Die Wahlen in der Türkei haben weder die Parlamentsarithmetik, noch das politische Gleichgewicht im Land wesentlich geändert. Natürlich gab es Verschiebungen von Parlamentssitzen, aber nicht so große, dass von einem Durchbruch gesprochen werden könnte.
Die konservativ-neoliberale Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan gewann 3,5% und kann sich damit brüsten, dass jeder zweite Wähler sich für ihn entschieden hat. Die größere Oppositionspartei, die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) hat ihre Stimmen auch erhöht (5%), blieb aber mit 26% dennoch weit abgeschlagen hinter der AKP. Die einzige Partei im Parlament, die leichte Verluste verkraften musste, ist die faschistische Partei der Nationalen Bewegung (MHP). Sie verlor 1,3%.
Die Wahlallianz der kurdischen Partei des Friedens und der Demokratie (BDP) und eine Reihe türkischer sozialistischer Parteien und Gruppen, Der Block für Arbeit, Demokratie und Freiheit ist der eigentliche große Wahlsieger. Der „Block“ hat mit 36 Abgeordneten sogar mehr Sitze erhalten, als er selbst gedacht hatte.
Obwohl es kaum Veränderungen gab, muss jetzt gehandelt werden. Denn eine neue Verfassung soll geschrieben, das Kurdenproblem gelöst und die Demokratisierung vorangetrieben werden. Die damit verbundenen Problemlagen werden hier anhand von zehn Fragen aufgezeigt. Die Antworten auf diese Fragen werden den politischen Prozess in der Türkei in den kommenden Jahren stark beeinflussen.
Jeder zweite Wähler gibt der AKP die Stimme – warum ist dies trotzdem ein Mißerfolg für Erdoğan?
Als die türkische Regierung vor Monaten das Wahldatum bekanntgegeben hatte, kündigten AKP-Funktionäre lauthals an, dieses Mal würde die Partei 54 Prozent der Stimmen bekommen und eine Mehrheit im Parlament erreichen, die ausreichend wäre, um die Verfassung neu zu schreiben. Im Verlauf des Wahlkampfes dann hängte man in Ankara die Latte niedriger. Kurz vor den Wahlen war nur noch von “mehr als 50 Prozent” die Rede und von 330 Abgeordneten. Gerade mal genug um dem Wahlvolk eine Verfassungsänderung zum Referendum vorzulegen.
Aber es kam noch bitterer. Denn auch ihr drittes, nicht öffentlich erklärtes Ziel verfehlte die Partei. Die ultra-nationalistische Partei der Nationalen Bewegung (MHP) konnte die hohe 10 Prozent-Hürde trotz leichter Stimmenverluste locker überspringen.
Das ist ein Rückschlag für Erdoğan persönlich. Monatelang hatte er mit allen Methoden unbeirrbar daraufhin gewirkt, die MHP aus dem Parlament zu drängen. Sein Kalkül: Nationalistisch gesinnte Wähler würden dann zur AKP überlaufen und ihm dadurch eine verfassunggebende Mehrheit ermöglichen. Mit 326 Abgeordneten und die MHP immer noch im Parlament, ist Erdoğans Partei auf der ganzen Linie gescheitert.
Warum wählen so viele Entwicklungsverlierer gegen ihre eigenen Interessen die neoliberale AKP?
Die neoliberale Politik der AKP bescherte den Vertretern des Kapitals in der Türkei seit 2002 große Gewinne. Die Wirtschaft des Lande hat zweistellige Zuwachsraten. Der Modernisierungsschub ist vor allem in großen Städten aber auch in Anatolien mit bloßem Auge zu sehen. Doch die Verteilung des Reichtums ist katastrophal. Dennoch sind die Wähler im armen Mittelanatolien und Vorstädten der großen Metropolen begeistert von der konservativen Partei.
Der Grund ist nicht –wie oft angenommen- die Religiosität der AKP, sondern zunächst einmal die vergleichsweise stabile wirtschaftliche Entwicklung unter der Regie der AKP. Es gab keine großen Wirtschaftskrisen, wie in vorangegangenen Jahrzehnten, es gab keine Inflation von über 100 Prozent mehr, denn diese wurde sehr schnell unter 10 Prozent gedrückt. Zusammen mit breiten, modernen Landstraßen in Anatolien entstand das Gefühl, „auch wir Türken taugen etwas“.
