Schuldenbremse: Kein Fortschritt ohne Kredite?
Fragen und Antworten zur gesetzlich verankerten Begrenzung der Staatsverschuldung

Samuel Decker ist Ökonom und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Netzwerk Plurale Ökonomik e.V.
Marode Schienennetze, sanierungsbedürftige Schulen, kaputte Straßen – die Infrastruktur in Deutschland hat schon bessere Zeiten gesehen. Trotzdem bleiben viele der notwendigen Investitionen aus, obwohl Bevölkerung und Expert*innen sie dringend befürworten. Woran mangelt es also? Oft verweisen Politiker*innen auf die sogenannte Schuldenbremse, die Neuverschuldungen auf Länderebene verbietet und auf Bundesebene stark einschränkt. Doch dieser einstige Konsens gerät ins Wanken. Immer mehr Menschen fordern eine Reform, wenn nicht eine Abschaffung der Schuldenbremse, um endlich den Weg freizumachen für umfassende staatliche Investitionen. Unser Autor Samuel Decker hat sich genauer angeschaut, was die Schuldenbremse ist und was sie bewirken soll; er erörtert die Positionen der verschiedenen im Bundestag vertretenen Parteien dazu und skizziert, wie es nach der Wahl weitergehen könnte.
Fragen und Antworten:
Seit wann gibt es die Schuldenbremse?
Am 29. Mai 2009 verabschiedete die Große Koalition aus CDU und SPD – mit Angela Merkel als Kanzlerin und Peer Steinbrück als Finanzminister – die Schuldenbremse mit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Die Bundesregierung hatte damals in großem Maß Schulden aufgenommen, um während der internationalen Finanzkrise Banken zu stabilisieren und die Wirtschaft mit Konjunkturpaketen zu stützen. Um die Verschuldung langfristig in den Griff zu bekommen und – so die damalige Argumentation – niedrige Zinskosten in der Zukunft zu gewährleisten, einigte man sich auf eine strikte Sparregel.
Was genau bewirkt die Schuldenbremse?
Mit der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse wird die «strukturelle», also von der Konjunktur unabhängige, staatliche Neuverschuldung für die Bundesländer verboten und für den Bund auf maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beschränkt. Neben dieser «strukturellen» Neuverschuldung gibt es noch eine «Konjunkturkomponente». Die Konjunkturkomponente legt fest, in welchem Umfang der Bund Schulden aufnehmen kann, um einen wirtschaftlichen Rückgang abzufedern, und wie viel er im Aufschwung einsparen muss, um die Schulden abzubauen.
Wie wird die Konjunkturkomponente kalkuliert?
Die Konjunkturkomponente wird in einem komplizierten Verfahren bemessen. In ihre Bestimmung fließt die Schätzung des «Produktionspotenzials» mit ein. Das Potenzial der Wirtschaft ist eine entscheidende Größe, denn die zulässige Höhe der Neuverschuldung hängt davon ab, wie stark das aktuelle BIP von diesem Potenzial abweicht. Für das Jahr 2024 zum Beispiel schätzte die Bundesregierung die Unterauslastung der Wirtschaft auf 38 Milliarden Euro, und durfte sich damit um zusätzliche 8 Milliarden Euro verschulden. Die scheinbare Flexibilität in der Konjunkturkomponente erlaubt also eine an der Gesamthöhe des BIP gemessen außerordentlich geringe Neuverschuldung.
Die Konjunkturkomponente beziehungsweise das für sie wesentliche Produktionspotenzial wird durch eine Methode der Mainstream-Ökonomik berechnet – durch die sogenannte Cobb-Douglas-Produktionsfunktion. Sie geht davon aus, dass das Potenzial der Wirtschaft unabhängig von der tatsächlichen Politik und staatlichen Interventionen ist, dass es einer gewissen Mindestarbeitslosigkeit bedarf, um das Potenzial auszuschöpfen, und dass das Potenzial ungefähr der Wirtschaftsleistung der Vergangenheit entspricht. Die Auswirkungen von massiven staatlichen Investitionen auf das Produktionspotenzial und strukturelle Veränderungen der Ökonomie können mit dieser Berechnungsmethode gar nicht einbezogen werden.
Mit welcher Begründung wird an der Schuldenbremse festgehalten?
