Publication Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Osteuropa - Umkämpftes Erinnern im Osten - 8. Mai 1945 Der 2. Weltkrieg in der ukrainischen Erinnerungspolitik

Zwischen «Dekommunisierung» und nationaler Heroisierung

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Stanislav Serhiienko,

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April 2020

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«Mutter Heimat»-Denkmal in Kiew
Die «Mutter-Heimat»-Statue in Kiew als Symbol des Sieges im Zweiten Weltkrieg, auf dem bis heute das sowjetische Wappen prangt. CC BY 2.0, Jorge Láscar, via Flickr

In der Ukraine nimmt Geschichte einen wesentlichen Platz in öffentlichen Debatten ein. Zweifellos hängt das mit der Schwäche und der Randstellung des ukrainischen Kapitalismus zusammen. Der Staat und die Eliten haben es ständig nötig, sich selbst und ihre Ansprüche zu legitimieren und die Geschichte bietet dafür eine passende Ressource. Der Zweite Weltkrieg steht dabei im Mittelpunkt der Konflikte zwischen verschiedenen Erinnerungsnarrativen, sowohl innerhalb der Ukraine als auch zwischen der Ukraine und ihren Nachbarn.

Stanislav Serhiienko ist ein linker ukrainischer Aktivist und Redakteur der Zeitschrift «Commons» und des Magazins «September». An der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie schloss er einen Bachelor in Geschichte ab. Gegenwärtig absolviert er einen Master in Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Schwerpunkte sind der Holocaust in der Ukraine und Erinnerungspolitik im Staatsozialismus und in postsozialistischen Ländern.

Die sowjetische Politik des Erinnerns an den Zweiten Weltkrieg fußte auf dem Mythos des «Großen Vaterländischen Krieges» (1941–1945), den das sowjetische Volk durch die heldenhaften Anstrengungen der Kämpfer*innen an der Front und im Hinterland gewonnen hat. Die bewusste Konstruktion dieses Mythos begann schon während des Krieges, doch besonders große Bedeutung erlangte er während der Amtszeit Leonid Breschnews. Die drei slawischen Sowjetrepubliken standen im Zentrum dieses Mythos. Die von menschlichem Leid und menschlichen Erfahrungen durchdrungene «Schützengrabenwahrheit» verquickte sich dabei mit dem offiziösen militaristischen Erinnerungsnarrativ über den Großen Sieg.

Während der «Perestroika» begann in der Ukraine der Prozess der «Souveränisierung» und/oder «Nationalisierung» der Geschichte. Bedingt durch den erneuten Aufstieg nationaler Ideen und die Bildung einer nationaldemokratischen oppositionellen Bewegung. Zu Beginn der 1990er Jahre wurde allmählich ein neuer Kanon geschaffen und «weiße Flecken» der sowjetischen Geschichte wurden ausgefüllt. Der Historiker Georgi Kasjanow unterscheidet zwischen zwei exklusiven Erinnerungsnarrativen in der unabhängigen Ukraine: dem sowjetisch-nostalgischen (in den Süd- und Ostgebieten der Ukraine vorherrschend) und dem nationalen/nationalistischen (in den Westgebieten vorherrschend). Daneben existiert das gemischte oder das ambivalente Narrativ, dass in den zentralen Gebieten des Landes dominiert. Der Zweite Weltkrieg ist eines der zentralen Elemente, die diese Erinnerungsnarrative voneinander trennen. Während im nationalistischen Narrativ die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und die Ukrainische Aufständische Armee (UPA) als «wahre» Kämpfer für die ukrainische Unabhängigkeit gegen die Sowjetunion und Nazideutschland dastehen (häufig ist die Rede vom Kampf «gegen zwei Totalitarismen»), nimmt die Rote Armee eine entsprechend negative Rolle ein. Nämlich die Rolle einer Kraft, die zur «Okkupation» der Ukraine beitrug. Im sowjetisch-nostalgischen Narrativ werden die Sowjetunion und die Rote Armee als Befreier der Ukraine von der faschistischen Besatzung beschrieben. Die OUN und die UPA hingegen als Kollaborateure und Nazihelfer.