Es gab aber auch etwas Konkretes, was die AKP den Mittellosen des Landes gegeben hat: Die grüne Karte. Nicht einmal die fanatischsten Gegner des türkischen Ministerpräsidenten können den Nutzen der grünen Karte hinterfragen, die zum ersten mal in der türkischen Geschichte der Armen zügigen Zugang zum Gesundheitssystem tatsächlich ermöglicht hat.
So einfach sie sich auch anhören, gelangen diese Erfolge den früheren Regierungen nicht. Deshalb verbinden viele türkische Staatsbürger die AKP mit Erfolg und glauben, dass allen voran ihr Chef Erdoğan zu jeder Großtat fähig sei.
Der Propagandaapparat des charismatischen Politikers stärkt dieses Gefühl. Einerseits verspricht er kaum zu glaubende Megaprojekte, andererseits erfüllt er die Menschen mit dem Gefühl, wieder wichtig geworden zu sein auf der Welt. Ein Gedanke, der den ohnehin weitverbreiteten türkischen Chauvinismus kräftig nährt.
Können die Neo-Kemalisten der CHP Erdoğan jemals herausfordern?
Die CHP ist und bleibt eine kemalistische Partei. Das allein macht sie aber nicht zu einer unfähigen Organisation. Nachdem der ehemalige Parteichef Deniz Baykal über einen Sex-Skandal gestürtzt ist, und der neue Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu seine Führung gefestigt hat, versucht die Partei nun sich den neuen Verhältnissen anzupassen.
Den Neuanfang stellte dabei eine geänderte Rhetorik dar, die nicht mehr die Unterstützung der Militärs gegen „die islamischen Fundamentalisten und Separatisten“ in den Vordergrund stellt, die Ängste vor Scharia und Seperatismus schürt und die „ausländischen Mächte“ für hausgemachte Probleme verantwortlich macht.
Statt dessen versucht „die neue CHP“, wie die Partei sich mittlerweile gern bezeichnet, Antworten auf soziale Ungerechtigkeiten zu geben, die Demokratisierung, die sie bisher verhindern wollte, nun stärker zu befürworten als die AKP, um letztendlich eine Alternative „links“ von der AKP zu werden.
Bei den Wahlen wurde die neue Rhetorik und die neue Positionierung durch die Wähler belohnt. Bis auf die kurdischen Provinzen verzeichnete die Partei Stimmenzuwächse, so daß der prozentuale Stimmenzuwachs mit 5% sogar wesentlich größer war als der der AKP.
Dennoch ist die Partei noch weit entfernt von ihrem Traum, die AKP abzulösen. Dafür ist sie auch noch gar nicht vorbereitet. Denn der Rhetorikwechsel bedeutet noch nicht, dass die Partei sich erneuert hat. Die alten Parteistrukturen und -kader sind intakt und bescheren der neuen Führung mehr Kopfschmerzen als Unterstützung.
Noch am Wahlabend wurde dieser Umstand auch für die Öffentlickeit deutlich. Sofort wurden Rücktrittsforderungen an Kılıçdaroğlu laut. Er seinerseits kündigte den Kampf gegen die Betonköpfe im Parteiapparat an.
Die CHP, so wie sie unter Baykal war, wird sicherlich keine Zukunft haben. Doch die Partei jetzt schon abzuschreiben, wäre ein großer Fehler. Mit Unterstützung der qualifizierten Kader der alten Republik, die durchaus in der Lage sind, sich der neuen Zeit anzupassen, kann Kılıçdaroğlu seine Partei reformieren und zu einer Kraft heranwachsen lassen, die in fünf Jahren der AKP ernsthaft Konkurrenz machen kann.
Warum die Niederlage der faschistischen MHP keinesfalls ein gutes Omen ist
Abgesehen von den kleinen Parteien, die außerhalb des Parlamentes agieren, sind die Faschisten der MHP die einzigen, die Verluste erlitten haben. Ein Umstand, der immer gut ist. Immer?
