I. «In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von Neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.» (Walter Benjamin)
In seinen fragmentarischen Thesen «Über den Begriff der Geschichte» stellt Walter Benjamin der vorherrschenden, «bürgerlichen» Geschichtsbetrachtung, dem Historismus, eine fundamental andere Annäherung an die Geschichte gegenüber. Bekanntlich wolle die Geschichtsschreibung des Historismus sich in die handelnden Akteure einfühlen, um die Geschichte zu verstehen. Aber in wen fühlt sie sich ein? «Die Antwort lautet unweigerlich», schreibt Benjamin, «in den Sieger. Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugute. […] Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen.»
Bei diesem Triumphgeheul mögen kritische Geister nicht mittun. Eine linke, das heißt kritische Sicht auf die Geschichte betreibt schließlich keine Hofschreiberei, die noch immer den Fürsten, Königen und Autokraten gedient hat, sie formuliert auch kein selbstgefälliges «L’histoire pour l’histoire» (Geschichte um der Geschichte willen), sondern richtet den Blick aufs Vergangene mit dem ausdrücklichen Ziel, das historische Kontinuum der Sieger zu durchbrechen und strategische Räume für befreiendes Handeln zu erkunden. Linke, demokratisch-sozialistische, auf Emanzipation und Befreiung gerichtete Geschichtsschreibung wird deshalb die lange Kette der Siege, die die Herrschenden errungen haben, infrage stellen und jenen mit Empathie begegnen, die nicht über die Mittel verfügten, ihre Erfahrungen in gleicher Währung zu überliefern. Linke Geschichtsschreibung verwehrt sich der Verführungskraft wortreicher Hofschranzen vergangener Epochen, und sie tut dies nicht zuletzt im Interesse derjenigen, die heute, in der Gegenwart, von den Erben der herrschenden Klassen der Vergangenheit beherrscht werden.
Bertolt Brechts berühmte «Fragen eines lesenden Arbeiters» bringen den mit einer solchen Annäherung verbundenen Perspektivwechsel anschaulich zum Ausdruck. «Wer baute das siebentorige Theben? / In den Büchern stehen die Namen von Königen./Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? […] Selbst in dem sagenhaften Atlantis /Brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang/Die Ersaufenden nach ihren Sklaven.»
Linke Geschichtsschreibung, wie wir sie verstehen, entreißt der Vergangenheit ein alternatives Narrativ, eine vergessene Geschichte von unten. «Die materialistische Geschichtsdarstellung», schreibt Benjamin in seinem «Passagen-Werk», «führt die Vergangenheit dazu, die Gegenwart in eine kritische Lage zu bringen».
II. «Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.» (Rosa Luxemburg)
Wie bereits die Berufung auf die jüdisch-polnische Namensgeberin zeigt, versteht sich die Rosa-Luxemburg-Stiftung als Teil der gesellschaftlichen Grundströmung des demokratischen Sozialismus. Die beiden Begriffe «Demokratie» und «Sozialismus» gehören für die Rosa-Luxemburg-Stiftung unauflöslich zusammen.
Die Verschränkung von «Demokratie» und «Sozialismus» steht im Mittelpunkt unseres historischen Selbstverständnisses. Und das aus gutem Grund: Im Namen des Sozialismus und Kommunismus sind Fehler und Verbrechen begangen worden, deren Wurzeln wir verstehen und deren Wiederholung wir verhindern wollen. Der von Marx in der Einleitung zur «Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie» formulierte Anspruch – «alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist» – bleibt für uns auch mit Blick auf die Katakomben des Stalinismus und «Poststalinismus» der kategorische Imperativ. Denn historische Gerechtigkeit ist unteilbar. Wir sind davon überzeugt: Wer sich den Irrtümern und Verbrechen, die im Namen des Sozialismus begangen wurden, nicht stellt, büßt nicht nur seine Glaubwürdigkeit ein, sondern legt den Grundstein für ihre Wiedergeburt. In diesem Sinne beruht demokratischer Sozialismus auf einem antistalinistischen Grundkonsens.
Im Kontrast zu «neuen Rechten» wie Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán, die für eine «illiberale Demokratie» streiten, sehen wir individuelle Freiheit und rechtsstaatliche Garantien als konstitutiv für Demokratie. Denn ohne Schutz vor Willkür ist demokratische Mitbestimmung unmöglich. In diesem Sinne gehören Freiheit und Gleichheit zusammen, bilden ein Tandem, wie Michael Brie betont: «Freiheit ohne Gleichheit ist Ausbeutung. Gleichheit ohne Freiheit ist Unterdrückung. Solidarität ist die Quelle von Freiheit und Gleichheit.»
Zugleich plädiert die Rosa-Luxemburg-Stiftung für ein hohes Maß an historischer Differenzierung. Anstatt ideologisch motivierte Vorurteile zu schüren, muss man sich schon die Mühe machen, genau hinzuschauen. Das gilt ausdrücklich auch für die Geschichtsschreibung über die DDR und die Biografien ihrer individuellen Bürgerinnen und Bürger.
