Antisemitismus-Definitionen

Fragen und Antworten: «Jerusalemer Erklärung» (JDA) versus «Arbeitsdefinition Antisemitismus» (IHRA)

In der Debatte zum Krieg in Gaza oder allgemeiner zum Israel-Palästina-Konflikt ist der Antisemitismusvorwurf allgegenwärtig. Die eine Seite behauptet, er diene nur dazu, die Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung in Gaza und dem Westjordanland zu diskreditieren. Die andere behauptet, Israel, seine Regierung und ihre Kriegsführung würden in einem Ausmaß gehasst und dämonisiert, die mit der Kritik an anderen Staaten kaum vergleichbar sei und sei deshalb nur ein Deckmantel für blanken Judenhass. Diese extremen Positionen machen es nicht leichter, zu erkennen, wo die Trennlinie zwischen Antisemitismus und Kritik an der Politik Israels verläuft – und wie Antisemitismus insgesamt definiert werden kann.

Jan Ole Arps ist Redakteur bei ak - analyse & kritik und freier Journalist.

Diese Polarisierung war auch zu beobachten, als die Partei Die Linke sich Anfang Mai 2025 zur «Jerusalem Declaration on Antisemitism» (JDA) bekannte, einem Gegenentwurf zur inzwischen verbreiteten und von vielen Institutionen übernommenen «Arbeitsdefinition Antisemitismus» der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Von Israelhass und Antisemitismus bei der Linken war daraufhin die Rede; aber bald meldeten sich auch Verteidiger*innen der Linkspartei die die Entscheidung als Fortschritt beim Kampf um Meinungsfreiheit und gegen Antisemitismus begrüßten.

Wieso ist der Streit um die Frage, wie Antisemitismus definiert wird, zu einem solchen politischen Symbol geworden? Wie unterscheiden die beiden Definitionen legitime Kritik an der israelischen Politik von Antisemitismus und warum ist diese Frage so wichtig? Und was unterscheidet die Definitionen eigentlich voneinander? Wo liegen ihre Stärken und Schwächen, was können sie klären – und was nicht?

Fragen und Antworten:

Was ist Antisemitismus?

Antisemitismus ist die Abwertung und Feindseligkeit gegenüber Jüdinnen und Juden und das Judentum. Er äußert sich in Diskriminierungen, Verschwörungstheorien und Gewalt und hat eine lange, wechselvolle Geschichte

Die Ursprünge des heutigen Antisemitismus liegen unter anderem in der Judenfeindschaft von Christ*innen, die die jüdische Religion ablehnten und Jüdinnen und Juden für die Kreuzigung Jesu verantwortlich machten. Im europäischen Mittelalter entstanden daraus vielfältige Formen von Ausgrenzung und Entrechtung sowie Fantasien von jüdischen Verschwörungen, darunter Legenden über angebliche jüdische «Ritualmorde», «Kindermörder» und «Brunnenvergifter». Immer wieder resultierte diese Feindschaft in Gewalttaten gegen die jüdische Bevölkerung.

Im 18. und 19. Jahrhundert verbanden sich diese Motive mit neuen politischen Ideen wie dem Nationalismus. Völkische Bewegungen zeichneten das Bild einer «jüdischen Rasse», die weltweit im Geheimen die Geschicke ganzer Gesellschaften lenke. Seitdem und bis heute haben sich antisemitische Motive in vielen Weltdeutungen eingenistet, in rechten Fantasien vom «Bevölkerungsaustausch» durch Migration, in Verschwörungstheorien, wie sie etwa bei den Corona-Protesten zu hören waren, in islamistischen Ideologien oder in der Vorstellung vom besonders schädlichen, «raffenden» Finanzkapital, die auch in Teilen der Linken zu Hause ist. 

In den europäischen Nationalbewegungen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts blühte der Antisemitismus regelrecht auf und entlud sich immer wieder in tödlichen Pogromen gegen die Minderheit. Auch die Arbeiter*innenbewegung war nicht frei von ihm. In der frühen Sowjetunion wurden Jüdinnen und Juden allen anderen Sowjetbürger*innen gleichgestellt, doch unter Stalin hielt der Antisemitismus wieder Einzug; viele Jüdinnen und Juden fielen den stalinistischen Säuberungen zum Opfer. Der Nationalsozialismus machte den antisemitischen Wahn schließlich zur Staatsideologie und radikalisierte ihn zu einem Vernichtungsprogramm, in dem sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet wurden.