In diesem Fall machen die Wahlergebnisse die MHP noch gefährlicher, als sie ohnehin schon ist, denn sie ist immer noch im Parlament vertreten. Mit 53 Sitzen sind sie in der Zukunft weiterhin ein ernsthafter Gesprächspartner für Erdoğan, wenn es in den kommenden Monaten darum geht, eine neue Verfassung zu schreiben.
Die MHP hat es schon einmal bewiesen, wie pragmatisch sie sein kann, wenn es darum geht, demokratische Veränderungen im politischen System der Türkei zu blockieren. Nach den Wahlen in 2007, als die AKP Koalitionspartner für eine Verfassungsänderung suchte, um das Kopftuchverbot aufzuheben, und sich zunächst auf die demokratischen Kräfte orientierte, haben sich die Faschisten schnell eingeschaltet. Die AKP hat die Verfassungsänderung zusammen mit der MHP durchgesetzt – ohne jegliche demokratische Verbesserung. Diese Veränderung wurde später vom Verfassungsgericht kassiert, aber das politische Vorgehen verbleibt als praktikable Lösung in den Köpfen vieler konservativer Politiker.
Zumal eine Umfrage unter den Wählern am Wahltag es deutlich gemacht hat, dass fast ein Fünftel aller AKP-Wähler sich als MHP-Sympathisanten bezeichnen. Der politische Schwenk der AKP hin zu mehr Nationalismus und Autoritarismus wäre also nicht nur als ein taktischer Zug zu sehen, sondern auch im Einklang mit dem Selbstverständnis zumindest eines Teils der Parteibasis der AKP, der durchaus die religiös durchsetzte Variante des selben Ultranationalismus mit der MHP-Anhängerschaft teilt.
Außerdem könnte die Veränderung der CHP – wird sie denn konsequent weitergeführt – dazu führen, dass der enttäuschte nationalistische Flügel der CHP samt Anhäger zur MHP wechselt und somit die Verhandlungsposition der MHP in der Verfassungsdebatte weiter stärkt (die o.g. Umfrage erwies, dass 31% der CHP-Wähler bereit wären, als zweite Partei die MHP zu wählen).
Stimmenzuwachs für den linken „Block“ – sind die Linken jetzt auf dem Vormarsch?
Der „Block“, die Wahlallianz zwischen der kurdischen BDP und türkischen Sozialisten, errang ein hervorragendes Ergebnis. Nicht nur in Kurdistan, sondern auch in den urbanen Zentren im Westen des Landes, wo kurdische Flüchtlinge und Migranten konzentriert leben.
Dabei ist der Zuwachs mit gut 1 Prozent (2007: 5,19%; 2011: 6,66%) nicht so beeindruckend, wie der der AKP oder der CHP, obwohl die nominale Stimmenzahl des „Blocks“ sich fast verdoppelt hat. Das bedeutet, dass vor allem die AKP, aber auch die CHP ihre Anhänger stärker mobilisieren konnte als der „Block“. Dabei spielt es sicherlich eine Rolle, dass die BDP bzw. die DTP bereits in den früheren Jahren einen hohen Mobilisierungsgrad erreicht hatte.
Der Erfolg liegt also nicht so sehr am Stimmenzuwachs, sondern am Zuwachs der Parlamentssitze, die sich mit 14 Sitzen mehr um fast 60 Prozent erhöht hat. Das liegt einerseits an der klugen Verteilung der Kandidaten, und andererseits daran, dass die gegen die kurdischen Politiker geschaffene 10-Prozent-Hürde sie bei diesen Wahlen eher sie begünstigt hat, da sie mit unabhängigen Kandidaturen schlau umgangen wurde.
Sieg des linken Blocks gegen die AKP in Kurdistan – schlagen die Herzen der Kurden wirklich links?
Im Kerngebiet der BDP ist der Wahlerfolg noch größer und bemerkenswerter als im Westen. Die kurdische Partei hat die AKP fast überall zurückgedrängt. Drei kurdische Provinzen, Van, Mardin und Batman, hat der „Block“ von der AKP zurückerobert.