Der offizielle Umgang mit der Geschichte hat sich mehrfach verändert. Präsident Leonid Kutschma (1994–2005) und die damaligen politischen Eliten versuchten einen Balanceakt zwischen verschiedenen Versionen der Vergangenheit. Die OUN und die UPA waren in den Geschichtslehrbüchern vertreten, jedoch wurde ihnen keine Schlüsselrolle eingeräumt. Schon in den 1990er Jahren wurde das sowjetische Narrativ des «Großen Vaterländischen Krieges» «nationalisiert». In Lehrbüchern, offiziellen Dokumenten und öffentlichen Reden wurde vom «Großen Vaterländischen Krieg des ukrainischen Volkes» und dem Beitrag des ukrainischen Volkes zum Sieg über den Faschismus gesprochen. Erst während und insbesondere nach der sogenannten «Orangen Revolution» (2004–2005) fingen verschiedene Parteien der herrschenden Klasse an, die Geschichte als eine politische Ressource zu «entdecken», die man im Kampf um die Stimmen der Bürger*innen benutzen kann. Jeder spätere Machtwechsel führte dabei zu Veränderungen in der Erinnerungspolitik.

Das nationalistische Gegennarrativ bildete sich in der Ukraine bereits Ende der 1980er Jahre heraus, wobei es schon zuvor auf der familiären Ebene und in der Emigration existierte. Die ersten Denkmäler für Stepan Bandera, den Anführer der OUN, sind im Westen der Ukraine bereits in der spätsowjetischen Zeit entstanden, in den Jahren 1990 und 1991. Aber erst in der Amtszeit von Wiktor Juschtschenkos (2005–2010) wurde die Heroisierung der UPA zum Bestandteil der Staatspolitik. Dieser verlieh den Anführern der OUN und der UPA offiziell den Titel als «Helden der Ukraine». Der Zweite Weltkrieg wurde nunmehr nicht als ein heroischer Sieg über die Nazis angesehen, sondern als eine furchtbare Tragödie des ukrainischen Volkes in einer Situation der «Staatenlosigkeit». Nachdem Wiktor Janukowytsch (2010–2014) Präsident wurde, änderte sich die Erinnerungspolitik erneut. Es kam zu einem Rückfall in die sowjetisch-nostalgische Version der Geschichte. In die Lehrbücher kehrte der Begriff «Großer Vaterländischer Krieg» zurück und die Anführer der OUN und der UPA verloren ihren Heldenstatus.

Erinnerungspolitik nach dem Maidan: «Dekommunisierung» und Heroisierung

Die Post-Maidan-Regierung begann in ihrer instabilen Lage den Nationalismus als einen Legitimationsmechanismus für das Regime zu nutzen. Dies stellte einerseits eine logische Fortsetzung der «Identitätspolitik» des Euromaidan dar und verfolgte andererseits das Ziel, sich als das Gegenteil zur «Identitätspolitik» der Antimaidan-Proteste im Süden und Osten des Landes zu positionieren und in der Folge auch zu den separatistischen Republiken, die sich auf das sowjetisch-nostalgische Narrativ berufen. Die Kriegserinnerung wurde für beide Konfliktparteien zu einer Mobilisierungsressource. Die jeweiligen Feinde mit Faschisten zu vergleichen – etwas, was beide Konfliktparteien tun, aber die prorussische besonders laut – beziehungsweise der Vergleich mit «sowjetischen Okkupanten», den die ukrainische Seite bemüht, wurde zu etwas Alltäglichem.

Schon in der zweiten Hälfte 2014 wurde das Ukrainische Institut für Nationale Erinnerung (UINP), welches noch zu Juschtschenkos Zeiten gegründet worden war, aber unter Janukowytsch seine zentrale Rolle einbüßte, wieder zu einer zentralen Behörde «im Bereich der Erneuerung und Bewahrung der nationalen Erinnerung des Ukrainischen Volkes» umfunktioniert. Leiter des Instituts wurde Wolodymyr Wjatrowitsch, ein Historiker, der durch seine Versuche bekannt geworden war, die OUN und die UPA reinzuwaschen. Das Institut konnte durch Lobbyismus erreichen, dass das sogenannte «Gesetzespaket zur Dekommunisierung» vom Parlament verabschiedet wurde. Trotz Kritik geschah dies ohne Diskussion und unter Verletzung der Geschäftsordnung. Laut diesem Gesetz wird die sowjetische Vergangenheit mit der Nazivergangenheit gleichgestellt und die komplette sowjetische Geschichtsperiode (1917–1991) als verbrecherisch und totalitär verurteilt. Auf Grundlage dieses Gesetzes wurden die Kommunistische Partei der Ukraine (KPU) sowie weitere Organisationen, die sich als kommunistisch positionierten, verboten. Außerdem wurden umfangreiche Umbenennungen vorgenommen und sowjetische Denkmäler und Mosaike zerstört. Verstöße gegen dieses Gesetz werden mit bis zu fünf Jahren Freiheitsbeschränkung beziehungsweise Freiheitsentzug mit oder ohne Vermögensbeschlagnahme geahndet.

