Publication Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen Regionalwahlen und Wahlrechtsreferendum in Großbritannien

Die großen Verlierer bei beiden Abstimmungen sind die Liberaldemokraten. Eine Wahlanalyse von Florian Weis.

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RLS,

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May 2011

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Am 5. Mai fanden in England, Schottland, Wales und Nordirland Regional- und Teil-Kommunalwahlen statt. Gleichzeitig wurde das erst zweite landesweite Referendum überhaupt abgehalten.

Bei diesem Referendum stand  eine WahlrechtsmodifikationAlternative Vote», AV, anstelle des reinen relativen Mehrheitswahlrechtes, «First past the post» oder «Winner takes all») abgestimmt. Mehr als zwei Drittel der Wählerinnen und Wähler (67,9%) haben eine Wahlrechtsänderung verworfen und damit das jahrhundertealte Mehrheitswahlrecht bestätigt. Fast 20 Millionen Menschen haben sich an der Abstimmung beteiligt, die erst die zweite dieser Art war. 1975 hatte die damalige Labour-Regierung ein Referendum über den Verbleib in der damaligen EWG/EG abgehalten, nachdem sie Nachverhandlungen für bessere britische Mitgliedbedingungen geführt hatte. Damals diente das Referendum auch dazu, die Spaltung der in dieser Frage tief zerstrittenen Partei zu vermeiden. Auch damals stimmten rund 2/3 der Wählerinnen und Wähler für den Status quo (Verbleib in der EG). Auch damals gab es, wie 2011, keine einheitliche Linie aller Minister/innen, und auch keine durchgehende Einigkeit in den Parteien. Auch diesmal diente das Referendum in gewisser Weise dazu, eine Regierung aus Tories und Liberaldemokraten zusammenzuhalten, die in dieser Frage meilenweit auseinander liegen.   

 In Teilen Englands (nicht aber London) fanden (Teil-)Wahlen zu den Kommunalvertretungen statt – vielfach werden die Kommunalparlamente alle 2 Jahre jeweils zu einem Drittel erneuert. Auch in Nordirland fanden flächendeckende Kommunalwahlen statt, deren Ergebnis derzeit noch nicht vollständig vorliegt. Der bisherige Trend bestätigt aber den Ausgang der Regionalwahlen. 

 In Schottland, Wales und Nordirland wurden zum nunmehr vierten Mal seit deren Einrichtung unter Tony Blair 1999 Regionalparlamente gewählt. Die Kompetenzen dieser Parlamente sind in den letzten Jahren gewachsen sind und sie erfreuen sich auch einer steigenden Akzeptanz, wie zuletzt bei einem Referendum in Wales festzustellen war. Diese Wahlen lassen naturgemäß angesichts der starken Stellung von Regionalparteien nur begrenzt einen einheitlichen Trend erkennen. Gewählt wurden hier sowohl Wahlkreiskandidaten und -kandidatinnen (nach dem auch in Irland angewendeten «Single Transferable Vote»-Verfahren) als auch regionale Listen. 

 Bezogen auf die landesweit agierenden Parteien lassen sich dennoch einige Trends festhalten: 

 Großer Verlierer sind die Liberaldemokraten (LD). Die überwältigend deutliche Niederlage beim Wahlrechtsreferendum trifft sie doppelt hart: Keine andere Partei vertritt seit so langer Zeit und so einhellig die Forderung nach einer Abkehr vom rigiden Mehrheitswahlrecht, niemand würde davon so profitieren wie die LD.

Und: Angesichts eines für die erstmals seit 1945 wieder mitregierenden Liberalen desaströsen Regierungsjahres, inhaltlich wie in Umfragen und Nachwahlen, war die Partei um Parteichef und Vizepremier Nick Clegg auf einen politischen Erfolg angewiesen, der ihr ein Stück Unabhängigkeit gegenüber den dominierenden Tories verschafft hätte. Die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler der Liberaldemokraten hat sich seit rund 2 Jahrzehnten links von den Konservativen, ja zeitweilig dezidiert links der Mitte in einer britischen Tradition von «radical» und «progessive» verortet. Entsprechend wenden sich die Wählergruppen massiv von den LD ab. 