Nach dem Ende der NS-Herrschaft wandelte sich der Antisemitismus abermals. Wegen der Schuld des Holocaust war offener Hass auf Jüdinnen und Juden in Deutschland weniger akzeptabel. Aber er war nicht verschwunden, sondern wurde verstärkt über Umwege kommuniziert, etwa durch Holocaustleugnung oder die Behauptung, Jüdinnen und Juden würden den Holocaust instrumentalisieren. Zusätzlich verlagerte sich antisemitisches Denken mit der Gründung Israels auf den mehrheitlich jüdischen Staat. Deshalb ist es oft schwierig, zwischen berechtigter Kritik an der israelischen Politik, etwa wegen der Vertreibung und Entrechtung der Palästinenser*innen, und antisemitischen Aussagen oder Motiven zu unterscheiden. Das ist auch der Hintergrund aktueller Debatten um «Israelkritik» und Antisemitismus.

Was ist die IHRA-Definition von Antisemitismus?

Die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) ist eine zwischenstaatliche Organisation, die die Erforschung und Erinnerung des Holocaust fördern soll. 35 Staaten sind Mitglieder, darunter fast alle EU-Staaten sowie Israel, die USA, Kanada, Australien und Argentinien. Die von der IHRA 2016 angenommene «Arbeitsdefinition» beschreibt Antisemitismus als «eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann», und ergänzt: «Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.» Die Definition liefert eine Liste von elf Beispielen zu unterschiedlichen Erscheinungsformen des Antisemitismus mit, darunter sieben zu israelbezogenem Antisemitismus.

Dass israelbezogener Antisemitismus so viel Raum einnimmt, ist aus dem Entstehungshintergrund der Arbeitsdefinition zu erklären. Anfang der 2000er-Jahre, während der zweiten Intifada, kam es auch in westeuropäischen Ländern verstärkt zu Gewalttaten gegen Jüdinnen und Juden, häufig mit Bezug auf den Nahostkonflikt. Gleichzeitig wurde in damaligen Debatten ein mangelndes Bewusstsein für auf Israel bezogene Erscheinungsformen des Antisemitismus beklagt. Hierauf versuchte die IHRA mit ihrer Arbeitsdefinition zu reagieren.

Die IHRA-Definition ist nicht rechtsverbindlich, das wird im Text selbst betont. Allerdings entfaltet sie mitunter eine solche Wirkung, da sich zahlreiche Staaten und Behörden, aber auch nichtstaatliche Stellen wie Vereine, Universitäten oder der Zentralrat der Juden in Deutschland die IHRA-Definition zu eigen gemacht haben. Der Bundestag bekannte sich erstmals 2019 und erneut 2024 zur IHRA-Definition.

Warum wird die IHRA-Definition für Antisemitismus kritisiert?

Mit der Fokussierung auf israelbezogenen Antisemitismus füllte die IHRA-Definition eine Lücke. Allerdings wird sie auch dafür kritisiert, dass sie Antisemitismus aus linken oder muslimisch-migrantischen Milieus überbetone, während rechter oder christlicher Antisemitismus in den Hintergrund rücke. Auch könne die IHRA-Definition dazu missbraucht werden, die Meinungsfreiheit einzuschränken, etwa, wenn Proteste gegen Israels Politik zu schnell als antisemitisch gebrandmarkt werden

Kritiker*innen verweisen auf den politischen Charakter der IHRA-Definition: Ihr Zweck sei es gewesen, eine Handreichung für staatliche Initiativen zur Bekämpfung von Antisemitismus zu schaffen, schreibt einordnend beispielsweise der Soziologe und Antisemitismusforscher Klaus Holz. Wissenschaftlichen Kriterien genüge die Definition jedoch nicht, dafür sei sie zu unpräzise, etwa in der Kernformulierung «eine bestimmte Wahrnehmung von Juden», ohne dass dies näher bestimmt werde, oder in der Ergänzung, dass sich diese Wahrnehmung «als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann» (was die Frage aufwirft, wie sie sich noch ausdrücken könnte). In Bezug auf die in der IHRA-Definition angeführten Beispiele heißt es im Definitionstext, diese «können unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts» das aufgezählte Verhalten einschließen – eine Aufforderung zur genauen Prüfung, die in der Anwendungspraxis häufig übergangen wird. In einem Gutachten, das 2019 für die Rosa Luxemburg Stiftung erstellt wurde, heißt es: «Systematische Lücken, mangelnde Klarheit der Formulierungen, widersprüchliche und fehleranfällige Anwendungspraxen und ein unklarer rechtlicher Status der ‹Arbeitsdefinition Antisemitismus› erzeugen Verwirrung.» Besonders schwerwiegend sei dabei «die aus den Unsicherheiten resultierende Möglichkeit der Instrumentalisierung der Definition in der Auseinandersetzung mit missliebigen nahostpolitischen Positionen» (S. 16).

