Während diese Broschüre im Spätherbst 2020 in Druck geht, ist offen, wie viel von den Respektbekundungen und der symbolischen Anerkennung gegenüber den Gesundheitsberufen die Corona-Pandemie überdauern wird. Ohne die Beharrlichkeit weiterer Proteste ist zu befürchten, dass die hohe Aufmerksamkeit für die Arbeitsbelastung in Krankenhäusern eine kurze Episode gewesen sein wird, getrieben von der Angst vor einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems unter sich exponentiell entwickelnden Infektionszahlen.
Notwendig ist daher, dass es den gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten und ihren Bündnispartner* innen gelingt, die Erfahrungen des Ausnahmezustands für Kritik und eine Veränderung des Status quo zu nutzen. Denn Arbeiten an der Grenze zur Überlastung, wirtschaftliche Zwänge, die im Widerspruch zum medizinischen und gesellschaftlichen Bedarf stehen, oder das Gefühl, dass in einem anderen System bessere, menschengerechtere Arbeit möglich wäre – das war vielen Beschäftigten im Krankenhaus auch vor Corona nicht fremd. Zugleich wurden die Schwachstellen eines Systems, in dem Wettbewerb und Kostendruck vorherrschen, durch die Pandemie auch für diejenigen mehr als sichtbar, die nicht als Beschäftigte oder Patient*innen unmittelbar mit dem Krankenhausalltag vertraut sind.
Die angedeuteten Missstände im Krankenhaus sind kein allein deutsches Problem. Auch die grundsätzliche Tendenz, das Gesundheitswesen vorrangig als ein Marktsegment zu betrachten, das sich über Angebot und Nachfrage steuern ließe und in dem vor allem unternehmerische Initiative den gesellschaftlichen Fortschritt verbürgt, ist keineswegs auf Deutschland beschränkt. Gleiches gilt für den Widerstand von Beschäftigten und ihren Verbündeten. Auf diesen wollen wir hier unser Augenmerk richten. Die Broschüre gibt Einblicke in Kämpfe um Gesundheit in anderen Ländern und zeigt dabei nicht nur Gemeinsamkeiten und Besonderheiten auf, sondern beleuchtet zugleich verschiedene Problemstellungen und Konfliktgegenstände, die sich oft in verblüffender Ähnlichkeit auch hierzulande wiederfinden. So erhoffen wir uns nicht zuletzt, die Diskussion um Herangehensweisen und Strategien der Krankenhausbewegung in Deutschland zu bereichern.
Inhalt:
- Jennie Auffenberg, Julia Dück und Stefan Schoppengerd
Krankenhäuser in Bewegung
Internationale Kämpfe für gute Versorgung und Arbeitsbedingungen - Nick Krachler
Der lange Weg zu einem gesetzlichen Pflegeschlüssel in Kalifornien - Imre G. Szabó
Radikal verantwortungsvoll
Der irische Krankenpflegestreik von 2019 - Kalina Drenska
Bulgarische Pflegekräfte
Eine Geschichte von Kampf und Pflege - Interview mit Petros Elia und Kane Shaw
Das Ende des Outsourcings am St. Mary’s Krankenhaus in London - Bernd Landsiedel
Der Kampf um das öffentliche Gesundheitssystem in Frankreich - Interview mit Marianne Haueter
Die Schweizer Spitalkämpferinnen
Von der Schließung der Geburtshilfe in Zweisimmen zur Neugründung einer Geburtshausgenossenschaft
Autor*innen:
Jennie Auffenberg hat zur Ökonomisierung im Krankenhausbereich und zu gewerkschaftlichen Gegenbewegungen in Deutschland, England und den USA promoviert. Sie war als Gewerkschaftssekretärin für ver.di im Bereich der Krankenhäuser tätig und arbeitet derzeit als Referentin für Gesundheits- und Pflegepolitik in der Arbeitnehmerkammer Bremen.
Kalina Drenska ist feministische Aktivistin, die sich mit Themen wie soziale Reproduktion und Arbeit in postkommunistischen Kontexten beschäftigt. Sie ist Teil der sozialistischen feministischen Gruppe LevFem und des bulgarischen Frauen*kollektivs FemBunt in Berlin sowie eine der Chefredakteur*innen der Zeitschrift für politische Analysen Dversia.
Julia Dück arbeitet im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Referentin für soziale Infrastrukturen, verbindende Klassenpolitik, Gesundheit und Care. Sie hat an der Friedrich-Schiller-Universität Jena zu Kämpfen um Sorgearbeit und der Krise der sozialen Reproduktion promoviert und engagiert sich in feministischen Kämpfen und solchen um soziale Infrastrukturen (Wohnen, Pflege, Kita).
Petros Elia ist Mitbegründer und leitender Organizer der Gewerkschaft United Voices of the World in London.
Marianne Haueter ist Hebamme und Co-Betriebsleitung im Geburtshaus der Genossenschaft Maternité Alpine in Zweisimmen. Sie war im Kampf gegen die Spitalschließung in Zweisimmen aktiv.
Nick Krachler ist Doktorand an der ILR School, Cornell University in den Vereinigten Staaten. Seine Forschung konzentriert sich auf die Mechanismen des institutionellen Wandels in der Gesundheits- und Pflegeökonomie in vergleichender Perspektive, vor allem bezüglich der Schaffung neuer Berufsgruppen, Vermarktlichungsprozessen und der kollektiven Regulierung von Arbeit.
Bernd Landsiedel, Diplom-Biologe und Lehrer für Biologie, Chemie und Physik, arbeitet seit 2002 an einer Integrierten Gesamtschule in der Nähe von Kassel. Er ist seit 1992 Gewerkschaftsmitglied (damals ÖTV), seit Jahren aktiv im Arbeitskreis Internationales der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Hessen mit den Schwerpunkten Frankreich und Griechenland.
Stefan Schoppengerd ist Politikwissenschaftler und lebt in Fronhausen bei Marburg. Er ist Redakteur von express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit und beteiligt am Kampagnenbündnis Krankenhaus statt Fabrik.
Kane Shaw ist leitender Rechercheur der Gewerkschaft United Voices of the World in London.
Imre G. Szabó (PhD Central European University, Budapest) ist ein Postdoctoral Fellow am ERC Projekt «Labour Politics and the EU’s New Economic Governance Regime» am University College Dublin. Er bedankt sich beim Europäischen Forschungsrat (ERC) für die Förderung seiner Forschung im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms Horizon 2020 (Fördervereinbarung Nr. 725240, https://www.erc-europeanunions.eu).