Publication International / Transnational - Europa - Geschichte Serbische Geschichtspolitik im neuen Jahrtausend

Die Gleichzeitigkeit von akademischem Geschichtsrevisionismus und staatlicher Vergangenheitsumdeutung. Von Milan Radanović. Reihe «RLS Papers»

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Series

RLS Papers

Author

Milan Radanović,

Published

March 2012

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Der moderne akademische und staatliche Geschichtsrevisionismus, der sich in allen europäischen Ländern zeigt, die in den letzten zwei Jahrzehnten eine politische Transformation des ehemaligen sozialistischen Systems zu einem neuen kapitalistischen System durchgemacht haben, ist bestrebt, die Perzeption der «unrühmlichen faschistischen Vergangenheit» zu verändern indem Kollaborationsregime ihres menschenverachtenden Ballastes aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs befreit werden. Diese Tendenz ist gekennzeichnet durch eine ‹Normalisierung› der Kollaboration einheimischer Bourgeoisien mit dem faschistischen Besatzer.

Dem Geschichtsrevisionismus liegt eine offensichtliche ideologische und politische Motivation zugrunde: Sie gründet sich einerseits auf dem Nationalismus und einem antikommunistischen Ressentiment innerhalb der Trägergruppen dieser Bestrebungen, und andererseits im strategischen Versuch, durch das Geraderücken «historischen Unrechts» mittels der Rehabilitation tatsächlicher und vermeintlicher Opfer, politisches Kapital zu erlangen. Auf diese Weise erhält die historische Rechtfertigung des neuen Systems eine moralpolitische Dimension: «Der Antikommunismus dient dazu», so Kuljić weiter, «die einheimischen Kollaborationisten und faschistischen Strömungen historisch zu entlasten und als patriotisch und antitotalitär darzustellen. Auch wenn der Einparteiensozialismus in Europa längst Geschichte ist, der Antikommunismus ist ungewöhnlich lebendig.»

Die Demonumentalisierung der revolutionären jugoslawischen Befreiungsbewegung und des sozialistischen Jugoslawien wird durch eine angeblich rationale und historische Zwangsläufigkeit erklärt.

Neben der Reaffirmation der bedeutendsten Protagonisten und des historischen Erbes der Kollaborationsewegungen, stellt die «Säuberung der nationalen Geschichte von Eindringlingen», d. h. Kommunisten, ein wichtiges Element der revisionistischen Tendenzen in den postsozialistischen Gesellschaften Europas dar. «Nationalisten sehen im Kommunismus in erster Linie den halbseidenen Internationalismus, der das Nationalgefühl zerstört, die Nation mit anderen vermischt, sie gegenüber dem nationalen Interesse unempfindlich macht und sie der Verteidigungskraft beraubt. Kommunisten zerstören den Glauben, ohne den der Nationalismus einen kalten Mechanismus darstellt, denn der Glaube lässt das Nationalgefühl in die Tiefe sinken und festigt und homogenisiert die Nation.»

Der serbische Geschichtsrevisionismus wird durch eine Ignoranz gegenüber der jugoslawischen Nachkriegshistoriografie charakterisiert, eine Dämonisierung des Sozialismus, eine Relativierung des Beitrags des jugoslawischen Antifaschismus, eine Relativierung und Normalisierung des Kollaborationismus. Als radikalste Erscheinungsform der Geschichtsumdeutung tritt die Apolgisierung und nicht selten Viktimisierung prominenter Kollaborationisten, die im Kampf mit den Kommunisten ums Leben kamen oder denen durch Gerichte der Nachkriegszeit prozessuiert worden ist, auf den Plan.

Ähnliche und nicht selten noch ausgeprägtere Merkmale zeigt der Geschichtsrevisionismus in Kroatien, insbesondere während der 1990er Jahre. In den anderen ehemaligen jugoslawischen Republiken ist die offizielle Revision der Erinnerungspolitik hingegen weniger ausgeprägt. Unterstützt und gefördert wurde die Geschichtsumdeutung im postsozialistischen Kroatien, im bestimmten Maße in Slowenien, und später im größeren Stil in Serbien, vor allem von staatlichen Institutionen. Sie genießen eine Art staatliches Nischenprotektorat. Bestimmte Aspekte des serbischen Revisionismus nach 2000 können als Versuch einer Konstituierung rechtsideologischer Logen innerhalb staatlicher Institutionen bezeichnet werden. Sie werden zu einflussreichen Multiplikatoren dieser neuen Sichtweisen auf die jüngere Vergangenheit.

Während der letzten 25 Jahre ist in Serbien der Beitrag der Geschichtspublizistik, der gedruckten und elektronischen Medien zum Zwecke einer radikalen Überarbeitung der Vergangenheit, virulenter als der Beitrag der revisionistischen akademischen Historiografie. Dennoch ist ihr Beitrag zur selektiven Erinnerungskultur weitreichender, vor allem wenn die revisionistischen Bemühungen von staatlichen Institutionen untertützt und von den regierenden politischen Parteien ermutigt werden. Auf diese Weise werden die Thesen des akademischen Geschichtsrevisionismus in die staatliche Geschichtspolitik integriert.

Die Schlussfolgerung von Todor Kuljić lautet, dass «die selektive Erinnerung und das organisierte Vergessen wichtige Triebkräfte des Bürgerkriegs in Jugoslawien waren, während die revisionistische Historiografie im Dienste der Rechtfertigung neuer nationaler Ziele stand.» Diese Schlussfolgerung bestätigt zusätzlich den Standpunkt, wonach jede organisierte Überarbeitung der Geschichte «den Versuch der Rechtfertigung von etwas Zeitgemäßem und die Quelle der Legitimität neuer gesellschaftlicher Kräfte» darstellt. «Eine wichtige Grundlage der neuen Identität und gleichzeitig der Erklärung der Krise war die Abwälzung der Last auf die Vergangenheit. Je schärfer die Krise (von der Arbeitslosigkeit zum Krieg) war, desto notwendiger war eine radikalere Überarbeitung der Vergangenheit», so Todor Kuljić. [...]