Dennoch fällt auf, dass die AKP überhaupt nicht schlecht abgeschnitten hat. Im Gegenteil. Trotz der nationalistischen und teilweise anti-kurdischen Hetze während der Wahlkampagne der AKP, hat sie ihre Stimmen – abgesehen von den Provinzen Hakkari und Mardin – erhöhen können.
Der Kampf um die Herzen und Köpfe der kurdischen Bevölkerung ist also noch nicht entschieden. Lokale BDP-Aktivisten kennen das Problem. Sie weisen auf die Arbeit von islamischen Sekten hin, allen voran der Gülen-Gruppe. Diese Gruppe, die die AKP unterstützt, betreibe immer mehr Schulen in der Region und verbreite dort die türkisch-islamische Synthese, die Ideologie also, die sich an der Schnittstelle der AKP und MHP bewegt.
Im Gegenzug forciert die PKK ihrerseits die Arbeit der kurdisch-nationalen Prediger. Das führte während der Wahlkampagne zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der regierenden AKP und der BDP. Ministerpräsident Erdoğan griff mehrmals die kurdischen Politiker scharf an und warf ihnen „terorristische Methoden“ vor und behauptete, sie würden die islamische Gemeinde in der Region zu spalten versuchen.
Dieser Kampf wird in den kommenden Jahren nicht ab-, sondern zunehmen, je mehr die AKP die kurdische Frage auf Basis einer Glaubensbrüderschaft der Türken und Kurden zu lösen versucht, denn diese Strategie hat ein explosives Potenzial.
Warum der wirtschaftliche Erfolg die Türkei dazu zwingen wird, weiter mit der EU zu verhandeln
In den letzten Monaten und Jahren häufen sich die Debatten über eine Abkehr der Türkei von ihrem westlich orientierten Entwicklungsweg. Nach den Wahlen am 12. Juni 2011 hat Erdoğan – im Gegensatz zu seinen früheren Wahltagsreden – während seiner Balkonrede nicht ein einziges Mal von der EU gesprochen. Statt dessen betonte er ausdrücklich die Namen Sarajewo, Baku, Kairo oder Jerusalem und sprach damit die Gefühle der Menschen an, die heute noch von einem Wiederauferstehen des Osmanischen Reiches träumen.
Auch in den westlichen Medien war dieses Motiv ein beliebtes bei der Berichterstattung über die Wahlergebnisse. Im Westen wird auch oft darüber nachgedacht, ob die Türkei durch ihre politische und wirtschaftliche Entwicklung nicht doch eine Anziehungskraft für die nahöstlichen und nordafrikanischen Völker wird – ein Modell sozusagen.
Dass die türkische Wirtschaft auf der Suche nach neuen Märkten sich vor allem erfolgreich im Nahen Osten und in Afrika ausbreitetet und die Erdoğan-Regierung die dafür notwendigen außenpolitischen Schritte rechtzeitig getan hat, ist Fakt.
Doch zu einem echten Modell wird die Türkei für diese Region zunächst einmal nicht werden. Denn die Bedingungen, in denen die Türkei und die anderen Länder sich befinden, sind völlig verschiedene.
Spätestens seit dem das Land die Beitrittsperspektive in die EU hat, verflechten sich die türkische und europäische Wirtschaft in schnellem Tempo. Der Industriellenverband TÜSİAD unterstreicht, dass heute schon die Hälfte der wirtschaftlichen Entscheidungen in Brüssel getroffen wird. Diese Verflechtung zwingt Ankara – egal welche Regierung dort an der Macht ist – den Weg zur Vollmitgliedschaft in der EU weiterzuführen.