Das «negative» Gesetz wurde durch ein «positives» Gesetzt mit der Bezeichnung «Über den Rechtsstatus und die Verehrung der Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine im 20. Jahrhundert» ergänzt. Unter anderen heroisiert dieses Gesetz widersprüchliche Organisationen wie die OUN (sowohl die Melnyk als auch die Bandera-Fraktion) und die UPA. Außerdem wurde im Herbst 2014, durch eine Sonderverfügung des Präsidenten Poroschenko, der 14. Oktober zum Tag des Verteidigers der Ukraine erklärt. Dieser Tag wurde von verschiedenen nationalistischen Organisationen als Gründungstag der UPA gefeiert. Die Ideologie der OUN war über lange Zeit, wenn nicht faschistisch, dem Faschismus jedoch sehr nahe. Ihre Mitglieder kooperierten mit faschistischen Bewegungen in Europa und mit Nazideutschland, zudem beteiligten sich einige ihrer Mitglieder während des Zweiten Weltkrieges am Holocaust und an ethnischen Säuberungen gegenüber Pol*innen.

Ein Gesetz der Doppelstandards

Im ebenfalls verabschiedeten Gesetz über das Verbot kommunistischer und nationalsozialistischer Symbolik wird unverhältnismäßig detailliert beschrieben welche kommunistischen Symbole verboten werden, während die faschistischen Symbole im Gegensatz dazu fast unbeachtet bleiben. Mit Ausnahme der Schlüsselsymbole der NSDAP und Nazideutschlands. Außerdem ist durch Novellierungen des Strafgesetzbuches das Verbot der öffentlichen Rechtfertigung und Leugnung der Verbrechen des Faschismus aus dem Gesetzestext verschwunden, einschließlich der Verbrechen, die von denjenigen begangen wurden, die gegen die Anti-Hitler-Koalition kämpften, mit den Nazis kooperierten, und «der von der Organisation Waffen-SS und ihr unterstellten Strukturen begangener Verbrechen».

Eine etwas modifizierte Nazisymbolik verwendet das Sondereinsatz-Regiment der ukrainischen Nationalgarde Asow. Seine Mitglieder tragen Abzeichen mit dem Symbol der SS-Division «Totenkopf». Diverse ultrarechte Organisationen marschieren regelmäßig durch ukrainische Städte und verwenden dabei sowohl «alte» Nazisymbole als auch Symboliken gegenwärtiger rechtsradikaler Bewegungen. Völlig legal existiert die rechtsradikale Marke Svastone, die sich in der von ihr hergestellten Kleidung vieler faschistischer Symbole bedient.

In Lwiw findet regelmäßig ein Marsch zu Ehren der SS-Division «Galizien» statt. Der ehemalige Leiter des Instituts für Nationale Erinnerung, Wolodymyr Wjatrowitsch, antwortete auf die Forderung, die Organisatoren dieser Veranstaltung zu verurteilen, dass ihre Symbolik nicht unter Verbot stehe und die Divisionsmitglieder weder Verbrecher noch Helden seien, sondern bloß Opfer der damaligen Umstände. Tatsächlich war die Division eine Einheit der Waffen-SS. Der Prozess der «Dekommunisierung» unterliegt zahlreichen Doppelstandards.

Im Gesetz ist eine Ausnahme vorgesehen. Nicht umbenannt werden können Gedenkorte, die Menschen gewidmet sind, die einen großen Beitrag zum Sieg über die Nazis geleistet haben. Jedoch wurden einige davon bereits aus dem öffentlichen Raum entfernt, entweder auf Drängen rechtsradikaler Organisationen oder durch Vandalismus.