In Schottland, lange Zeit eine Hochburg der Liberalen gerade in Bezug auf die Mandatsgewinnung im Mehrheitswahlrecht, ist die Partei auf 5 bzw. 8 Prozent (Wahlkreis- bzw. Regionalisten) und nur noch 5 (nach 17) der 129 Sitze fast in die Bedeutungslosigkeit abgestürzt. In Wales sieht es mit 10 bzw. 8 Prozent und 5 der 60 Regionalsitze nur geringfügig besser aus. Bei den englischen Teil-Kommunalwahlen erzielten die LD ihr schlechtestes Ergebnis seit rund 30 Jahren und büßten 700 ihrer diesmal zur Wahl stehenden gut 1700 Mandate ein. Nur noch in 10 der 279 Kommunalräte stellen die Liberaldemokraten eine Mehrheit; selbst in Liverpool, das sie in den achtziger und neunziger Jahren schrittweise der Labour Party abnahmen, sind sie weit zurückgeworfen worden. 

 In gewisser Weise können sich die Konservativen unter Premier James Cameron als Sieger sehen. Bei den englischen Kommunalwahlen konnten sie die Zahl ihrer Mandate leicht auf gut 4.800 der rund 9.000 zur Wahl stehenden Sitze erhöhen, in 157 von 279 Räten stellen sie die Mehrheit. Für eine Regierungspartei, die in Großbritannien traditionell bei Kommunalwahlen bestraft wird, ist dies ein bemerkenswertes Resultat. Das klare Nein zum AV ist ein Sieg für die Tories, die sich mit großer Mehrheit hinter das traditionelle Wahlrecht stellten, auch, oder vielleicht gerade weil die Liberaldemokraten so gedemütigt wurden. In Schottland (bei leichten Verlusten jetzt 12,4 bzw. 13,9 Prozent und 15 von 129 Mandaten) sind die Konservativen traditionell schwach. Ihre leichten Verluste stellen insofern kein Problem für Cameron dar, hat seine Partei doch schon seit den neunziger Jahren kaum noch schottische Unterhausmandate. In Wales sind die Tories traditionell ebenfalls schwach, stehen zuletzt allerdings etwas besser da als in Schottland. Mit 25 bzw. 22,5 Prozent und 14 der 60 Mandate konnten die Tories leichte Gewinne verbuchen.  

Trotz einiger großer Demonstrationen gegen Studiengebühren, Kürzungen im öffentlichen Dienst und andere Maßnahmen der Regierung Cameron unterstreichen diese Wahlen, dass die Regierung weder bei Wahlen noch durch Proteste oder die Gewerkschaften auf absehbare Zeit gefährdet ist. Verbreitet und auch in Umfragen ablesbar ist vielmehr eine Haltung, dass die massiven Haushaltskürzungen unangenehm und vielleicht auch abzulehnen seien, aber auch als unumgänglich angesichts der immensen Verschuldung des Staates empfunden werden. Vor diesem Hintergrund ist eine schnelle Ablösung der Regierung Cameron und eine zumindest sozialdemokratische Politikwende in weiter Ferne.   

Gemischt fällt Labours Bilanz unter dem noch neuen Parteichef Ed Milliband aus. Ordentliche, freilich erwartete Zugewinne erzielte die Partei bei den Kommunalwahlen, vor allem in traditionellen Hochburgen im Norden Englands (Labour gewann 800 zusätzliche Mandate und kommt auf rund 2.400 der diesmal zur Wahl stehenden etwa 9.000 Sitze) und in Wales, geradezu ein Stammland der Labour Party (30 der 60 Sitze bei rund 42 bzw. 37 Prozent der Stimmen). Diesen Erfolgen steht eine schwere Niederlage in Schottland gegenüber, wo Labour traditionell stark war und bis 2007 auch die Regionalregierung dominierte. Bei leichten, nicht erwarteten Verlusten kommt Labour diesmal auf 31,7 bzw. 26,3 Prozent und nur 37 der 129 schottischen Mandate (minus 7). Der sensationelle Sieg der schottischen Nationalpartei, die seit 2007 als Minderheitsregierung unter dem populären Alex Salmond agierte, ist es, was dieses Ergebnis für Labour geradezu zu einer Katastrophe macht.  Trotz ordentlicher Umfragewerte auf nationaler Ebene, wo Labour teilweise gleichauf oder sogar vor den Tories liegt, steht der Erneuerungsprozess der Partei noch ganz am Anfang und seine Richtung ist unklar.