Insbesondere in Deutschland hat sich die Positionierung zur IHRA-Definition zu einem politischen Symbol entwickelt, bei dem der Inhalt leicht in den Hintergrund tritt. Es komme zu einer Instrumentalisierung der Kategorie «israelbezogener Antisemitismus», warnten der israelische Historiker Moshe Zimmermann und der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland Shimon Stein schon 2019. Ähnlich äußerten sich andere Kritiker*innen. Unter Verdacht gerate, wer die Definition ablehnt, was auch zahlreiche Jüdinnen und Juden, vor allem aus dem linken Spektrum einschließt. Damit verfehle die Anwendungspraxis der Definition den Zweck, die Vielfalt jüdischer Selbstverständnisse zu schützen, und könne im Ergebnis sogar zum Hindernis bei der Bekämpfung von Antisemitismus werden. Als ein Beispiel für solche Verzerrungen gilt Kritiker*innen etwa die Bundestagsresolution «Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen und stärken» von 2024, die den wachsenden Antisemitismus, der nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 und der anschließenden Kriegsführung Israels in Gaza zu beobachten war, vor allem mit «Zuwanderung aus den Ländern Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens» in Verbindung bringt und aufenthalts-, einbürgerungs- und asylrechtliche Konsequenzen, aber auch Konsequenzen für die Kulturförderung anmahnt.

Einer der maßgeblichen Verfasser der «Arbeitsdefinition», der US-amerikanische Anwalt Kenneth Stern, kritisiert bereits seit Längerem, die Definition werde «missbraucht», um propalästinensische Einstellungen als antisemitisch zu disqualifizieren. 

«Jerusalem Declaration on Antisemitism» (JDA) und IHRA-Definition – was ist der Unterschied?

Als Reaktion auf die Schwächen der IHRA-Definition erarbeitete eine internationale Gruppe von Wissenschaftler*innen, darunter viele Holocaust- und Antisemitismusforscher*innen, die 2021 veröffentlichte «Jerusalem Declaration on Antisemitism» (JDA). Die Jerusalemer Erklärung oder JDA-Definition sieht Antisemitismus als «Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische)». Der Definition zur Seite gestellt sind Leitlinien zur Erläuterung. In diesen wird auf die Verwandtschaft von Antisemitismus und Rassismus, das Problem der indirekten oder verschlüsselten Kommunikation antisemitischer Einstellungen oder auch bestimmte antisemitische Bilder und Vorstellungen eingegangen.

In Bezug auf den Israel-Palästina-Konflikt ist die Unterscheidung zwischen per se antisemitischen und nicht per se antisemitischen Aussagen zentral. So wollen die Autor*innen eine Differenzierung zwischen legitimer Kritik an israelischer Politik oder am Zionismus gegenüber Positionen, die Jüdinnen und Juden mit dem Staat Israel in eins setzen oder einen antisemitischen Antizionismus vertreten, ermöglichen. Um eine Einordnung vornehmen zu können, so wird im Text betont, sei der Kontext von Äußerungen entscheidend.

In der Präambel der «Jerusalemer Erklärung» nehmen die Autor*innen auf die Unklarheiten der IHRA-Definition Bezug und kritisieren, dass die daraus entstandenen Kontroversen den Kampf gegen Antisemitismus geschwächt hätten. Der von ihnen selbst formulierte Anspruch ist es, eine «präzisere Kerndefinition» und «ein kohärentes Set von Leitlinien» zu liefern. Die Präambel empfiehlt Institutionen die Definition explizit als Alternative zur «Arbeitsdefinition» der IHRA. 

Wann ist Kritik an Israel antisemitisch?

Die folgenden Aussagen und Verhaltensweisen stuft die JDA-Definition beispielhaft als grundsätzlich, also «per se» antisemitisch ein:

  • Stereotype des klassischen Antisemitismus auf Israel anzuwenden,
  • Jüdinnen und Juden kollektiv für das Verhalten Israels verantwortlich zu machen,
  • von ihnen eine Verurteilung israelischer Politik oder des Zionismus einzufordern,
  • Jüdinnen und Juden, sofern sie keine Israelis sind, eine größere Loyalität zu Israel zu unterstellen als zu dem Land, in dem sie leben,
  • Jüdinnen und Juden «im Staat Israel das Recht abzusprechen, kollektiv und individuell gemäß dem Gleichheitsgrundsatz zu leben».

Weitere fünf Aussagen gelten der JDA zufolge als «nicht per se» antisemitisch:

  • die Unterstützung der palästinensischen Forderungen nach vollen politischen, nationalen, bürgerlichen und menschlichen Rechten,
  • Kritik oder Ablehnung des Zionismus,
  • faktenbasierte Kritik an Israel inklusive historischer Vergleiche (etwa mit der Apartheid in Südafrika),
  • Boykotte oder andere Formen gewaltfreien Protests gegen Israel,
  • überzeichnete oder übermäßige Kritik («Doppelstandards») an Israel.

