Publication Geschichte - Deutsche / Europäische Geschichte - Arbeit / Gewerkschaften Schicksal Treuhand — Treuhand Schicksale

Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung

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Alrun Kaune-Nüßlein, Albert Scharenberg,

Published

August 2019

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Erinnern Sie sich noch?

Diese Frage habe ich in den vergangenen Wochen und Monaten oft gehört. Der Anlass sind 30 Jahre politische Wende in der DDR, die Grenzöffnung und ihre Folgen. Runde Jahrestage bringen es so mit sich, dass wir uns bewusst erinnern und fragen: Wie war das? Was haben wir damals erlebt? Wie geht es uns heute? In Ostdeutschland sind diese Fragen immer verbunden mit biografischen Brüchen, mit der Erinnerung an den damaligen Arbeitsplatz und die Überführung der einst volkseigenen Betriebe in private Unternehmen. Und ganz schnell geht es dann um die «Treuhand». Während vor einigen Jahren bei diesem Thema noch so manches Gespräch verstummte, weil niemand gern über Arbeitsplatzverlust, Existenzängste und das Ringen um einen Neuanfang spricht, gibt es jetzt das zunehmende Bedürfnis, diese Erfahrungen zu teilen und auszutauschen.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat dieses Bedürfnis aufgegriffen und lässt in einer Ausstellung die Geschichte der Treuhand durch ostdeutsche Lebensgeschichten lebendig werden. Die individuellen Geschichten machen deutlich: Der ökonomische Kahlschlag auf dem Gebiet der ehemaligen DDR war für viele ein Schock. Sie haben das Agieren der Treuhandanstalt wie einen Schicksalsschlag empfunden. Der Protest gegen die Politik der Treuhand hat die Anstalt von Anfang an begleitet – ebenso wie die Erfahrung, dass Widerstand in Form von Betriebsbesetzungen, Demonstrationen vor der Treuhandzentrale in Berlin oder sogar Hungerstreiks zumeist vergeblich war. Es war ein Kampf David gegen Goliath, den in der Regel die Treuhand gewann.

Bei den Massenentlassungen ging es nicht um individuelle Lebensleistungen. Emanzipationserfahrungen der Jahre 1989/90, berufliche Qualifikationen und Kenntnisse aus 40 Jahren DDR fanden keinerlei Berücksichtigung. Das war vor allem für jene schmerzhaft, die die DDR mit aufgebaut hatten, deren Lebensund Familiengeschichte auf vielfältige Art und Weise mit der Berufstätigkeit und dem Arbeitskollektiv verknüpft war. Sie mussten ohnmächtig mit ansehen, wie ihr Betrieb für die symbolische eine D-Mark verkauft oder gleich ganz geschlossen wurde.

Diese Abwicklungen empfanden viele als ungerecht und demütigend. Einige haben ihre Heimat verlassen und versuchten in den alten Bundesländern einen Neuanfang. Wer Glück hatte, fand vor Ort einen neuen Arbeitsplatz. Wer kein Glück hatte, blickt heute auf eine sogenannte gebrochene Erwerbsbiografie zurück, in der sich Beschäftigungszeiten mit Phasen der Erwerbslosigkeit, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Ein-Euro-Jobs oder auch mit dem Versuch der Selbstständigkeit abwechselten.

Dabei war die ursprüngliche Idee der Errichtung einer Treuhandanstalt eine ganz andere gewesen. Als «Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums» war sie am 1. März 1990 von der Modrow-Regierung beschlossen worden mit dem Ziel, das Volkseigentum zu bewahren und im Interesse der Allgemeinheit zu verwalten. Mit dem Sieg der «Allianz für Deutschland» bei der letzten Volkskammerwahl 1990 wurde die Treuhand dann zur Privatisierungsbehörde.

