Publication Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen - Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Demokratie kreuzweise Abschied aus der Demokratie

Zum sozialen Klassencharakter der wachsenden Wahlenthaltung und der Preisgabe staatsbürgerlicher Rechte. Studie von Horst Kahrs.

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November 2012

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Die Wahlbeteiligung sinkt in Deutschland seit über 30 Jahren mit wenigen Ausnahmen von Wahl zu Wahl. Oftmals gilt in den Medien eine imaginäre «Partei der Nichtwähler» als die eigentliche Siegerin des Wahlabends. «Die Nichtwähler», heißt es, seien zugleich wichtiges Mobilisierungsreservoir für neu auftretende Parteien bzw. für solche, die auf grundlegende Änderungen am politischen und gesellschaftlichen System abzielen. Oftmals wird eine sinkende Wahlbeteiligung als ein Krisenphänomen des demokratisch-repräsentativen Systems gewertet. Dieses Urteil folgt aus der normativen Vorstellung, nach der sich in einer funktionierenden Demokratie, die sich allseitiger Anerkennung und Zufriedenheit erfreut, alle Bürgerinnen und Bürger an politischen Wahlen beteiligen würden bzw. sollten. Wahlenthaltung gilt dann als ein unmittelbarer Ausdruck der politischen Unzufriedenheit und des Protests und ihr Umfang als ein linearer Gradmesser hierfür. Lange Zeit wurde in der Wahlforschung jedoch auch die These vertreten, bei der zurückgehenden Wahlbeteiligung in Deutschland handele es sich um einen «Normalisierungsprozess», bei dem sich das Partizipationsniveau dem in anderen westlichen Demokratien annähere. Anwachsendes Nichtwählen gilt in dieser Sicht als eine hinzunehmende demokratische Verschleißerscheinung. Darin sei weder ein besorgniserregendes Krisenphänomen noch ein demokratisches Repräsentationsproblem zu sehen. Erstens verteile sich die Wahlenthaltung über alle Bevölkerungsgruppen. Zweitens könne Wahlabstinenz auch Zufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen ausdrücken, so dass es – bei gleichzeitigem Rückgang der gesellschaftlichen Verankerung der Wahlnorm als einer demokratischen Pflicht – für viele keinen ausreichenden Grund gäbe, die Mühen des Wahlgangs auf sich zu nehmen. Nicht alle Wahlberechtigten seien politisch interessiert, und wenn die Nichtinteressierten oder Nichtinformierten bei Wahlen zu Hause blieben, so sei das für die Qualität demokratischer Wahlentscheidungen positiv und nicht negativ zu bewerten.

Obwohl sich unter den Nichtwählern tatsächlich Bürger aller Bildungsschichten und Berufsgruppen finden (vgl. Schäfer 2011b: 137), wurde mittlerweile allerdings mehrfach empirisch nachgewiesen, dass ein sich verstärkender Zusammenhang zwischen anwachsender Wahlenthaltung und sich vertiefender sozialer Spaltung existiert.1 Demnach schlägt sich soziale Desintegration in «demokratisch-repräsentativer Desintegration » nieder und führt somit zumindest langfristig zu einer eindeutigen «sozialen Schieflage», die Tendenzen einer Klassenspaltung aufweist.

Diese Studie setzt der Vorstellung, es gäbe eine «Partei der Nichtwähler», eine differenzierte Sicht auf das Phänomen «Wahlenthaltung» entgegen. Im Mittelpunkt stehen dabei der seit Mitte der 1980er Jahre zu verzeichnende stetige Zuwachs bei der Wahlabstinenz und die Frage nach dem sozialen Charakter des zunehmenden Abschieds aus der staatsbürgerlichen Bindung. Wahlbeteiligung wird dabei als Wahrnehmung einer staatsbürgerlichen Aufgabe begriffen. Demokratie bietet nicht nur die Freiheit und das Recht, sich an allgemeinen, freien, gleichen und direkten Wahlen zu beteiligen, sie verlangt und erwartet auch die Bereitschaft, sich zu beteiligen und zu entscheiden. Nur dann kann Demokratie den Anspruch der «Herrschaft über das Volk durch das Volk» einlösen. Die Entscheidung, sich nicht an Wahlen zu beteiligen – also nicht nur an einer Beteiligung gehindert zu sein –, kann unterschiedliche Gründe und Motive haben: Man will ein Signal an die bevorzugte Partei senden, man ist von den Parteien und vom politischen System enttäuscht oder dauerhaft politisch desinteressiert. In der Wahlforschung gilt der Grundsatz: Wer einmal aus
politischer Enttäuschung Wahlen fernbleibt, ist nur schwer wieder zurückzugewinnen. Darauf haben die Parteien reagiert, indem sie sich in Wahlkämpfen, in der Programmatik und in der Politik mehr und mehr auf die wahlbereiten Schichten und ihre Interessen konzentriert haben. Dadurch wurde eine sich in den vergangenen beiden Legislaturperioden nochmals verstärkende Dynamik in Gang gesetzt. Das fehlende Bemühen um die Interessen sozialer Schichten, aus denen vor allem die wachsende Gruppe der Nichtwähler kam, gibt dem Abschied aus der staatsbürgerlichen Beteiligung weiteren Auftrieb.