Viele Menschen, darunter durchaus auch Experten und Politiker, sind von diesem Umstand gestört. Doch diesen Prozess umkehren, bedarf sehr großer Anstrengungen und anderer globale Partner. Denn die türkische Wirtschaft floriert aufgrund des sogenannten „warmen Geldes“, von ausländischem Kapital also, das nicht nur wegen den hohen Zinsen in das Land fließt, sondern auch wegen der zusätzlichen Rechtssicherheit und Zukunftsperspektiven, die eine Beitrittsperspektive mit sich brachte. Eine Umkehr könnte schnell dazu führen, dass diese Finanzquelle auf der Stelle versiegt. Unter anderem auch deshalb ruft TÜSİAD die neue Regierung dazu auf, den Beitrittsprozess zu beschleunigen.
Andererseits sucht die AKP-Regierung auch nach Alternativen. Rußland und China zeigen durchaus großes Interesse an einer Kooperation. Aber es reicht noch nicht, um das Loch zu füllen, das eine plötzlich wegfallende EU-Perspektive aufreißen würde.
Welche Themen werden nach diesen Wahlen das Land in Atem halten?
Die Wahlen bremsten den politischen Reformprozess der Türkei länger als ein Jahr. Doch die Reformen drängen sich. Der EU-Prozess muss weitergehen, im Zusammenhang damit auch die Demokratisierung. Vor allem aber – mit oder ohne EU-Prozess – müssen in der Kurdenfrage endlich ernsthafte Lösungen angestrebt werden.
Der Schlüssel zu all diesen Fragen wird die Debatte um eine neue Verfassung sein. Die alte Verfassung, die noch von Generälen der faschistischen Militärdiktatur geschrieben und dem Volk aufgedrückt wurde, ist immer noch gültig und engt seit Jahren die Handlungsfähigkeit des Landes extrem ein. Diese Verfassung verhindert vor allem die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften und damit auch eine gerechtere Verteilung des Reichtums.
Doch die Vorstellungen über eine zukünftige Varfassung gehen weit auseinander. Vor allem die Debatte darüber, was die Grundlagen der türkischen Republik sind, verursacht hysterische, ja sogar aggresive Diskussionen.
Die AKP barucht mindestens einen Partner, um diese Verfassungsänderungen durchzusetzen. In seiner Rede am Wahlabend sagte Erdoğan zwar, dass er mit allen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen sprechen wird. Doch ob diese Gespräche die große Kluft zwischen verschiedenen Vorstellungen überwinden helfen, ist zweifelhaft.
Vor allem ist es sehr fraglich, ob sich der „Block“ mit seiner Forderung nach einer „demokratischen Autonomie“ durchsetzen kann. Denn die AKP und die CHP sind in dieser Frage zumindest gespalten und die MHP konsequent dagegen. Es scheint für die AKP schwer zu werden, sich trotz dieser beiden Parteien und ihrer Anhängerschaft lediglich mit den Kurden zu einigen – zumal ihre eigenen Anhänger auch nicht gerade eine pro-kurdische Lösung favorisieren.
International Ankara vor kniffligen Problemen. Die gerade neu vertiefte Freundschaft zu verschiedenen arabischen Diktatoren ist durch die Umwälzungen in der arabischen Welt den Bach heruntergegangen. Die Außenpolitiker der AKP sind schon auf der Suche nach Alternativen und versuchen so viel wie möglich von dem Erreichten zu retten.
Außerdem muss Ankara endlich einen neuen Weg finden, die festgefahrenen Zypernverhandlungen aus der Sackgasse zu holen und dadurch die Blockade der EU-Beitrittsverhandlungen zu durchbrechen.
Ist der Traum Erdoğans, der erste Präsident der Türkei zu werden, schon begraben?
Während der bevorstehenden politischen Diskussionen über eine neue Verfassung wird wieder die Frage aufkommen, ob die Türkei nicht besser mit einem Präsidialsystem nach französichem Muster zu beherrschen ist – ein langjähriger Traum Erdoğans, aber auch früherer konservativer Politiker, wie Turgut Özal oder Süleyman Demirel. Erdoğan, als ein sowohl pragmatischer, als auch opportunistischer Politiker, wird noch einmal alles daran setzen, eine Mehrheit zusammenzubekommen, die ihn zum ersten Präsidenten des Landes machen würde.