Zwischen der «Vereinigung der Nation» und der Spaltung des Landes

Offiziell verfolgte das politische Establishment nach dem Maidan die Idee der Ukraine als Land, dass in seinen Bestrebungen vereint ist. Doch dabei suchte man nicht den Kompromiss mit der Gegenseite. Im Gegenteil, der Antagonismus wurde nur verstärkt. Das Aufzwingen des nationalistischen Erinnerungsnarratives sollte dabei helfen, die Nation im Angesicht des Feindes zu konsolidieren, doch in Wirklichkeit verschärfte dies nur den Erinnerungskonflikt, sowohl im Land (wo sich die Seiten polarisierten) als auch auf internationaler Ebene. Das sowjetisch-nostalgische Narrativ wird von Nationalist*innen als klar (pro)russisch bewertet. Einzelne Elemente dieses Narratives werden von einem wesentlichen Teil der Bevölkerung unterstützt, obwohl nach dem Maidan der Regionalmythos der OUN und der UPA seine Grenzen überschritt und großen Zuspruch bekam. Nach Angaben der Soziologischen Gruppe «Rejting» unterstützten 2015 41 Prozent der Bürger*innen den Vorschlag, die OUN und die UPA als Kämpfer für die ukrainische Unabhängigkeit anzuerkennen. Drei Jahre später waren es 45 Prozent. Im Osten und Süden des Landes lag die Zustimmung nie über 30 Prozent, während sich 52 (2015) beziehungsweise 46 Prozent (2018) dagegen aussprachen.

Am 9. Mai wird in den meisten postsowjetischen Ländern der Tag des Sieges über den Nationalsozialismus gefeiert. Während viele andere sowjetische Symbole und Jahrestage spurlos verschwunden sind, hat dieser Tag nicht an Bedeutung eingebüßt, denn er spricht die Erfahrungen vieler Menschen und ihrer Familien an und hilft ihnen bei der Aufarbeitung. Normalerweise finden an diesem Tag diverse Konzerte statt auf denen Amtspersonen Reden halten. Ebenso Gedenkzüge, die mit Blumenniederlegungen an Mahnmahlen für gefallene sowjetische Soldat*innen enden.

Eines der «Dekommunisierungsgesetze» war dazu gedacht, den 9. Mai nach und nach zu verdrängen. Da dies wegen des möglichen Widerstandes in der Bevölkerung nicht schlagartig umsetzbar war, wurden die Akzente allmählich verschoben. Durch Umdeutung des Tages des Sieges und Einführung eines neuen Feiertages am 8. Mai, den «Tag der Erinnerung und Versöhnung». Nach dem Gesetz ist dieser Tag ein Gedenktag für alle Opfer des Zweiten Weltkrieges.

Zudem wird versucht ein neues Symbolsystem zu «erfinden», um es den gewohnten Symbolen entgegenzustellen. Die Siegesfahne (die Sturmfahne der 150. Idritskaja Schützendivision des Kutusow Ordens des II. Grades, die über dem Reichstag gehisst wurde) als eines der traditionellen Symbole dieses Feiertages wurde verboten, da darauf Hammer und Sichel abgebildet sind. Die Sankt-Georgs-Bänder/Gardebänder, früher eines der beliebtesten Symbole des Tages des Sieges, wurden im Juni 2017 unter dem Vorwand verboten, die Separatist*innen würden sie verwenden. Es wurde vorgeschlagen, stattdessen zu roten Mohnblumen zu greifen und somit der «europäischen Tradition» zu folgen.

Der 9. Mai entwickelte sich zu einem der konfliktreichsten Tage, da sich fast jedes Jahr Zusammenstöße ereignen, die meistens durch nationalistische Gruppen provoziert werden. Außerdem hält die Polizei an diesem Tag jedes Mal Menschen fest, die sowjetische Symbole oder das Sankt-Georgs-Band/Gardeband verwenden. Die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat großangelegte Festnahmen dieser Art, wie etwa die vom 9. Mai 2017, als Verletzung der Meinungsfreiheit eingestuft und das Gesetz über das Verbot sowjetischer Symbole als menschenrechtsverletzend angeprangert. Der damalige Vizepremierminister Wjatscheslaw Kyrylenko sah hinter dieser Erklärung «den Arm des Kremls».