Die Auswirkungen sind bis heute spürbar. Noch immer besteht eine wirtschaftliche und soziale Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland. Das Versprechen der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist nicht erfüllt. Die Wirtschaftsstruktur im Osten ist eher kleinteilig, es fehlen große Industriebetriebe. Bei Einkommen und Vermögen hinkt der Osten dem Westen hinterher. So bekommen in Ostdeutschland laut Entgeltatlas der Bundesagentur für Arbeit 2017 (Stand 31.1.2019) Altenpfleger*innen monatlich 499 Euro brutto weniger, Mechatroniker*innen 755 Euro und Maurer*innen sogar 955 Euro. Ostdeutsche sind auch heute noch in Führungspositionen unterrepräsentiert. Die Politik der Treuhand und ihrer Nachfolgeorganisationen kann zwar nicht mehr rückgängig gemacht werden, es ist aber wichtig, Zeitzeug*innen zu hören und die Geschichte der Treuhand und die Ergebnisse ihres Wirkens in Ostdeutschland politisch aufzuarbeiten. Zwei parlamentarische Untersuchungsausschüsse dazu hat es im Bundestag bereits gegeben. Sie scheiterten zum einen am mangelnden Aufklärungswillen der Union, die in der Nachwendezeit hauptverantwortlich für die Treuhandpolitik war, und zum anderen an der Unzugänglichkeit der Akten. Dies befördert Legendenbildung und Mythen, die heute von Rechtspopulist*innen für ihre Politik missbraucht werden. Nur die Öffnung der Archive und der öffentliche Zugang zu den Treuhandakten können für Transparenz und Aufklärung sorgen und damit die Hintergründe der Privatisierungs- und Liquidierungspolitik von volkseigenem Vermögen durch die Treuhand offenlegen.

In diesem Begleitbuch zur Ausstellung «Schicksal Treuhand – Treuhand-Schicksale» können Sie die Geschichten von Zeitzeug*innen lesen. Sie waren zur Wendezeit beispielsweise Schlosser in der Neptunwerft Rostock oder Kranführerin im Stahlwerk Riesa, waren Betriebsdirektor in der Braunkohlenveredlung Lauchhammer oder Pharmazeutin im Pharmawerk Neubrandenburg. Sie reflektieren die damaligen Ereignisse und schildern die Auswirkungen der Treuhandpolitik auf ihren Lebensweg. Es sind bewegende Geschichten, die zum Nachdenken anregen. Sie sollen auch Ermutigung sein, eigene Geschichte(n) selbstbewusst weiterzugeben.

Hans Modrow, 1989/90 Ministerpräsident der DDR, und Christa Luft, Wirtschaftsministerin in der Modrow-Regierung, lassen die Zeit aus ihrer Sicht noch einmal Revue passieren. Professor Jörg Roesler ordnet die Treuhandanstalt und ihre Politik historisch ein, Bernd Gehrke dokumentiert den Widerstand.

Ich danke Katrin Rohnstock und ihrem Team für ihr Engagement und ihre Beharrlichkeit bei der Erarbeitung dieses Projekts. Sie setzen sich seit Jahren mit der Treuhandpolitik auseinander und motivieren ehemalige Beschäftigte der DDR-Betriebe, ihre Geschichten zu erzählen. Ich danke allen Erzählenden für ihre Offenheit und die Bereitschaft, sich an diesem Projekt der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu beteiligen. Es ist wichtig, die Erinnerungen für künftige Generationen zu bewahren. Neben einer noch ausstehenden politischen Aufarbeitung der Treuhandpolitik, ihrer Folgen und der Verantwortung der Bundesregierung ist es an der Zeit, den Weg zur deutschen Einheit neu zu reflektieren und den Blick nach vorn zu richten: Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Demokratie müssen in eine neue Balance gebracht werden, damit das Versprechen der gleichberechtigten sozialen und demokratischen Teilhabe nicht unter die Räder eines neuen Autoritarismus und Nationalismus gerät.

Dagmar Enkelmann, August 2019