Für andere Parteien war bei diesen Wahlen, vom Sonderfall Nordirland abgesehen, wenig zu gewinnen. Auch dies sei kurz im Einzelnen dargestellt: 

Die Grünen, die 2009 überraschend einen Sitz im Unterhaus in Brighton errangen, konnten dort ihre lokale Sitzzahl stark erhöhen und sind nun stärkste Partei im Rat, freilich ohne absolute Mehrheit. Im ganzen blieben ihre kommunalen Gewinne aber überschaubar, mit ihren 78 (von 9.000 diesmal zur Wahl stehenden) Mandaten vom 5. Mai sind sie weit davon entfernt, eine national relevante Kraft zu sein. In Schottland kandidierten sie nur für die regionalen Listen und kamen dort bei minimalen Gewinnen auf 4,4 Prozent und 2 Sitze - besser als 2007, aber weit schlechter als etwa 2003. In Wales kamen die Grünen auf 3,4 Prozent der Regionalstimmen, für ein Mandat reichte dies nicht. In Nordirland, wo die Green Party im Unterschied zu den anderen britischen Parteien antrat, blieb sie mit 0,9 Prozent fast bedeutungslos – vielleicht auch ein Ausdruck des Absturzes der irischen Grünen bei den Wahlen in der Republik im Februar 2011, wo sie für ihre Beteiligung an der desaströsen Regierung mit Fianna Fail abgestraft wurden. Die Grünen sind im UK eher als andere Gruppen im Stande, vielleicht einmal eine vierte landesweite Kraft werden zu können, dies ist jedoch alles andere als sicher und in jedem Fall ein sehr weiter Weg. Der Erhalt des Mehrheitswahlrechtes macht es für die Grünen nicht einfacher. 

Die UK Independence Partei als traditionell englisch-nationalistische sowie die British National Party als rassistische und rechtsextreme Kraft blieben diesmal erfolglos, was aber nicht bedeuten muss, dass insbesondere die BNP ihren Zenit, den sie in einigen Kommunen sowie bei den Europawahlen 2009 hatte, schon überschritten haben muss. In Schottland blieb die BNP unter einem Prozentpunkt, in Wales kam sie bei den Regionalstimmen auf über 2 Prozent, was aber ebenso Verluste (und keinen Sitz) bedeutete wie bei den englischen Kommunalwahlen, wo die BNP 11 ihrer diesmal 13 zu verteidigenden Mandate einbüßte.  

Kleinere linke Gruppierungen blieben weitgehend erfolglos. Kam die Scottish Socialist Party 2003 noch auf fast 7 Prozent, so zerlegte sie sich in den Folgejahren vor allem durch die bizarren Auseinandersetzungen und Prozesse ihres charismatischen Frontmanns Tommy Sheridan vollständig. Weder seine Solidarity-Liste, noch andere kleine Linksparteien kamen in die Nähe von 1%-Ergebnissen, am besten schnitt noch die Socialist Labour Party des einstigen Bergarbeiter-Führers Arthur Scargill mit 0,8 Prozent ab. Auch die Kandidatur eines weiteren exzentrischen Linkspolitikers, des einstigen Labour- und Respect-Unterhausabgeordneten George Galloway, blieb überraschend erfolglos. In den wenigen englischen Kommunen, in denen die 2005 und danach kurzzeitig und punktuell erfolgreiche Respect-Koalition antrat, blieb sie ohne jeden Sitz. In Wales sieht es kaum anders aus, hier kam die Socialist Labour Party immerhin auf 2,4 Prozent, was ihr aber ebenso wenig einen Sitz einbrachte wie der Communist Party ihre 0,3 Prozent. Weder die Entfremdung von der Labour Party unter Tony Blair noch die massiven Kürzungen und Verschlechterungen für Teile des öffentlichen Dienstes, Studierende und andere gesellschaftliche Gruppen und die daraus resultierenden Proteste kommen einer Linken jenseits der Labour Party zumindest bei Wahlen zu Gute. Es besteht wenig Grund zur Annahme dass sich dies in absehbarer Zeit ändern könnte. 