Trotz der von der Regierung unternommenen Versuche diesen Feiertag zu verdrängen, bleibt er einer der beliebtesten weltlichen Feiertage im Land, während die Pläne zur Verschiebung der Feierlichkeiten kaum Unterstützung finden. Der vom UINP vertretene Versöhnungsansatz, der die sowjetische Erfahrung als eine Erfahrung der aktiven Teilnahme sowohl an den Errungenschaften als auch an den Verbrechen der Zeit negiert, trägt nicht zur Versöhnung bei. Denn er baut darauf auf, lediglich einen Narrativ der Nationalgeschichte zu betonen. Niemand wird die Sowjetfahne neben den Symbolen der UPA aufhängen. Das Porträt des ukrainisch-sowjetischen Partisanen Sydir Kowpak wird niemals neben dem Porträt von Bandera hängen. Das Missverhältnis ist von vornherein in den Gesetzen festgeschrieben: die Parteien, die es zu versöhnen gilt, sind nicht gleichberechtigt. Es ist schwierig zwei gegensätzliche Erfahrungen miteinander zu versöhnen, wenn man sich selbst als Erben einer dieser Erfahrungen stilisiert.

Die internationale Dimension der Erinnerungskonflikte

Während die «Erinnerungskriege» mit Russland offenkundig sind, werden andere Probleme, die durch die Heroisierung radikal nationalistischer Organisationen entstanden sind, oft vergessen. Am 2. Januar 2020, einen Tag nach dem bereits zur Tradition gewordenen Fackelzug der Nationalist*innen zu Ehren des Geburtstages von Stepan Bandera, veröffentlichten die Botschafter Israels und Polens in der Ukraine eine gemeinsame Erklärung, in der sie kritisierten, dass «die Verehrung von Menschen, die aktiv ethnische Säuberungen propagierten» auf unterschiedlichen Ebenen des Staatsapparats befürwortet wird. Das ukrainische Außenministerium bestreitet, dass es ein Problem gäbe und behauptet, jeder Staat und jedes Volk könne selbst entscheiden, welche Helden verehrt würden. Das Außenministerium Israels war durch die Weigerung, das Problem zu thematisieren, empört und betonte: «die Glorifizierung von Antisemit*innen und Judenmörder*innen – das ist keine interne Angelegenheit welchen Landes auch immer».[1]

Die Leugnung des Problems anstelle einer kritischen Diskussion ist die größte Schwachstelle der ukrainischen Erinnerungspolitik. Wjatrowitsch, der ehemalige Leiter der UINP, bestreitet bis heute die Beteiligung der OUN an judenfeindlichen Aktionen. Stattdessen werden Ausnahmen als die Regel dargestellt. Es gab auch unter den Mitgliedern der OUN Menschen, die Jüd*innen gerettet haben. Zum Beispiel wurde Fedir Wowk, der sich während der Nazibesatzung der Bandera-Fraktion der OUN angeschlossen hatte, der Titel eines «Gerechten unter den Völkern» verliehen. Zudem rettete das Mitglied der Melnyk-Fraktion der OUN, Roman Byda (Gordon), eine jüdische Familie während der Erschießungen in Babyn Jar. Diese Fakten sollen nicht unerwähnt bleiben, ohne den antisemitischen Charakter der OUN zu unterschätzen.

Dass alles bedeutet nicht, dass der Holocaust im kulturellen Gedächtnis der Ukraine keine Rolle spielt. Es gibt Holocaustmuseen, Gedenkstätten, Bücher werden verlegt, Ausstellungen und Konferenzen durchgeführt, zudem ist die Errichtung einer großen Gedenkstätte in Babyn Jar geplant. Auch die ukrainische Regierung ignoriert das Thema des Holocausts nicht, was für ihre Legitimierung im «Westen» von erheblicher Bedeutung ist. Auf offizieller Ebene werden entsprechende Gedenkveranstaltungen abgehalten, dabei wird jedoch der Antisemitismus vieler «Nationalhelden» systematisch verschwiegen. Präsident Selenskyj hat zwar einen großen Schritt nach vorne getan, doch auch er geht dem Problem aus dem Weg. Selenskyj versucht, die Grenzen der Nation neu zu ziehen. In einem Interview mit einer israelischen Zeitung sagte er: «Die statistischen Daten, die uns vorliegen, zeigen, dass eine*r von vier Jüd*innen, die im Holocaust getötet wurden, Ukrainer*in war. Deshalb ist es für die Ukrainer*innen sehr wichtig, die Opfer des Holocaust zu ehren.»[2] Das heißt, für ihn sind die Jüd*innen nicht die Anderen, sondern sie sind in dem Begriff Ukrainer*innen mitgemeint. Aber statt im selben Interview auf das Problem des Antisemitismus näher einzugehen, verweist Selenskyj auf die Statistik und gibt an, dass Antisemitismus in der Ukraine wenig verbreitet sei. Unerwähnt lässt er dagegen, dass in der Ukraine Antisemit*innen und antisemitische Organisationen als Held*innen dargestellt werden.

