Publication International / Transnational - Krieg / Frieden Die Rede vom «gescheiterten Staat»

Legitimierung neoliberaler Weltordnung und militärischer Interventionen. Reihe «Analysen zu Internationaler Friedens- und Sicherheitspolitik»

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Ismail Küpeli,

Published

August 2010

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Einleitung

Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion und dem damit verbundenen Ende des Kalten Krieges wurden Gewaltkonflikte und die daran beteiligten Akteure in die beiden „Fronten“ des internationalen Systems eingeordnet. Der Wegfall des Ost-West-Konfliktes war gleichbedeutend mit dem Wegfall derartiger Möglichkeiten der Feindbildproduktion. In der Folgezeit entstanden zahlreiche politische Konzepte, die diese Lücke zu füllen versuchten. Eines der prominentesten und einflussreichsten Konzepte für die Erklärung der Konflikte im gegenwärtigen internationalen politischen System ist die Staatszerfallstheorie, die ihren Ursprung in Debatten Anfang der 1990er Jahre hat.[1] Hier wurden Gewalt, Unterentwicklung und fehlende Demokratie auf Defizite der Staatlichkeit zurückgeführt.[2] Staatszerfall wurde zwar auch als „strukturelles Problem im internationalen System“ (Schubert 2005: 10) verstanden,[3] weil das internationale System auf Staaten beruht, aber die Gefahren wurden zunächst als regional beschränkt gesehen (vgl. Spanger 2005: 214). Die „primär humanitären Gründe zum Eingreifen“ (Schneckener 2004a: 5) hätten dazu geführt, dass externe Interventionen die Ausnahme geblieben seien (vgl. Spanger 2005: 214). Dies macht deutlich, dass Interventionen eher dann stattfinden, wenn politische oder ökonomische Interessen der westlichen Staaten betroffen sind.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA wird Staatszerfall in der westlichen Welt als „unmittelbare Gefährdung der eigenen nationalen Sicherheit“ (Schneckener 2004b: 5) wahrgenommen, weil angenommen wird, dass „zerfallende [...] Staaten als territoriale Basis für transnationale Terrornetzwerke“ (Schubert 2005: 11) dienen. Durch diese neue Bedrohung würden die Gefahren der „räumliche[n] Ausweitung von Zerfallsprozessen“ durch „Spill-Over-Effekt[e]“ (Schneckener 2004b: 7) und durch die „Zunahme von transnationaler Kriminalität“ (Schubert 2005: 10) deutlicher werden.

Auch wenn die Verknüpfung von Staatszerfall und Terrorismus zumindest fragwürdig ist und der weiteren Untersuchung bedürfte, bildete sie einen zentralen und oft nicht hinterfragten Punkt in der politischen Debatte.[4] In der Einleitung zur Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) der Vereinigten Staaten wurde erklärt: „America is now threatened less by conquering states than we are by failing ones“ (NSS 2002: 1). Die Begründung hierfür war, dass „failed states [...] and ungoverned areas [...] can become safe havens for terrorists“ (NSS 2006: 15). Hierdurch wurde ein Argumentationsteppich ausgebreitet, der ein (militärisches) Eingreifen zur Bewältigung von Staatszerfallsprozessen nicht nur aus moralischen, sondern eben auch aus sicherheitspolitischen Gründen zwingend nahe legt. Bei der Bewältigung von Staatszerfall soll auf „building the security and law enforcement structures that are often the prerequisite for restoring order and ensuring success“ (NSS 2006 44-45) gesetzt werden.

Auch in der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) der Europäischen Union wird das „Scheitern von Staaten“ als eine „Hauptbedrohung“ gesehen. Staatsversagen wird dabei auf „schlechte Staatsführung, d.h. Korruption, Machtmissbrauch, schwache Institutionen und mangelnde Rechenschaftspflicht sowie zivile Konflikte“ und  „organisierte Kriminalität oder Terrorismus“ zurückgeführt und führt in dieser Argumentation wiederum zur Untergrabung der „globalen Politikgestaltung“ und zu regionaler Instabilität (Europäischer Rat 2003: 4). Die ESS beinhaltet auch Vorschläge, wie auf Staatszerfall reagiert werden soll: „In gescheiterten Staaten können militärische Mittel zur Wiederherstellung der Ordnung und humanitäre Mittel zur Bewältigung der Notsituation erforderlich sein“ (Europäischer Rat 2003: 7).[5]

Durch dieses Aufgreifen der Staatszerfallsdebatte durch die politische Führung der USA sowie der Europäischen Union ist auch zu erklären, dass das „Phänomen des Staatszerfalls in Forschung und Politik ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt“ (Lambach 2005: 1) ist. Inzwischen ist umfangreiche Literatur zum Staatszerfall vorzufinden, die im deutschsprachigen Raum von den Konzepten starke, schwache, zerfallende und zerfallene Staaten bestimmt wird.

