einige Monate nach der Währungskrise im August verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation zusehends. Zwischen Januar und Oktober 2018 schoss die Inflation von 10,3 auf 25,2 Prozent, während die Zinsen für Verbraucher*innenkredite von 18,5 auf 38,25 Prozent schnellten. Abgesehen lediglich vom Juli brachte das Jahr 2018 einen dauerhaften Rückgang industrieller Produktion, der im Dezember ein Ausmaß von 9,8 Prozent erreichte. Ein starker Anstieg der Arbeitslosenrate beförderte diese auf ein Niveau von 12,3 Prozent.[3]

Die Reaktion der Erdoğan-Administration auf diesen wirtschaftlichen Zusammenbruch änderte sich mit der Zeit. Im August vertrat die Regierung die Position, dass die Probleme ihre Ursachen nicht in der türkischen Wirtschaft, sondern in den angespannten internationalen Beziehungen hätten und einen Angriff auf die türkische Wirtschaft darstellten.[4]

Als die Auswirkungen der Währungskrise sich in der Wirtschaft auszubreiten begannen, wandelte sich die Rhetorik in den Etagen der Wirtschaftsführung jedoch. Nachdem der Ursprung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten zunächst im Ausland verortet worden war, wurden nun Lagerbesitzer*innen und Großhändler*innen dafür verantwortlich gemacht, Preise durch Zurückhaltung von Waren in die Höhe zu treiben. Weil sich der Preisanstieg insbesondere einiger Nahrungsmittel nicht aufhalten ließ, führte der Staat Razzien in Zwiebellagerhäusern durch und beschlagnahmte dort Zwiebeln.[5] Damit sollte die Botschaft vermittelt werden, dass nicht die Wirtschaftsführung, sondern ausländische Kräfte und türkische Profiteur*innen an den wirtschaftlichen Schwierigkeiten schuld seien. Widerspruch und Widerstand gegen die härter werdenden Arbeitsbedingungen seitens der Arbeitnehmer*innen wurden in dieser Phase streng unterbunden. Streiks wurden mit einem Verbot belegt.[6]

Die Kommunalwahlen im Schatten der Krise

Bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 verpasste die AKP, die die Türkei seit 2002 regiert, erstmalig die Chance, eine Alleinregierung zu stellen. Seit 2015, vor allem aber seit der Volksabstimmung 2017, hält die AKP sich dank einer Allianz mit der MHP an der Macht. In diesem Bündnis geht sie auch in die Kommunalwahlen am 31. März 2019, die unter dem Eindruck einer von grassierender Inflation und Arbeitslosigkeit begleiteten Rezession stattfinden werden. Aus der Perspektive der AKP wird es entscheidend sein, Großstädte wie Istanbul und Ankara bei diesen Wahlen nicht zu verlieren.

Ein Blick auf die Wahlausgänge seit 1980 offenbart, dass es eine Verbindung zwischen den Stimmanteilen der Regierungsparteien und der Wachstumsrate der türkischen Wirtschaft gibt. Zwar war diese Verbindung in dem Zeitraum vor 2002 zugegebenermaßen stärker. Nichtsdestotrotz lässt sich festzustellen, dass Regierungen auch in der Ära der AKP weniger Unterstützung erhielten, wenn die Wirtschaft schrumpfte. Als die türkische Wirtschaft beispielsweise 2009 um 4,3 Prozent rückläufig war, ging auch der Stimmanteil der AKP bei den Kommunalwahlen desselben Jahres auf 38,4 Prozent zurück.[7] Die anstehenden Wahlen sind von einer ähnlichen Wirtschaftskrise begleitet. Allerdings agiert die AKP dieses Mal im Bündnis mit der MHP. Die Ergebnisse lassen sich deshalb nur äußerst schwer vorhersagen.

Die Opposition in der Sackgasse

Es wird erwartet, dass die dritte Phase der Wirtschaftskrise 2018-2019 im Anschluss an die Kommunalwahlen vom 31. März 2019 beginnen wird. Dann wird möglicherweise eine Umsetzung der aufgrund der Wahlen hinausgezögerten Austeritätsmaßnahmen auf der Tagesordnung stehen. Mit Erholung und Wachstum der Wirtschaft ist daher bis Jahresende 2019 kaum zu rechnen.

Die liberale Perspektive, die in den Reihen der republikanischen Opposition in der Türkei dominiert, führt derweil in eine ernsthafte Sackgasse. So vertritt man in der stärksten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP), die Meinung, dass eine Rückkehr zum parlamentarischen System und die Bildung einer Regierung, die das Vertrauen internationaler Investor*innen genießt, zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme der Türkei ausreichen würden. Die liberale Opposition von heute präsentiert sich als Verfechterin des IWF-Programms, das die AKP bereits in ihrer ersten Legislaturperiode implementiert hat. Mit Unterstützung für dieses Programm aus der Arbeiter*innenklasse und aus ökonomisch schwächeren Gesellschaftsschichten ist sicher nicht zu rechnen.

Für die linke Opposition gilt es herauszufinden, mittels welcher politischen Ausrichtung die Türkei in politischer Hinsicht von dem Autoritarismus der AKP sowie auch in wirtschaftlicher Hinsicht von dem im IWF-Programm wurzelnden Marktautoritarismus gerettet werden kann. Derzeit sieht es so aus, als könne einzig eine Strategie, die den Freiheitskampf gegen politischen Autoritarismus und den gegen den Marktautoritarismus zu führenden Kampf um Gleichheit zu vereinen weiß, einen Weg aus der Krise weisen.

Dr. Ümit Akçay ist Assistenzprofessor für Ökonomie, Mitgründer des New Yorker Research Institute on Turkey (RIT) und lehrt derzeit an der Berlin School of Economics and Law (HWR Berlin). Er schreibt über Aspekte ökonomischer Krisen auf dem Blog kriznotlari.blogspot.com.

Übersetzung und Lektorat: Sebastian Heuer und Medine Yilzmaz für lingua•trans•fair


[1] Ümit Akçay, (2018) “Neoliberal Populism in Turkey and Its Crisis”, Institute for International Political Economy Berlin, Working Paper No: 100/2018.

[2] Ümit Akçay and Ali Rıza Güngen, (2018) “Lira’s downfall is a symptom: The political economy of Turkey’s crisis”, Critical Macro, 18.08.2018.

[3] Statistikinstitut der Türkei, http://www.tuik.gov.tr

[4] Ümit Akçay (2018), “Die Krise der türkischen Wirtschaft und die Grenzen abhängiger Finanzialisierung”, PROKLA, 48(4): 617 – 639.

[5] Alastair Jamieson (2019) “Turkey's Erdogan targets inflation by hunting stockpiled onions”, NBC News, 26.11.2018.

[6]Ümit Akçay, (2018) “Krise des neoliberalen Populismus“, Rosa Luxemburg Stiftung, 28.09.2018.

[7] Osman Aydoğuş, (2019) “Ekonomik Krizler ve Seçim”, İktisat ve Toplum, 99: 5-9.