Publication Geschichte - Deutsche / Europäische Geschichte - International / Transnational - Europa - 30 Jahre 89/90 Eine andere Welt

maldekstra #6 zum Epochenbruch von 1989 und zu neuen Perspektiven 30 Jahre danach

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maldekstra

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December 2019

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Lange galt 1989 als «Fluchtpunkt des 20. Jahrhunderts». Doch was die Rede vom vermeintlichen «Ende der Geschichte» überdeckt hat, kommt 30 Jahre danach umso deutlicher zum Vorschein: 1989 markiert nicht bloß das Ende des sogenannten Realsozialismus und der Blockkonfrontation, sondern auf der ganzen Welt den Beginn einer neuen Zeit – die nun ihre eigenen Narben zeigt. Viele der Erwartungen an Demokratisierung, Friedensdividende und politischen Aufbruch sind enttäuscht worden. «Und sie bewegt sich doch.» Der Blick zurück auf den Epochenbruch 1989 hilft, neue Perspektiven für die Zukunft zu gewinnen.

ckwärts, vorwärts: ein neuer Blick

Was uns Geschichte bedeutet, war und ist immer eine Frage der Gegenwart: Wir blicken 30 Jahre nach 1989 anders darauf als zu früheren Jubiläen. Und das hat etwas mit dem Heute zu tun. Die Selbstverständlichkeit, mit der lange Zeit der Wandel in Osteuropa als «Sieg des Westens» beschönigt wurde, ist vielerorts kritischer Rückschau gewichen. In den bundesdeutschen Debatten spielen nun zum Beispiel die sozialen und politischen Folgen des Transformationsprozesses nach 1989 eine wichtige Rolle. Ein neuer, mehr internationaler Fokus fragt danach, was weltweit mit dem Signum «1989» verbunden ist – und was aus damaligen Hoffnungen wurde. Auch in der politikwissenschaftlichen Literatur macht sich diese Änderung bemerkbar. Wer die Bücher von Ivan Krastev, Stephen Holmes, Philipp Ther oder Kristina Spohr liest, erfährt etwas über die neue Perspektive und vor allem über die Welt von heute. Oder, wie es bei Ther heißt, über «das andere Ende der Geschichte.»

«Wir lesen ‹1989› heute auch als Beginn neuer Problemlagen, als bloßes Durchgangsstadium, als Zäsur im Kontext von Kontinuitäten», so hat es der Historiker Martin Sabrow unlängst formuliert. Die Historikerin Kristina Spohr, die gerade eine voluminöse Geschichte jener «Wendezeit» veröffentlicht hat, schreibt, nichts habe «die führenden Politiker auf einen so schnellen und umfassenden Wandel vorbereitet». Gemeint sind jene im «Westen», die zwar «jahrzehntelang Kriegsspiele» veranstaltet hätten, aber «ohne je ein Szenario für einen friedlichen Ausgang des Kalten Kriegs zu entwickeln.» Und das zeigt Folgen bis heute: «Die Schwächen der internationalen Regelung, die den Kalten Krieg beendete, sind heute offensichtlich», so Spohr. «Eingefrorene Konflikte, Auflösung von Rüstungsabkommen, Verknöcherung internationaler Institutionen, Aufstieg mächtiger autoritärer Regime, gewachsene Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen» …

Was heißt das für die gesellschaftliche Linke? Erstens, dass so Analysen zu ihrem späten Recht kommen, die schon früher aus einer anderen Perspektive auf «1989» blickten. Wolfgang Fritz Haug hat die große «Wende» und das Jahrzehnt nach 1989 in zwei ausführlichen Tagebüchern beobachtend verarbeitet. Schon vor zwei Jahrzehnten registrierte er rückblickend, wie «betroffen» er war, «vom Zeitlupentempo und der unheimlichen Gründlichkeit, mit der die Lawine der Veränderungen zu Tale ging, nationale Entwicklungsregime und soziale Einrichtungen in vielen Teilen der Welt vernichtete und einen Rattenschwanz bestialischer Bürgerkriege und imperialistischer Interventionen nach sich zog.»

Haug mahnte damals aber auch, «den Bann des Rückblicks zu brechen» und, wie es Walter Benjamin empfohlen hatte, mittels der Stützen «der Erfahrung, des gesunden Menschenverstandes, der Geistesgegenwart und der Dialektik» den Blick wieder «in die geschichtliche Prozessrichtung umzuwenden», also: nach vorn, in die Zukunft, die nicht so sein müsste, wie sie mitunter erscheint, die also anders zu gestalten bleibt, wenn wir es wollen. Grund dafür gibt es zuhauf, denn auch «die vermeintlichen Sieger der Geschichte erfahren sich ihrerseits in den krisengetriebenen Strudel der Veränderungen hineingerissen.»

Hierin liegt die zweite heutige Bedeutung von «1989» für die gesellschaftliche Linke: den Blick auf die damalige Welterschütterung immer wieder neu auszurichten, die nationale Selbstbezogenheit der Rückschau zu überwinden, den Eigensinn der «Wenden der anderen» zu begreifen und dabei die Verknüpfungen mit der eigenen Geschichte zu berücksichtigen. Es steht noch etwas aus, könnte man sagen: 1989 steht für Hoffnungen, die immer noch unerfüllt sind und an die zu erinnern den Treibstoff bilden kann für künftige Veränderungen.

 
Tom Strohschneider, Dezember 2019