Diese fünf Aussagen oder Verhaltensweisen können antisemitisch sein, sind es aber nicht zwingend. In all diesen Fällen sei der Kontext entscheidend, um das zu beurteilen. Kritiker*innen unterstellen bisweilen, dass die JDA-Definition diese Fälle für per se nicht antisemitisch (statt «nicht per se antisemitisch») halte. Doch genau das ist nicht der Fall.

Die IHRA-Definition hat das umgekehrte Problem. Ihr wird oft unterstellt, dass sie die israelbezogenen Beispiele, die sie anführt, durchweg als antisemitisch einstufe. Auch das ist nicht der Fall. Vielmehr können die aufgeführten Verhaltensweisen «unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts» antisemitisch sein. Streng genommen enthält die IHRA-Definition somit ausschließlich Beispiele für Äußerungen die «nicht per se» antisemitisch sind. Allerdings wird sie meist ganz anders gelesen, wozu der Umstand einladen mag, dass einige der als Beispiele genannten Äußerungen tatsächlich grundsätzlich und kontextunabhängig als antisemitisch gelten können.

Die IHRA-Definition nennt folgende israelbezogene Aussagen, die je nach Kontext antisemitisch sein können:

  • den Vorwurf, Israel oder die Jüdinnen und Juden hätten den Holocaust erfunden oder würden ihn übertrieben darstellen;
  • den Vorwurf gegenüber Jüdinnen und Juden, sie fühlten sich dem Staat Israel stärker verpflichtet als ihren Heimatländern;
  • die Aberkennung des Rechts der Jüdinnen und Juden auf Selbstbestimmung (etwa durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel – im englischen Original: «eines» Staates Israel – sei ein rassistisches Unterfangen);
  • die Anwendung doppelter Standards gegenüber Israel;
  • die Verwendung traditionell antisemitischer Bilder und Symbole, um Israel oder Israelis zu beschreiben;
  • Vergleiche der israelischen Politik mit dem Nationalsozialismus und
  • das kollektive Verantwortlichmachen von Jüdinnen und Juden für Handlungen des Staates Israel.

Legt man die Beispiele aus den Definitionen von IHRA und JDA nebeneinander, fällt zunächst viel Übereinstimmung auf. Einig sind sich beide in der Bewertung, dass die Anwendung klassischer antisemitischer Stereotype auf Israel antisemitisch ist und dass indirekte Formen, Antisemitismus zu kommunizieren, sich nicht selten als Kritik an Israel maskieren. Beide Definitionen geben auch den Hinweis auf den Kontext von Äußerungen und fordern zu einer genauen Prüfung auf. Liest man die Beispiele der IHRA ohne die Einschränkung «unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts», also als definitiv antisemitische Aussagen, dann wäre die JDA-Definition in einigen Punkten weniger streng. Doppelstandards gegen Israel etwa könnten ihr zufolge auch andere Gründe haben (etwa eine starke eigene Betroffenheit von den Folgen israelischer Politik); die Aussage, der israelische Staat sei ein rassistisches Unterfangen, müsste nicht zwangsläufig antisemitisch motiviert sein etc. Zudem fehlt in den JDA-Beispielen ein Punkt, den die IHRA-Definition explizit nennt, nämlich der Vergleich der Politik Israels mit der Politik der Nazis; zwar ließe sich ein solcher Vergleich auch mit den Maßstäben der JDA-Definition als kodierte Form antisemitischer Rede erkennen – doch auch die gegenteilige Lesart wäre nicht ausgeschlossen. 

Kritik an der JDA: Was wird kritisiert?

Die Kritik an der JDA-Definition ist oft maßlos und von Unterstellungen geprägt, etwa der, sie diene nur zur Verharmlosung von israelbezogenem Antisemitismus bzw. dazu, mit Palästina solidarische Stimmen pauschal vom Antisemitismusverdacht freizusprechen. Wie in der Antwort auf Frage 5 gezeigt, sind solche Vorwürfe nicht haltbar.

Es gibt aber auch diskussionswürdige Kritiken an der Definition oder an einzelnen Aspekten, beispielsweise die, dass die JDA ihr Versprechen, Unklarheiten zu beseitigen, nur bedingt einlöst – etwa wenn sie nahelegt, Antisemitismus als eine Spielart des Rassismus mit «spezifischen Besonderheiten» zu betrachten, ohne diese Besonderheiten zu benennen. Die Frage, ob Antisemitismus als eine Form des Rassismus begriffen werden kann oder im Gegenteil klar von Rassismus unterschieden werden muss, ist in der Forschung umstritten. Eine andere Kritik an der JDA-Definition lautet, dass auch bei ihr das Fortwirken christlicher Judenfeindschaft oder anderer in westlichen Gesellschaften verbreiteter Erscheinungsformen des Antisemitismus untergewichtet bleibt.