Die Schuldenbremse ist das Produkt eines stark ideologisch geprägten Wirtschafts- und Gesellschaftsbildes, das die Finanzpolitik und die Mainstream-Ökonomik dominiert. Im Kern steht das Argument, dass öffentliche Verschuldung zulasten zukünftiger Generationen gehe. Verschuldung gefährde damit das Gemeinwohl. Es wird jedoch nicht nur Staatsverschuldung, sondern auch der Besitz von Staatsanleihen vererbt, und Gläubiger*innen und Schuldner*innen gehören oft der gleichen Generation an. Entscheidend ist zudem, wofür das Geld verwendet wird. Dient die Staatsverschuldung beispielsweise der Finanzierung von Investitionen in öffentliche Infrastrukturen und in den sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft, dann profitieren insbesondere künftige Generationen.
Dass Schulden angeblich zulasten künftiger Generationen gingen, diese Vorstellung hängt mit einer noch tiefer verwurzelten ideologischen Grundannahme der neoklassischen Mainstream-Ökonomik und der neoliberalen Wirtschaftsdoktrin zusammen – nämlich dass Schulden letztlich auf Ersparnissen beruhen und der Staat deshalb nicht mehr ausgeben kann, als er einnimmt.
Stimmt es, dass der Staat nicht mehr ausgeben kann, als er einnimmt?
Schulden entstehen unabhängig von Ersparnissen, indem Banken «aus dem Nichts» Kredite erzeugen. Der Finanzierung sozialer und ökologischer Anliegen durch öffentliche Kredite stünde also nichts im Wege. Erst wenn durch die öffentlichen Investitionen die Nachfrage schneller wächst, als die Produktionskapazitäten ausgeweitet werden können, wird Inflation zu einem Problem. Die zurückliegende Phase von Preissteigerungen ab 2022 war dagegen nicht auf öffentliche Verschuldung zurückzuführen, sondern auf den Anstieg der Energiepreise und die Preissetzungsmacht von Konzernen, die in der durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Krise zusätzliche Profite durch höhere Preise erwirtschafteten.
Das Märchen von der Verschuldung zukünftiger Generationen und die Warnung vor angeblicher Inflationsgefahr dienen in erster Linie dazu, die materiellen Interessen von Gläubigern und Arbeitgebern zu schützen. Denn harte Verschuldungsregeln, die als vermeintlicher «Sachzwang» daherkommen, verhindern, dass die politische Gestaltbarkeit der Wirtschaft ersichtlich wird und die Idee einer demokratischen Steuerung der Wirtschaft im Sinne sozial-ökologischer Ziele Fuß fassen kann.
Aus welchen Gründen wird die Schuldenbremse kritisiert?
In Deutschland gibt es einen erheblichen Investitionsrückstau. Das bedeutet, dass der deutsche Staat in den letzten Jahrzehnten zu wenig in den Erhalt und die Modernisierung von Infrastruktur wie Straßen, Brücken, Schienen, Kanälen und Schulgebäuden investiert hat. Marode Schuldächer, gesperrte Autobahnbrücken sowie Zugausfälle und Verspätungen bei der Bahn sind längst alltägliche Probleme. Gleichzeitig gibt es mit der Umstellung der Produktion auf postfossile Energieträger auch «innerhalb» des Kapitalismus einen erheblichen Transformationsdruck, den die Unternehmen nicht aus eigenen Mitteln stemmen wollen oder können.
Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und das arbeitnehmernahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) haben gemeinsam berechnet, wie viel zusätzliche öffentliche Investitionen nötig sind, um Deutschland zukunftsfähig zu machen. Ihr Ergebnis: Rund 600 Milliarden Euro müssen in den nächsten zehn Jahren investiert werden. Erhöhte Verteidigungsausgaben, die viele seit dem Ukraine-Krieg und verstärkt seit der Wiederwahl von Donald Trump zum US-Präsidenten fordern, sind hierbei noch nicht berücksichtigt.