Ähnlich verhält es sich mit dem geschichtlichen Problem gegenüber Polen, es wird negiert. In Wolhynien und in Ostgalizien führte der ukrainische nationalistische Untergrund ethnische Säuberungen gegen die polnische Bevölkerung durch. Die Wołyn-Ereignisse von 1943 sind ein wichtiger Bestandteil der historischen Erinnerung in Polen und haben sich ins nationale Martyrologium des Zweiten Weltkrieges eingeschrieben. In der Ukraine werden die Ereignisse dagegen kaum in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Die offizielle ukrainische Post-Maidan-Erinnerungspolitik bezüglich des Wolhynien-Massakers ist widersprüchlich.

Der ehemalige Leiter der UINP, Wolodymyr Wjatkowitsch, ist ein aktiver Vertreter der Darstellung des ukrainisch-polnischen Krieges, die dazu dient, die Verantwortung der OUN und der UPA für den Mord an Zivilist*innen kleinzureden und die antipolnischen Operationen der UPA mit den antiukrainischen Aktionen der Armia Krajowa (AK) gleichzusetzen. Im Dezember 2014 bat jedoch der ukrainische Präsident Petro Poroschenko bei seiner Rede im polnischen Parlament um Vergebung für die Wolhynien-Tragödie und rief dazu auf, das Thema zu entpolitisieren. 2015, nur wenige Tage nachdem einer der zentralen Prospekte von Kiew zu Ehren Banderas umbenannt wurde, ging Petro Poroschenko vor dem Mahnmal für die Opfer des Wolhynien-Massakers in Warschau in die Knie.  Das war eine offensichtliche Referenz auf den berühmten Warschauer Kniefall von Willy Brandt. In all diesen Fällen wurde Dialogbereitschaft signalisiert, es ging aber keinesfalls darum, die Deutung der Ereignisse der Wolhynien-Tragödie aufzugeben oder darauf zu verzichten, die UPA und die OUN als Helden zu betrachten.

Die gemeinsame Erklärung der Botschafter von Polen und Israel war nicht die erste Reaktion Polens auf die Heroisierung der OUN und der UPA. Das Gesetz, mit dem die OUN heroisiert wird, wurde am 9. April 2015 verabschiedet, unmittelbar nach einem Auftritt des polnischen Präsidenten Bronisław Komorowski, in dem er seine Unterstützung für die Ukraine sehr deutlich gemacht hatte. Viele polnische Medien interpretierten die Verabschiedung des Gesetzes als mangelnde Respektbekundung. 2017 erklärte Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende der nationalkonservativen polnischen Regierungspartei Prawo i Sprawiedliwość (PiS), dass in der Ukraine ein OUN-Kult aufgebaut werde und die Ukraine mit Bandera nicht ein Teil Europas werden könne. Nachdem eine Straße in Kiew zu Ehren Roman Schuchewytschs benannt wurde, schrieb der polnische Historiker und Kommentator der Erinnerungspolitik in der Ukraine Łukasz Adamski: «Die Umbenennung einer der Hauptarterien der Hauptstadt in Roman-Schuchewytsch-Straße bedeutet für viele Freunde der Ukraine, dass eine rote Linie überschritten wurde, hinter der es keinen Dialog mehr gibt».