Mit Blick auf den Israel-Palästina-Konflikt ist vor allem der Einwand relevant, dass die Definition «weltbildhaften Antizionismus», der den Zionismus für viele Übel der Welt verantwortlich macht, nicht ausreichend fasse, dass sie also zu eng angelegt sei, um solche Erscheinungsformen des Antisemitismus zu erkennen. Was ist gemeint? Indem die Jerusalemer Erklärung relativ vage Formulierungen wählt, wenn es um das Existenzrecht des bestehenden Staates Israel geht, erweitert sie gegenüber der IHRA-Anwendungspraxis den Raum dessen, was «nicht per se antisemitisch» und somit diskutabel ist. In Leitlinie 12 beispielsweise betont sie, dass die Forderung nach einer Regelung, die «allen Bewohner*innen ‹zwischen dem Fluss und dem Meer›» volle Gleichberechtigung zugestehe, «ob in zwei Staaten, einem binationalen Staat, einem einheitlichen demokratischen Staat, einem föderalen Staat oder in welcher Form auch immer», nicht per se antisemitisch sei. Damit verkenne sie, so Kritiker*innen, dass die Parole «from the river to the sea, palestine will bei free» oft in der Absicht vorgebracht werde, die Existenz des Staates Israel zugunsten eines palästinensischen Staates zu delegitimieren, kritisiert etwa Klaus Holz, der zu den Erstunterzeichnern der JDA-Definition gehört.

Tatsächlich könnte man mit dem Definitionstext argumentieren, dass diese Forderung nicht antisemitisch sein muss, sondern auch einen klassischen Nationalkonflikt ausdrücken kann, wie er in anderen Nationalbewegungen ebenfalls auftritt. Dadurch, so wenden Kritiker*innen ein, rücke aber in den Hintergrund, dass die Aussagen in der Realität oft auf die Zerstörung Israels und die Vertreibung seiner jüdischen Bevölkerung abzielten. Ein solcher «weltbildhafter Antizionismus», der Israel beseitigen wolle, werde gerade seit dem 7. Oktober 2023 auch in Teilen der antiimperialistischen Linken wieder salonfähig. Ob die Forderung nach der Zerstörung Israels in antisemitischer oder nationalistischer Absicht vorgebracht werde, sei für das erwünschte Ergebnis, das die Existenz seiner jüdischen Bewohner*innen bedroht, letztlich zweitrangig.

Ähnliche Kritiken werden bisweilen mit Blick auf die Positionierung zu Boykottaufrufen oder zu historischen Vergleichen vorgebracht. In beiden Fällen, so die Kritik, übergehe die Definition das Problem, dass solche Positionen zwar nicht antisemitisch sein müssen, aber oft in antisemitischer Absicht geäußert würden.

Befürworter*innen der JDA-Definition betonen, dass die Bewertung, ob solche Aussagen antisemitisch seien oder nicht, eben vom Kontext abhingen und mit der Definition durchaus als antisemitisch erkannt werden können. Ihnen geht es um die Erweiterung des Bereiches, über den konkret diskutiert werden müsse, statt den Antisemitismusvorwurf inflationär gegen Kritik an der israelischen Politik in Anschlag zu bringen.

Wie stehen JDA und IHRA zur BDS-Bewegung?

Die JDA geht in ihren Leitlinien implizit und im mitgelieferten FAQ explizit auf die BDS-Bewegung ein. BDS steht für «Boycott, Divestment, Sanctions»; die internationale Kampagne fordert einen umfassenden Boykott Israels in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur sowie Sanktionen gegen das Land, um Druck für eine Beendigung der Besatzung und der «Kolonisierung aller arabischen Gebiete», für die Gleichberechtigung der palästinensischen Bürger*innen Israels und für ein Rückkehrrecht palästinensischer Flüchtlinge aufzubauen.

Konkret heißt es in JDA-Leitlinie 14: «Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch.» Im FAQ wird hervorgehoben, dass die Autor*innen die BDS-Kampagne mit der Definition nicht unterstützen und unterschiedliche Haltungen zur BDS-Bewegung haben würden. Die Frage, wann Boykottkampagnen wie BDS antisemitisch sind, sei wieder vom Kontext abhängig. Dafür empfiehlt der Text, die Frage je nach Fall konkret zu beantworten, unter Berücksichtigung des Definitionstextes und der anderen Leitlinien.

Die zitierten Sätze sind den JDA-Autor*innen als Verharmlosung oder als Verteidigung der BDS-Bewegung vorgehalten worden. Auch wenn es sachlich richtig sei, dass eine Boykottkampagne gegen Israel nicht per se antisemitisch sein müsse, übergehe die gewählte Formulierung, dass die BDS-Kampagne nicht nur auf einzelne Akteure oder Institutionen abziele, um die Politik Israels gegenüber den Palästinenser*innen zu beeinflussen, sondern auf die Dämonisierung und Isolation des Staates und seiner Bürger*innen insgesamt. Außerdem ignoriere die Definition, dass zu den Gründungsmitgliedern der Kampagne antisemitische Akteure wie die Hamas oder die PFLP und ihr nahestehende Organisationen gehörten. 

