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Die transnationale Gewerkschaftskampagne bei Europas Billigfluglinie Nummer eins

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Jörn Boewe, Florian Butollo, Johannes Schulten,

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March 2021

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Seit Ryanair 1997 den Sprung auf das europäische Festland wagte, hat sich das Unternehmen als zentraler Treiber der Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen im europäischen Luftverkehr positioniert. Durch aggressive Preispolitik, die konsequente Missachtung grundlegender Arbeitsrechte und eine feindselige Haltung gegenüber jeder gewerkschaftlichen Organisierung hat die Billigfluggesellschaft aus Dublin schamloser als ihre Konkurrenten Arbeitsstandards im Luftverkehr neu definiert – auf Kosten der Beschäftigten in Cockpit und Kabine.

Lange hatten die europäischen Gewerkschaften wenig Erfolg, diesem race to the bottom etwas entgegenzusetzen. Der ganz Europa umfassende Arbeitskampf der Ryanair-Beschäftigten 2017/18 markiert hier eine Zäsur. Erstmals gelang es, Ryanair zur Anerkennung von Gewerkschaften zu zwingen und in verschiedenen Ländern Tarifverträge zu erkämpfen, die die Arbeitsbedingungen deutlich verbesserten.

Allerdings hätte sich dieses window of opportunity nicht geöffnet, hätten die Gewerkschaften nicht über Jahre daran gerüttelt. Ein Startsignal für den Aufstand der Ryanair-Beschäftigten war die «home base»-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs im Herbst 2017. Diese Entscheidung kam nur zustande, weil drei Ryanair-Beschäftigte mit Unterstützung der belgischen Gewerkschaft Centrale Nationale des Employés (CNE) über Jahre ihre Rechte eingefordert und das juristische Verfahren über alle Instanzen durchgestanden hatten.

Wie in einem Zeitraffer hat die Ryanair-Story innerhalb kürzester Zeit Millionen Menschen klargemacht, zu welchen unwürdigen Ausbeutungspraktiken der moderne Kapitalismus selbst in Westeuropa fähig ist – aber eben auch, wie sich Verhältnisse grundlegend ändern lassen.

Jörn Boewe, Florian Butollo und Johannes Schulten

Die belgischen Kolleg*innen bei Ryanair haben durch ihre ausdauernden Bemühungen aber auch ein weithin sichtbares Zeichen gesetzt, nachdem die internationale Vernetzung von Arbeitskämpfen erstmals von Beschäftigten diskutiert wurde. Kreativität und Mut waren dabei gefragt. Denn die europäische Gesetzgebung lässt zwar transnationalen Unternehmen weitgehende Freiheiten, Unterschiede in den nationalen Arbeitsrechts- und Sozialstandards auszunutzen und ihre Geschäftsmodelle zu integrieren. Die Möglichkeiten der Gewerkschaften, darauf eine transnationale Antwort zu geben, sind dagegen immer noch stark begrenzt: So ist ein europäischer, grenzüberschreitender Arbeitskampf mit einer zentralen Streikleitung bis heute rechtlich nicht zulässig. Mit einer neuen Qualität internationaler Kooperation bei der Planung und Umsetzung von Arbeitskampfmaßnahmen sowie mit der transnationalen Kampagne #cabincrewuntited des Dachverbands Internationale Transportarbeiterföderation (ITF) haben die europäischen Luftverkehrsgewerkschaften einen pragmatischen und wirkungsvollen Umgang mit dieser restriktiven Situation entwickelt und de facto eine wirkmächtige internationale Bewegung zustande gebracht.

Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) konnte dabei auf einen reichen Erfahrungsschatz im internationalisierten Verkehrssektor zurückgreifen. Wenn transnationale Unternehmen wie Ryanair heute Tochtergesellschaften gezielt in EU-Mitgliedsstaaten verlagern, die besonders niedrige Arbeitsrechtsstandards haben, unterscheidet sich das kaum von der Dumpingstrategie der «Ausflaggung», mit der Reedereien in der Handelsschifffahrt seit Mitte des 20. Jahrhunderts versuchen, die Rechte ihrer Crews auszuhebeln, Steuern zu vermeiden und Arbeitsschutzgesetze zu umgehen. Auch jüngere Erfahrungen, wie die ver.di-Kampagne für einen Branchentarifvertrag bei den Bodenverkehrsdiensten an den Flughäfen oder der Kampf um einen Tarifvertrag bei Easyjet haben geholfen, den Kampf mit Ryanair aufzunehmen.

Wie uns die Entwicklung im Zuge der Corona-Krise 2020 drastisch vor Augen führt, gibt es in der Auseinandersetzung mit Unternehmen wie Ryanair keine Bestandsgarantien für einmal errungene Erfolge. Mit gewohnter Brutalität setzt Ryanair alles daran, die Krisenkosten auf die Beschäftigten abzuwälzen und die Geschichte zurückzudrehen. Angesichts des dramatischen Einbruchs im internationalen Luftverkehr sind die Rahmenbedingungen, unter denen die Kolleg*innen sich dagegen zur Wehr setzen, so schlecht wie nie zuvor. Und doch haben sie einen Trumpf in der Hand: ihre Fähigkeit, solidarisch zu handeln und für ihre kollektiven Interessen einzutreten, die sie in dem in dieser Broschüre beschriebenen Arbeitskampfzyklus gelernt und bewiesen haben. Diese Erfahrung kann ihnen niemand mehr nehmen. Sie ist heute vielleicht ihr wichtigstes Instrument, ihre einmal erreichten Arbeitsstandards gegen die Angriffe des Unternehmens zu verteidigen.

Christine Behle Stellvertretende ver.di-Vorsitzende
Mira Neumaier Bundesfachgruppenleiterin Luftverkehr bei ver.di

Inhalt 

1 Intro: O’Learys Looping

2 Starting Position 2017: prekäre Beschäftigung, Niedriglöhne, Union Busting
2.1 Ryanair – Fakten und Zahlen
2.2 Ausbeutung der sozialen Ungleichheit und Selbstwahrnehmung der Beschäftigten

3 Ready for Take-off: die EuGH-Entscheidung vom September 2017 als Initialzündung

4 Caution, Heavy Turbulence: der Aufstand der Pilot*innen

5 Das Streikjahr 2018 und die ITF-Kampagne #cabincrewunited

6 Ver.di im Ryanair-Arbeitskampf
6.1 Die Organizing-Kampagne
6.2 Die Arbeitskämpfe des Kabinenpersonals
6.3 Zuspitzung und Verhandlungsergebnis

7 Bilanz und Perspektiven

8 Strategische Schlussfolgerungen: zehn Thesen zum Ryanair-Arbeitskampf 2017/18

Literatur 44

Anhang: Interviews 48