Ein umfassender Überblick über diese Debatte ist gerade deshalb erforderlich, weil aus dem scheinbar geschlossenen Fundus einer "Staatszerfallstheorie" seitens der westlichen Staaten sowohl das Recht als auch die sicherheitspolitische Notwendigkeit für militärische Stabilisierungseinsätze abgeleitet wird. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass hiervon keinesfalls die Rede sein kann. Denn die untersuchte Literatur zeigt, dass erhebliche methodische und theoretische Defizite bzw. Leerstellen vorhanden sind. Von einem einheitlichen Fundus, der „einfache“ und „eindeutige“ Antworten nahe legen würde, ist man somit weit entfernt. Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass – durchaus vorhandene – Analysen, die Staatszerfall wesentlich mit westlicher Interessenpolitik in Verbindung bringen, in der politischen Debatte kaum eine Rolle spielen. Hierdurch wird die Problematik einer drohenden Instrumentalisierung der Staatszerfallsdebatte, bei der sich die politischen Akteure die Teile auswählen, die für ihre Absichten dienlich erscheinen, zusätzlich unterstrichen.

Die vorliegende Studie soll die Kernkonzepte der Staatszerfallstheorie darstellen und hierüber hinaus einen Beitrag leisten, die Staatszerfallsdebatte gegenüber allzu offener Vereinnahmung von politischer Seite zu immunisieren. In einem ersten Schritt wird hierfür untersucht, wie der Staat definiert wird, weil die Rede vom Staatszerfall voraussetzt, dass eine Vorstellung darüber existiert, was zerfällt. Dabei werden Legitimität und Souveränität als Aspekte der Staatlichkeit dargestellt. Nach einer Kritik der gängigen Definitionen von Staatlichkeit werden verschiedene Kategorisierungen von Staatszerfall eingeführt. Ausgehend von den Formen des Staatszerfalls werden die in der Literatur diskutierten Indikatoren, Ursachen und Lösungsansätze näher beleuchtet und gegenübergestellt. Einige generelle kritische Anmerkungen zu der Debatte um Staatszerfall schließen an.

Februar 2010

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[1]     In der Literatur wird die Anfangsphase der Staatszerfallsdebatte zu Beginn der 1990er Jahre gesetzt und mehrheitlich mit dem Hinweis auf den Aufsatz „Saving Failed States“ (Helman / Ratner 1993) und mit der Etablierung des „State Failure Task Force“ im Auftrag der US-Regierung 1994 (Vgl. Esty u.a. 1995) erklärt.

[2]     So etwa, wenn erklärt wurde, dass mit dem „Zusammenbruch der staatlichen Strukturen [...] regelmäßig Gewaltexzesse, Flüchtlingsströme, Hunger sowie Massenelend einher“ gingen (Spanger 2005: 214).

[3]     „Staatszerfall [stellt] grundsätzlich ein Strukturproblem internationaler Ordnung dar, da der Staat eine 'Doppelrolle' spielt: Einerseits übernimmt er Ordnungsfunktionen für eine spezifische Bevölkerung innerhalb konkreter Territorialgrenzen; andererseits basiert das internationale System selbst primär auf Staaten“ (Schneckener 2004b: 6).

[4]     Für eine kritische Überprüfung des Zusammengangs von Staatszerfall und Terrorismus vgl. Dempsey (2002), Hehir (2007).

[5]     In eine ähnliche Richtung argumentiert auch das Weißbuch der Bundeswehr: „Die Erosion staatlicher Strukturen, der Zerfall ganzer Staaten und damit oft einhergehende Bürgerkriege ebenso wie das Entstehen von Gebieten, die sich außerhalb der internationalen Ordnung stellen, eröffnen Aktionsräume sowie Rückzugsgebiete für bewaffnete Gruppen und terroristische Organisationen“ (BMVg 2006: 21). Hieraus wird ein sicherheitspolitischer Imperativ zur Durchführung von Interventionen abgeleitet: „Staatsversagen sowie eine unkontrollierte Migration können zur Destabilisierung ganzer Regionen beitragen und die internationale Sicherheit nachhaltig beeinträchtigen. Neben der moralischen Verpflichtung zur Hilfe steht dabei die Verantwortung für die Sicherheit unseres Landes“ (BMVg 2006: 22).