Über die Einschätzung, inwieweit die BDS-Kampagne insgesamt als antisemitisch gelten kann, gehen die Meinungen auseinander, auch unter Fachwissenschaftler*innen. Die IHRA-Definition äußert sich nicht explizit zur BDS-Bewegung, was vor allem ihrem Entstehungszeitpunkt geschuldet sein dürfte. 2004, als die Definition erarbeitet wurde, gab es BDS noch nicht. Wenn BDS-Unterstützer*innen aber öffentliche Räume oder Fördergeldern verweigert werden, beziehen sich politische Institutionen regelmäßig auf die IHRA-Definition. Das gilt auch für den Bundestagsbeschluss «Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen» von 2019, der mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP, SPD und großen Teilen der Grünen verabschiedet wurde. Darin wird die BDS-Bewegung insgesamt als antisemitisch eingestuft, und die Bundesregierung, die Länder, Städte und Kommunen werden aufgefordert, keine Projekte finanziell zu fördern, die zum Boykott Israels aufrufen oder BDS unterstützen. Die Bundestagsresolution «Nie wieder ist jetzt» vom November 2024, verabschiedet mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP, SPD, Grünen und AfD, bekräftigt diese Aufforderung und fordert – auch dies unter Rückgriff auf die IHRA-Definition –, ein Verbot der BDS-Bewegung zu prüfen.

Kenneth Stern, wie erwähnt ein maßgeblicher Autor der IHRA-Definition, spricht sich zwar gegen die BDS-Bewegung aus, verwahrt sich aber gleichzeitig dagegen, die Unterstützung von BDS als einen Beleg für Antisemitismus zu werten und Fördergelder an die Zustimmung zur IHRA-Definition zu knüpfen. 

Ist die JDA international anerkannt?

Die Jerusalemer Erklärung wurde von einem internationalen Team von Wissenschaftler*innen aus den Feldern Antisemitismusforschung, Jüdische Geschichte, Holocauststudien, Nahoststudien sowie Jurist*innen und einzelnen Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher Organisationen entwickelt und bei ihrer Veröffentlichung von mehr als 200 überwiegend jüdischen Wissenschaftler*innen unterzeichnet. Inzwischen hat sie rund 370 Unterzeichner*innen, die Mehrheit von ihnen Wissenschaftler*innen an israelischen, US-amerikanischen, europäischen oder kanadischen Universitäten.

Hat die JDA ein recht hohes Maß an Anerkennung in der Fachwelt gefunden, so stößt sie bei politischen Institutionen auf viel Skepsis. Die meisten Institutionen, die sich in den letzten Jahren der IHRA-Definition angeschlossen haben, lehnen die JDA scharf ab. Diese Ablehnung scheint nicht immer fachlich begründet, doch auch solche Einwände (siehe Frage 6) gibt es. Ihnen stehen allerdings ebenso oder besser begründete Einwände gegen die IHRA-Definition gegenüber.

Wie wird die JDA von jüdischen Organisationen bewertet?

Unter jüdischen Organisationen existiert die ganze Bandbreite von Haltungen zur JDA, die es auch bei nichtjüdischen Organisationen gibt. Dabei gilt die Faustregel: Eher konservative oder eher der aktuellen israelischen Regierung nahestehende Organisationen lehnen die JDA-Definition ab; linke oder liberale Organisationen stimmen ihr eher zu. Beispiele für Letztere sind etwa die antizionistische Jewish Voice for Peace aus den USA (der die Definition allerdings zu stark auf den Israel-Palästina-Konflikt bezogen ist und die eine stärkere Gewichtung des rechten Antisemitismus anmahnt), die linksliberale jüdische US-Lobbyorganisation J-Street, die mit Palästina solidarische jüdische Organisation IfNotNow, die international organisierte Diaspora Alliance oder die amerikanisch-jüdische Online-Zeitung Forward.

Allerdings findet sich die Zustimmung zur Jerusalem Declaration in vielen Fällen nur als Nebensatz in Texten, die die IHRA-Definition und ihre Übertragung in rechtlich bindende Beschlüsse scharf ablehnen, die als Instrumente zur Beschneidung der Meinungsfreiheit kritisiert werden – und dazu, Loyalität mit der israelischen Regierung zu erzwingen. Ähnlich äußern sich zahlreiche eher linke israelische Organisationen, etwa die Menschenrechtsorganisation B’Tselem, die besatzungskritische Veteran*innenorganisation Breaking the Silence oder die israelische Linkspartei Hadash. Auch viele jüdische Wissenschaftler*innen und Holocaust- bzw. Antisemitismusforscher*innen stufen die JDA als die bessere Definition ein.