Großer Gewinner ist die Scottish National Party, die auf rund 45 Prozent der Stimmen und mit 69 Sitzen auch auf eine nie erwartete absolute Mehrheit im Regionalparlament kam. Neben einer zumindest ordentlichen Bilanz ihrer Minderheitsregierung seit 2007 und der Popularität ihres langjährigen Parteichefs und Ersten Ministers Alex Salmond sind weitere Erklärungen heranzuziehen:

  • Die innere und personelle Auszehrung der Labour Party nach den Blair-Brown-Jahren schlägt sich in Schottland besonders stark nieder.
  • Die Liberaldemokraten als traditionell starke schottische Kraft haben seit 2010 fast allen Kredit bei den seit Jahrzehnten London- und Tory-kritischen Schotten verspielt.
  • Die «far left» hat sich in Schottland selbst diskreditiert, die Grünen stagnieren.
  • Die SNP versteht es, eine relativ seriöse regionale Politik mit einer Bündelung der Kritik an der Londoner Regierung und ihrem harten Sparkurs zu verbinden. Sie ist damit sowohl regionale Gestaltungskraft als auch Stimme des Protestes gegen London und die Tories. Die SNP war stets weniger linksorientiert als die walisische Regionalpartei Plaid Cymru (PC), sie versteht es aber zunehmend, auch linke Wählerinnen und Wähler anzuziehen. In jedem Falle wird sie als Anti-Tory-Kraft verstanden. 

Ob das angekündigte Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands in den nächsten 5 Jahren freilich eine Mehrheit findet, ist nach jetzigem Stand zu bezweifeln.

PC musste in Wales Verluste in der Größenordnung von gut 3 Prozent hinnehmen, kommt aber immer noch auf rund 18 Prozent der Stimmen und 11 Mandate. In Wales hat vor allem Labour von ihren und den Verlusten der Liberaldemokraten profitiert. 

 Schließlich noch ein kurzer Blick auf Nordirland:

Erstmals hat dort das 1999 nach dem Karfreitagsabkommen eingerichtete Regionalparlament eine Legislaturperiode durchgehend arbeitend absolviert. 2007 lösten die einstmals extremeren Democratic Unionists (DUP) die Ulster Unionist Party (UUP) als Mehrheitspartei des protestantisch-britischen Lagers ab, was im irisch-katholischen Segment Sinn Féin (SF) bereits etwas früher gegenüber der Social Democratic and Labour Party (SDLP) gelang. Beide regierten danach  unerwartet unaufgeregt in der proportional gebildeten Exekutive zusammen. First Minister Peter Robinson (DUP), 2009 politisch und persönlich eigentlich am Boden, erlebte ein bemerkenswertes Comeback. Sein Deputy First Minister Martin McGuiness von SF konsolidierte den Erfolg seiner Partei, wobei erstmals seit fast 30 Jahren der Parteipräsident Gerry Adams nicht mehr kandidierte, da er nun dem irischen Parlament angehört. Die DUP mit 30% Prozent und 38 der 110 Sitze sowie SF mit 27 Prozent und 29 Sitzen bauten ihre historischen Erfolge von 2007 sogar noch leicht aus, während die UUP und die SDLP weiter an Boden verloren und nur noch auf 13 bzw. 14 Prozent der Stimmen kamen. Damit vertritt SF mittlerweile stabil rund 60 Prozent der irisch-katholischen Wählerschaft, nachdem sie noch bis Anfang der neunziger Jahre nicht mehr als ein Drittel dieser Community erreichen konnte.

Radikalere Unionisten blieben weitgehend erfolglos. Die sich als Community-übergreifend verstehende, den Liberalen nahestehende Alliance Partei stabilisierte sich mit 8 Mandaten als fünfte Kraft. Die für nordirische Verhältnisse niedrige Wahlbeteiligung von knapp 55 Prozent kann ebenso als Ausdruck von Politikmüdigkeit und Parteienskepsis wie als Normalisierung eines trotz aller Probleme erfolgreichen Friedensprozesses gedeutet werden. Kleinere linke Formationen, die sich am Erfolg der Linksallianz in Irland orientierten, verfehlten einen Mandatsgewinn, auch wenn sie dank lokal bekannter Persönlichkeiten in Derry / Foyle und West-Belfast Achtungserfolge von 5 – 8 Prozent erringen konnten. Eine größere Gefahr für den linken und/oder working-class-basierten Teil des SF-Elektorats stellen sie gegenwärtig nicht dar. Ernster sind die verstärkten Terrorakte, bis hin zu Morden, der verschiedenen fortbestehenden bzw. neu gegründeten dissidenten republikanischen Gruppen zu nehmen. Im Unterschied zur Verankerung der Provisional IRA in den siebziger und achtziger Jahren haben diese Gruppen allerdings keine breite Duldung in der irisch-katholischen Community und keinerlei nicht-gewaltförmige politische Strategie. Ihr Gewaltpotenzial ist allerdings größer als zu irgendeinem Zeitpunkt in den letzten 10 Jahren.                      

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