In diesem Erinnerungsnarrativ bleibt wenig Raum für Ukrainer*innen, die Pol*innen retteten. Einige Historiker*innen sind der Meinung, dass dadurch etwa 2.500 Menschen überlebten, wofür manche Ukrainer*innen von radikalen Nationalist*innen umgebracht wurden. Die meisten Opfer der OUN in den 1930er Jahren waren ethnische Ukrainer*innen. Nach der Befreiung der ukrainischen Gebiete durch die Sowjetarmee wurden, nach Einschätzung des ukrainischen Historikers Stanislaw Kultschytsky, vor allem Zivilist*innen (Mitglieder der sowjetischen Parteiorgane, Bäuer*innen und Kolchosmitglieder, Arbeiter*innen und Lehrer*innen) ebenso wie ehemalige Untergrundkämpfer*innen, die sich ergeben hatten, zu Opfern der UPA. Sie alle sind aus dem vorherrschenden Narrativ ausgeschlossen.

Die Exklusivität beziehungsweise Inklusivität der ukrainischen Erinnerungsnarrative standen sowohl vor als auch nach dem Maidan im Zentrum der kritischen Auseinandersetzung. Das Problem des Ethnozentrismus der nationalen Geschichtsschreibung wurde mehrfach von unterschiedlichen Autor*innen besprochen, doch im Großen und Ganzen bleibt es ungelöst, obwohl aus Gründen des politischen Pragmatismus einzelne Schritte in Richtung Inklusivität gemacht wurden. In der der gesamtstaatlichen Erinnerungspolitik wurde die von Stalin angeordnete Deportierung der Krimtatar*innen zunächst kaum thematisiert, doch die Situation hat sich nach der Annexion der Krim schlagartig verändert. Im November 2015 nahm das ukrainische Parlament Werchowna Rada eine Resolution an, in der die Deportierung als Völkermord an den Krimtatar*innen anerkannt wurde. Ein weiteres Beispiel dafür ist die Übernahme «feministischer» Elemente ins Kriegsnarrativ, insbesondere in heroischer Ausprägung, etwa Geschichten von Frauen in der UPA oder, in einem breiteren Kontext, in der ukrainischen Befreiungsbewegung.

Neue Hoffnungen?

Der Wahlsieg Selenskyjs und seiner Partei Sluha narodu weckte bei vielen die Hoffnung darauf, dass die Erinnerungspolitik sich verändern würde. Selenskyj hat in seiner Neujahrsansprache versucht, die Widersprüche zwischen unterschiedlichen Erinnerungsnarrativen zu «neutralisieren» und daran appelliert, was die Ukrainer*innen eint. Das Gleiche sagte er in einem Interview mit einer israelischen Zeitung: «Es gibt Held*innen, die im Westen und im Zentrum der Ukraine verehrt werden, und es gibt andere Ukrainer*innen, die ihre eigenen Held*innen haben und eine andere Sicht der Dinge pflegen. […] Und deshalb habe ich es mehrmals sehr deutlich gesagt: Wenn wir schon eine so komplexe Geschichte haben, lasst uns eine gemeinsame Geschichte aufbauen. Lasst uns Menschen finden, deren Namen nicht zu Kontroversen führen, weder in unserer Gegenwart noch in unserer Zukunft. Lasst uns Denkmäler und Straßen nach Menschen benennen, deren Namen keine Konflikte provozieren.»[3] Im Dezember 2019 wurde Anton Drobowitsch zum neuen Leiter des Instituts der Nationalen Erinnerung ernannt. Er erklärte, dass er diese Position angenommen hat, um den Dialog in den kulturellen und erinnerungspolitischen Bereichen zu stärken. Zurzeit scheint das Verhältnis zu Polen in Fragen der Erinnerungspolitik etwas entspannter geworden zu sein. Es ist auch offensichtlich, dass Drobowitsch offener für Diskussionen ist. Dennoch ist von einer Revision der Gesetze zur «Dekommunisierung» überhaupt nicht die Rede. Aktuell ist er mit der Initiative angetreten, ein Museum der Denkmäler der sowjetischen «Monumentalpropaganda» zu gründen, um so die Verbrechen des «totalitären Regimes» aufzuzeigen.