Konservative jüdische Organisationen lehnen die JDA-Definition dagegen meist ab oder bekennen sich zur IHRA-Definition, so etwa die Anti Defamation League oder das American Jewish Comitee in den USA oder das Board of Deputies of British Jews.

In Deutschland ist das Spektrum jüdischer Organisationen viel kleiner; explizit linke Organisationen sind wenig institutionalisiert und oft eher jung. Daher fällt das Meinungsspektrum hier etwas anders aus. Der Zentralrat der Juden, die größte Dachorganisation in Deutschland, dem die überwiegende Mehrheit der jüdischen Gemeinden angehört, kritisierte das Bekenntnis der Partei Die Linke zur JDA-Definition im Mai 2025 scharf: «Damit zeigt die Linke, wo sie steht – und das ist nicht an der Seite der Jüdinnen und Juden in Deutschland.» Ähnlich äußerten sich das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA) oder die Jüdische Studierendenunion Deutschlands.

Allerdings kritisieren vor allem linke oder erst in den letzten Jahren aus Israel oder den USA nach Deutschland migrierte Jüdinnen und Juden sowie jüdische Stimmen aus Kultur und Wissenschaft den Anspruch des Zentralrats, die Jüdinnen und Juden in Deutschland insgesamt zu vertreten. Sie fühlen sich von dem konservativ ausgerichteten Verband nicht gut repräsentiert.

Warum unterstützt Die Linke die JDA?

Bei ihrem Parteitag am 10. Mai 2025 in Chemnitz beschlossen die Delegierten der Partei Die Linke, sich künftig auf die JDA zu beziehen. 213 Delegierte votierten (gegen die Empfehlung der Parteispitze) für den Antrag «Antisemitismus, Repression und Zensur bekämpfen», 181 dagegen, 48 enthielten sich. Eine Debatte war der Abstimmung nicht vorausgegangen.

Der Antrag befürwortet die Jerusalemer Erklärung mit der Begründung, dass diese den notwendigen Kampf gegen Antisemitismus als «untrennbar mit dem allgemeinen Kampf gegen alle Formen rassistischer, ethnischer, kultureller, religiöser und geschlechtsspezifischer Diskriminierung verbunden» betrachte. «Diese Definition verschließt sich dem Missbrauch des Antisemitismusbegriffs von rechts. Sie ermöglicht die Bekämpfung und das Monitoring von Antisemitismus und ist auch für Bildungszwecke notwendig.» Vor allem aber wendet sich der Beschluss gegen die behördliche und politische Praxis, die IHRA-Arbeitsdefinition als verbindlich vorzuschreiben. Die IHRA-Definition habe sich «zu einem repressiven Instrument entwickelt, um unliebsame Kritik und politischen Protest zu verhindern», und sei ein «massives Einfallstor für autoritäres staatliches Handeln». 

Die Abstimmung fand unter dem Eindruck der nur wenige Tage alten Ankündigung der israelischen Regierung statt, den Großteil des Gazastreifens dauerhaft besetzen und die palästinensische Bevölkerung zu großen Teilen «umsiedeln» zu wollen. Proteste gegen die rücksichtslose Kriegsführung Israels in Gaza in den Wochen und Monaten zuvor hatten sich mit drastischen Einschränkungen und Polizeimaßnahmen sowie mit ständigen Antisemitismusvorwürfen in Politik und Medien konfrontiert gesehen – bei gleichzeitig weitgehender Indifferenz gegenüber dem Leid der Bevölkerung in Gaza. Politik und Medien, so der Eindruck vieler mit Palästina solidarischer Aktivist*innen, nutzten die IHRA-Definition, um jede Kritik an der Regierung Netanjahu zu unterbinden. Dies dürfte auch die Meinung bei nicht wenigen Delegierten auf dem Linken-Parteitag gewesen sein. Der Abstimmung war keine echte Debatte vorausgegangen, weil mehrere Anträge mit Bezug zum Krieg in Gaza ganz ans Ende der Veranstaltung geschoben und größtenteils vertagt wurden. So war auch dieses (knappe) Bekenntnis zur JDA wohl vor allem ein Symbol – für den dringlichen Wunsch , sich an die Seite der notleidenden palästinensischen Bevölkerung Gazas stellen zu wollen.

Der Beschluss hat teils heftige Gegenreaktionen hervorgerufen. Kritik gab es sowohl von einigen Linken-Politiker*innen als auch vom Zentralrat der Juden, von Unionspolitiker*innen, der Springer-Presse und anderen in der Mehrheit konservativen Medien, die aus dem Beschluss einen «Antisemitismus-Skandal» machten. Allerdings ist er in vielen Medien auch gegen überbordende Vorwürfe in Schutz genommen und von jüdischen Intellektuellen gelobt worden. Der Parteivorstand der Linken hat zwei Wochen nach dem Beschluss angekündigt, die vorab versäumte Diskussion unter Einbeziehung jüdischer Organisationen und Institutionen nachholen zu wollen.