Auch international hat sich gezeigt, dass Mitte-Links-Parteien auf wachsende Einkommensungleichheit nur dann mit ausgesprochen linken Programmen reagieren, wenn die Wahlbeteiligung hoch und damit sehr wahrscheinlich gleichmäßig über alle Wählergruppen verteilt ist. Nachgewiesen wurde ebenfalls, dass mit der Höhe der Wahlbeteiligung auch die Höhe der Sozialausgaben steigt und damit auch die Umverteilungsrate (ebd.: 133). Die Wahlbeteiligung verändert wahrscheinlich nicht die parteipolitische Zusammensetzung der Parlamente, weil sich die Parteien programmatisch an den Wählern orientieren, wohl aber die dort gestaltete Politik (ebd.: 137).

Diese Studie beschäftigt sich mit dem sozialen Charakter der anwachsenden Abstinenz bei politischen Wahlen in Deutschland, vor allem mit der Wahlenthaltung bei Bundestagswahlen. Sie ist bemüht, den Stand der wissenschaftlichen Forschung zusammenzutragen und entlang der Fragestellung nach einem sich herausbildenden Klassencharakter der Wahlenthaltung auszuwerten. Zurückgegriffen wird zudem auf Ergebnisse von Umfrageinstituten zu Wählerwanderungen bei Bundestagswahlen und auf Ergebnisse von Befragungen zwischen den Wahlterminen.

Der Beschränkung der Fragestellung auf Parlamentswahlen könnte mit dem Argument begegnet werden, dass sich diejenigen, die sich nicht an Wahlen beteiligen, dafür zivilgesellschaftlich engagieren, etwa in sozialen Bewegungen, und damit Formen direktdemokratischer Partizipation bevorzugen. Tatsächlich zeigen empirische Beispiele wie der Hamburger Schulentscheid 2010 und neue Studien (z. B. Klatt/Walter 2011; Bödeker 2012), dass auf diesem Feld die soziale Schieflage bei der Beteiligung noch stärker ausfällt als bei Bundestagswahlen. Offensichtlich handelt es sich um einen Vorgang, der mit Begriffen wie Parteien- und Politikverdrossenheit nicht zu fassen ist.
Eher schon fehlt es an einer Vision von der Veränderbarkeit der vorgefundenen Verhältnisse nach eigenen Vorstellungen und an dem Glauben an die eigenen Fähigkeiten.

Damit sind Fragen aufgeworfen, die in dieser Studie nicht beantwortet werden können. Inwieweit geht in einem sozial und wirtschaftlich bedrängten Alltag der Raum für politisches Interesse und Beteiligung generell zurück? Führen sozialer Abstieg und soziale Ausgrenzung nicht nur zum Verlust des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten, sondern auch zum Selbstausschluss, wonach «die Politik» etwas für die anderen
ist? Welche Rolle spielen die im Rahmen der Globalisierung der Arbeitsmärkte gemachten Erfahrungen der Ohnmacht gegenüber wirtschaftlich Mächtigen? Und
schließlich: Welche Rolle spielen bei der sozial asymmetrischen Demobilisierung der Wahlbevölkerung die Parteien selbst, wenn sie einerseits immer wieder «die
Sachzwänge» bemühen, die verhindern, dass sie tun, was sie eigentlich wollen, und wenn sie andererseits soziale Lebenslagen immer stärker als Ergebnis individueller
Leistung und persönlichen Verhaltens deuten und damit den Einfluss politischer Gestaltung sozialer Rahmenbedingungen für ein «gutes Leben» leugnen?

Inhalt

1 Phänomenologie der Wahlenthaltung
1.1 Vorläufige Typisierung der Wahlenthaltung
1.2 Wahlenthaltung im Zeitverlauf
1.3 Wahlenthaltung auf verschiedenen politischen Ebenen
1.4 Wahlenthaltung nach Alter und Geschlecht
1.5 Sozialräumliche und soziale Verteilung der Wahlenthaltung
1.6 Wahlenthaltung als Problem demokratischer Repräsentation und Legitimation

2 Typisierung der Wahlenthaltung
2.1 Wahlenthaltung von wahlberechtigten Personen
2.2 Dauernichtwähler und wechselbereite Wahlenthalter

3 Motive für die Wahlenthaltung
3.1 Ergebnisse der Wahlforschung
3.2 Motive von Nichtwählern laut Umfragen

4 Fazit