Antifaschistische Kultur

Tatsächlich müssen die Akzente in der Erinnerungspolitik auf die einheitsstiftenden, nicht auf die trennenden Elemente gesetzt werden. Und zudem sollte das Gedenken an die Vergangenheit «demilitarisiert» werden. Dafür sind jedoch Bandera, die OUN und die UPA schlecht geeignet. Darüber hinaus bleiben einige Probleme, die gelöst werden müssen. Etwa die «Dekommunisierungsgesetze» und ihre Auswirkungen, durch die faktisch alle Kommunist*innen und Linke, unabhängig davon, ob sie dem Stalinismus anhängen oder nicht, stigmatisiert werden und radikale Nationalist*innen in einen Heldenstatus gehoben werden. Das bedingt sich gegenseitig mit folgendem Problem: Die antifaschistische Kultur in der Ukraine ist so gut wie zerstört. Die Zivilgesellschaft ist bereit, rechtsradikale Gruppierungen zu tolerieren und mit ihnen zusammenzuarbeiten, unter dem Vorwand, dass sie «uns vor dem Aggressor schützen». Der ukrainische Präsident bemüht sich um einen Dialog mit rechtsradikalen Gruppen und der Premierminister besucht ein von ihnen organisiertes Konzert, auf dem eine offen neonazistische Musikgruppe auftritt und wird dafür von der Öffentlichkeit nicht zur Verantwortung gezogen. Dies steht in direktem Zusammenhang dazu, dass die Sensibilität im Umgang mit der umstrittenen Vergangenheit fehlt, sowie mit Organisationen, die von jeglichen Formen der Demokratie weit entfernt sind.

Damit muss Schluss sein. Die Ukraine muss die antifaschistische Erinnerungskultur neu beleben und damit aufhören, unangenehmen Fragen zur Vergangenheit aus dem Weg zu gehen. Stattdessen bedarf es der Bereitschaft, die Fragen offen und respektvoll zu diskutieren. Dazu muss die Vergangenheit mit all ihren Widersprüchlichkeiten erfasst werden. Zweifellos haben die OUN und die UPA nicht nur mit den Nazis zusammengearbeitet, sondern haben ihnen auch Widerstand geleistet. Und sie wurden tatsächlich zu Opfern von Nazirepressalien, auch das ist kein Ausnahmefall. Einer der Anführer der «Eisernen Garde», Horia Sima und der Austrofaschist Kurt Schuschnigg saßen auch im Gefängnis. Genauso wahr ist, dass die Mitglieder der OUN und der UPA an ethnischen Säuberungen an Pol*innen und an der Ermordung von Jüd*innen teilgenommen haben.

In der Tat ist es dringend notwendig, die Sowjetmythen über den Zweiten Weltkrieg zu kritisieren und neu zu deuten. Zweifellos verdrängt das Bild der Roten Armee als Retterin Europas, dass in der Sowjetunion geschaffen wurde, den eigentlichen, von sowjetischen Soldat*innen erlebten Schrecken des Krieges an den Rand der Wahrnehmung. Ebenso vertuscht dieses Bild die Verbrechen einiger Rotarmist*innen und der NKWD, über die man ebenfalls offen sprechen sollte. Viele sowjetische Soldat*innen kämpften nicht für Stalin, sondern gegen das erschreckend grausame Hitlerregime. Solche Phänomene in ihrer Widersprüchlichkeit zu begreifen, sollte immun gegen blinde Heroisierung und Mythologisierung machen. Auch die nationalistische und militaristische Benutzung des «Großen Vaterländischen Krieges» durch das Putin-Regime muss kritisiert werden. Der wahre antifaschistische Kampf darf nicht auf Militarismus und Kriegskult aufgebaut werden. Er muss sich gegen jegliche faschistischen Bewegungen richten, ebenso wie gegen jedwede Erscheinungsform des Rassismus, der Fremdenfeindlichkeit, des Konservatismus und des Nationalismus.

Stanislav Serhiienko

 
[Übersetzung von Vera Kurlenina & Utku Mogultay für Gegensatz Translation Collective]


[1] Anm. d. Übers.: im Original auf Englisch: «the glorification of antisemites and murderers of Jews – are not an internal matter of any country».

[2] Anm. d. Übers.: im Original auf Englisch: «The statistical information that we have shows that one in four of the Jews who were killed in the Holocaust were Ukrainian. That is why, for Ukrainians, it is very important to honor the victims of the Holocaust».

[3] Anm. d. Übers.: im Original auf Englisch: «There are heroes that are honored in the west and in the center of Ukraine, and there are other Ukrainians that have their own heroes and think otherwise. [...] And that’s why I’ve said several times, very clearly: When we have a so complicated history, let’s build a common history. Let’s find those people whose names do not cause controversy in our present and in our future. Let’s name the monuments and streets for those people whose names do not provoke conflict.»