Warum wird über die Antisemitismus-Definition so viel gestritten?

Dass die Frage der richtigen Antisemitismus-Definition so umstritten ist, hat einerseits mit der Vielgestaltigkeit ihres Gegenstands zu tun. Antisemitismus hat eine Tausende Jahre lange, äußerst gewalttätige Geschichte, in der er sich immer wieder als wandelbar und anpassungsfähig an neue gesellschaftliche Umstände erwiesen. 

Aus dieser langen Verfolgungsgeschichte ergibt sich eine besondere Verpflichtung, sich für den Schutz jüdischen Lebens einzusetzen. Und sie verpflichtet zu Wachsamkeit gegenüber dem Wiederaufleben antisemitischer Leidenschaften, der Verharmlosung, Relativierung und verschlüsselten Verbreitung von Antisemitismus – besonders im Land der Täter*innen des Holocaust. Dass sich viele jüdische Organisationen hinter die IHRA-Definition stellen, die die Bekämpfung des Antisemitismus in vielen Ländern erstmals institutionell verankert hat, ist daher, trotz aller Kritik an der Anwendungspraxis, durchaus nachvollziehbar und sollte nicht leichtfertig als Schützenhilfe für die aktuelle rechte israelische Regierung abgetan werden.

Im Nahostkonflikt wiederum treffen weitere Motive und Interessen aufeinander. Im Kern ist er ein Konflikt um Land, Ressourcen und Lebenschancen, aber auch um nationale Identität zwischen jüdischen Israelis und arabischen Palästinenser*innen. Er ist auch durch das Erbe des europäischen Kolonialismus geprägt, und nicht zuletzt war die Staatsgründung Israels eine Folge des antisemitischen Vernichtungswahns der Nazis. Während Israel für viele Palästinenser*innen für Vertreibung, Entrechtung und die Verweigerung gleicher Lebenschancen steht, ist es für viele – nicht für alle – Jüdinnen und Juden ein (potenzieller) Zufluchtsort in einer Welt, in der Antisemitismus schnell wieder zur existenziellen Bedrohung werden kann. Für die meisten israelischen Staatsbürger*innen ist Israel schlicht der Ort, an dem sie leben und auch in Zukunft sicher leben wollen; für Deutsche ist Israel wiederum oft auch eine Projektionsfläche, auf der die eigene familiäre oder historische Verstrickung in den Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden bearbeitet wird.

All das prägt die Ansprüche an eine Definition von Antisemitismus. Hinzu kommen aktuelle politische Motive. Die israelische Regierung hat ein Interesse, sich Kritik von Leib zu halten. Mit Palästina solidarische Akteur*innen möchten möglichst laute Kritik an Israels Regierung formulieren – und so weiter. In dieser Gemengelage die unterschiedlichen Motive auseinanderzuhalten und Antisemitismus zielsicher zu bestimmen ist eine Herausforderung.

Eine Antisemitismus-Definition muss also nicht nur Antisemitismus in seinen vielen Spielarten und Diskurstraditionen erfassen, sondern sollte auch eine Hilfestellung dafür geben, Aussagen über Israel beurteilen zu können: Sind sie sachlich begründbar oder von antisemitischen Motiven geleitet? Oder beides? Dabei sollte sie einbeziehen, dass Kritik an Staaten als mit Gewaltmitteln ausgestatteten Institutionen in besonderem Maße geschützt sein muss. Gleichzeitig ist Aufmerksamkeit gegenüber antisemitischen Motiven auch und gerade dann gefordert, wenn man die Politik der aktuellen israelischen Regierung ablehnt oder sich mit den Forderungen nach palästinensischer Selbstbestimmung solidarisieren möchte. Das gilt umso mehr für Linke und Internationalist*innen, deren Geschichte mit der Frage jüdischer Emanzipation eng verknüpft ist.

Angesichts der unterschiedlichsten, teils im Konflikt miteinander stehenden Ansprüche und angesichts der Überformung der Debatte durch einen aktuellen Krieg wie durch einen langen und politisch hoch aufgeladenen Nationalkonflikt ist offenkundig, dass die Diskussion um israelbezogenen Antisemitismus kontrovers bleiben wird. Eine Definition wird den Wunsch nach Klarheit nie endgültig erfüllen können. Aber sie kann im besten Fall die Debatte über aktuelle Erscheinungsformen von Antisemitismus informieren und bei eigenen politischen Urteilen helfen. Dass dafür häufig mehr Informationen nötig sind als der bloße Wortlaut einer Aussage, machen beide Definitionen deutlich, wenn sie selbst darauf verweisen, dass Aussagen und Symbole in ihrem Kontext zu beurteilen sind.