Dazu hat er aber nicht viele Optionen. Denn ein Präsidialsystem kommt für die CHP nicht in Frage, schon gar nicht, wenn Erdoğan der Präsident werden soll. Auch der „Block“ wird sich höchst zögerlich zeigen bei einer solchen Änderung, bevor die AKP in der kurdischen Frage auf der ganzen Linie auf sie zukommt. Das ist aber nicht zu erwarten.
Da bleibt die MHP übrig. Für sie wäre das Präsidialsystem kein großes Problem – je autoritärer, desto besser. Schaffen die AKP-Oberen, die während der Wahlkampagne entstandene schlechte Stimmung zwischen beiden Parteien aufzuhellen, könnten sie sehr zuvorkommende MHP-Politiker vorfinden. Darunter würden wieder einmal die Kurden leiden. Denn vermutlich wäre das zunächst einmal das Ende jeglichen Versuchs ,die Kurdenfrage politisch zu lösen und diese Lösung in einer demokratischen Verfassung festzuschreiben.
Welche Rolle wird und kann der „Block“ in der Zukunft spielen?
Der „Block“ hat bessere Chancen als bisher, im parlamentarischen Prozess der Verfassungsdebatte einen Frieden in Kurdistan zu erreichen und die Rechte und politischen Forderungen der Kurden durchzusetzen. Er hat bewiesen, dass immer mehr Menschen in Kurdistan sich hinter ihren Forderungen zusammenfinden. Sie haben diesmal eine Armada von türkischen Linksparteien an ihrer Seite. Diese sind kleine Gruppen, aber auf die Symbolik kommt es an.
Andererseits hat der Chauvinismus im türkischen Teil des Landes zugenommen. Türken begegnen den Kurden als Volk nicht mehr auf gleicher Augenhöhe und nicht nur ihren politischen Vertretern. Die rassistischen Gefühle nehmen weiter zu. Diese Stimmung können türkische Politiker schlecht ändern, so lange der bewaffnete Kampf der Kurden nicht definitiv beendet ist.
Doch die Drohgebärde, den bewaffneten Kampf jederzeit wieder aufnehmen zu können, ist auch das einzige Druckmittel in den Händen der Kurden, wenn sie möchten, dass der türkische Staat mit ihnen über neue Spielregeln des Zusammenlebens redet.
In dieser schwierigen Lage hat sich der Chef der BDP, Selahattin Demirtaş, kurz nach den Wahlen geäußert und die Tür einen Spalt weit für Gespräche mit der Regierung geöffnet. „Für die Beendigung des bewaffneten Kampfes muss mit Abdullah Öcalan verhandelt werden“ sagte er den Journalisten, „da sind wir keine Partei. Wenn es aber um die Verfassung geht, dann muss die AKP mit uns verhandeln.“
Demirtaş betonte vorsichtshalber auch gleich, dass dies ihre „roten Linien“ seien, also Prinzipien, von denen sie nicht mehr abrücken werden. Trotz aller Gesprächsbereitschaft der Kurden, ihre Durchsetzungsmöglichkeiten – ohne den Krieg erneut zu forcieren – stehen zunächst einmal schlecht, auch wenn die Regierung die erste Forderung Demirtaşs zu erfüllen scheint: Zwei Tage nach der Wahl ging eine Staatsdelegation nach İmralı, zur Gefängnisinsel mitten im Marmarameer, wo der PKK-Chef Abdullah Öcalan inhaftiert ist, und verhandelte mit ihm. Eindeutig mit positivem Ausgang. Denn kurz darauf wurde bekannt, dass Öcalan eine Neuaufnahme des Bürgerkrieges zunächst einmal für kontraproduktiv hält.
Ministerpräsident Erdoğan bleibt mit einer absoluten Mehrheit an der Macht. Doch er befindet sich nun in einem Dilemma. Mit wem soll er koalieren, um die neue Verfassung zu schreiben? Seine Antwort auf diese Frage wird das Schicksal des Landes für die nächsten Jahrzehnte beeinflussen. Jetzt wird er sich endgültig festlegen müssen: Entweder eine echte Demokratie oder ein autoritäres System, das die Türkei in neue Abenteuer führt.