III. «Der Widerspruch belebt die Konversation; deshalb ist es an den Höfen so langweilig.» (Deutsches Sprichwort)
Kritische Geschichtsschreibung steht notwendig im Widerspruch zur Herrschaftslegitimation. Aus ihrer Perspektive ist der Widerspruch die Lokomotive intellektueller und der Widerstand der Motor gesellschaftlicher Entwicklung.
Es gibt historische Fakten, und es gibt wahre und unwahre Aussagen. Was es indes nicht gibt, ist eine «richtige» Interpretation des Vergangenen. Auch in dieser Hinsicht hat sich die parteikommunistische Logik als fatal erwiesen, der zufolge das «historische Subjekt», die Arbeiterklasse, eine «historische Mission» erfülle, welche letztlich nur durch die «führende Rolle» der Partei verwirklicht werden könne, die deshalb «immer recht» habe. Es ist daher logisch konsequent, dass der Stalinismus vor einer Fälschung historischer Tatsachen – neudeutsch: Fake News – nicht zurückschreckte; erinnert sei nur an das Retuschieren von Fotos.
Wenn aber der Schlüssel kritischer, dialektischer Geschichtsbetrachtung im Widerspruch liegt, dann bedarf es eines demokratischen Pluralismus. Anders ausgedrückt: Unterschiedliche Fragestellungen, Interpretationen und Bewertungen historischer Ereignisse und Zusammenhänge sind das Fundament einer demokratischen Geschichtsschreibung.
Allerdings hat der Pluralismus noch eine weitere Dimension. Allzu lange hat auch linke Geschichtsschreibung jenseits des Parteikommunismus die Historie im Wesentlichen als Produkt weißer, männlicher Akteure betrachtet (und oftmals das «historische Subjekt» entsprechend definiert). Auf diese Weise aber wird die Mehrheit der Akteure, werden die Frauen, die Kolonialisierten, die Marginalisierten schlicht eskamotiert. Glücklicherweise haben die Emanzipationsanstrengungen, von der Frauen- über die Schwarzen- bis zur LGBT-Bewegung, wesentlich dazu beigetragen, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten. Dabei geht es ums Ganze: Wer etwa die Geschichte des atlantischen Dreieckshandels untersucht, wird, wenn er diesen aus der Perspektive der Reeder und Kaufleute betrachtet, ein völlig anderes Bild zeichnen, als jene Historikerin, die die Sklavinnen und Sklaven in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung stellt. Erkenntnis und Interesse hängen auch in dieser Hinsicht eng zusammen. Wer den Blick auf die historisch Unterdrückten richtet, wird nicht umhinkommen, neben der Ausbeutung durch kapitalistische Lohnarbeit auch die Geschlechterhierarchie, den Kolonialismus und andere Formen gesellschaftlicher Herrschaft zu thematisieren.
IV. «Die mächtigste Waffe des Unterdrückers ist das Bewusstsein der Unterdrückten.» (Steve Biko)
Gerade für die deutsche Linke bedeutet Geschichtspolitik, die NS-Vergangenheit nicht ruhen zu lassen, sondern den Nazis und ihren «populistischen» Apologeten entschlossen entgegenzutreten. «Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung», schrieb Theodor W. Adorno in seinem Aufsatz «Erziehung nach Auschwitz». Anders ausgedrückt: Die aus den Reihen der AfD geforderte «erinnerungspolitische Wende um 180 Grad» gilt es zu verhindern.
Die Geschichte beeinflusst die Gegenwart allerdings keineswegs nur, oder auch nur vorrangig, über geschichtspolitische Auseinandersetzungen. Vielmehr prägen die sich verändernden und doch fortbestehenden materiellen, aber auch politischen und kulturellen Bedingungen der Herrschaft – und damit auch die Weitergabe von Erfahrungen und Traditionen über Generationen hinweg – ganz wesentlich das Bewusstsein der Menschen wie auch das Bild, das sie sich von ihrer Gesellschaft machen. Ihr Bewusstsein wird auf diese Weise, wie Steve Biko es formulierte, zu einer Waffe der Herrschenden. «Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alb auf dem Gehirne der Lebenden», schrieb Karl Marx im «18. Brumaire». Für Antonio Gramsci folgte daraus der in den «Gefängnisheften» formulierte Anspruch, «die gesamte bisherige Philosophie zu kritisieren, insofern sie verfestigte Schichtungen in der Popularphilosophie hinterlassen hat».
Fest steht: Es gibt weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft eine «Stunde null», die Tabula rasa machte in den Köpfen der Individuen. Leben und Denken vollziehen sich notwendigerweise in Widersprüchen, und kein Francis Fukuyama, kein Hegelscher Weltgeist wird uns ans «Ende der Geschichte» führen. Im Gegenteil: Das Wissen um diese Widersprüchlichkeit bleibt notwendige Voraussetzung einer auf Emanzipation gerichteten Geschichtswissenschaft und -politik.
(Zuerst veröffentlicht in Bärbel Förster (Hrsg.): Ohne Gedächtnis keine Zukunft oder Archive brauchen Gegenwart, Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung 2019, S. 77-80.)