In der Studie wird ein Investitionsbedarf von 200 Milliarden Euro für den Wandel hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft angegeben. Das umfasst unter anderem die energetische Sanierung öffentlicher Gebäude, Förderprogramme für private Immobilien, staatliche Beteiligungen am Ausbau von Strom- und Wasserstoffinfrastruktur sowie die Umstellung des ÖPNV auf emissionsfreie Antriebe. Für Städte und Gemeinden veranschlagen die Autor*innen der Studie 177 Milliarden Euro an Investitionsbedarf für die Sanierung und den Neubau von Verwaltungs- und Schulgebäuden, für die Instandsetzung kommunaler Straßen und Wege sowie für Wohnungsbau, Schienennetz und ÖPNV. Die Forschungsinstitute plädieren daher für eine Reform der Defizitregeln der Schuldenbremse, um die notwendigen Investitionen über Kredite finanzieren zu können.
Die Schuldenbremse kann noch schärfer kritisiert werden, wenn man den sozial-ökologischen Umbau der Industrie und den Ausbau der (sozialen) Infrastrukturen als noch dringlichere und umfassendere Aufgabe begreift, als dies in der Studie von IW und IMK der Fall ist. Wenn beispielsweise eine komplette Neugestaltung des Verkehrs bzw. der öffentlichen Mobilität zusammen mit einer Konversion der Automobilindustrie angestrebt wird, reichen die angegebenen 600 Milliarden Euro nicht aus. Eine öffentlich geplante Transformation aller Wirtschaftssektoren, die zum Ziel hat, dass es auch in 50 oder 60 Jahren noch sinnvolle Produktion und Arbeit gibt und zugleich die Klimaziele eingehalten werden, wäre eine Mammutaufgabe, die ein Vielfaches an Krediten erfordern würde und bei der Marktmechanismen und private Unternehmen nur noch eine untergeordnete Rolle spielen würden.
Besonders stark leiden übrigens die Bundesländer unter der Schuldenbremse, weil ihnen eine strukturelle Neuverschuldung seit 2020 vollständig untersagt ist. In Berlin wurde zuletzt ein umfassender Sparhaushalt beschlossen, um der Schuldenbremse gerecht zu werden. Daher kommt die Kritik an der Schuldenbremse teilweise direkt von den Länderregierungen, sogar von solchen mit CDU-Beteiligung.
Welche Positionen zur Schuldenbremse vertreten die Parteien im Bundestagswahlkampf?
- Die AfD will an der Schuldenbremse festhalten. Deutschland habe «kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem» – die Partei will bei Klimaschutz, im Sozialstaat und bei der Entwicklungszusammenarbeit radikal kürzen.
- Die FDP pocht ebenfalls auf strikte Einhaltung der Schuldenbremse. Das Festhalten an der ihr (und ihre restriktive Auslegung) hat im November 2024 zum Bruch der Ampelkoalition geführt. Im Wahlprogramm ist «Generationengerechtigkeit» die wesentliche Begründung für das Festhalten an der Schuldenbremse. Um Einnahmen zu generieren, schlägt die FDP vor, Staatsbeteiligungen an Unternehmen an private Investoren zu verkaufen.
- Auch die CDU behauptet in ihrem Wahlprogramm, dass Schulden zulasten der folgenden Generationen gingen, und will daher an der grundgesetzlich verankerten Schuldenbremse festhalten. Es wird ein «Kassensturz» für die Zeit nach der Bundestagswahl angekündigt. Das Bürgergeld soll stark gekürzt werden, um Ausgaben zu reduzieren. Trotz des Bekenntnisses zur Schuldenbremse im Wahlprogramm betont die CDU in erster Linie die Kürzungspotenziale im Haushalt und die angebliche Möglichkeit, Wirtschaftswachstum und private Investitionen durch Steuersenkungen anzukurbeln. Es ist davon auszugehen, dass sie bei einer Koalition mit SPD oder Grünen einer moderaten Reform – insbesondere Ausnahmeregelungen für die Bundesländer – zustimmen wird, um im Gegenzug die Senkung der Unternehmenssteuern und Kürzungen beim Bürgergeld auszuhandeln.
- Die Grünen sprechen sich in ihrem Wahlprogramm dafür aus, die Schuldenbremse zu «modernisieren». Es handelt sich um einen moderaten Reformvorschlag, der vor allem an der Berechnung der oben beschriebenen Konjunkturkomponente etwas ändern will. Im Beschluss der Bundesdelegiertenkonferenz im November 2024 wird gefordert, die «Aufnahme von staatlichen Krediten in dem Umfang, wie vom Staat Investitionen getätigt werden, zu ermöglichen». Die Konjunkturkomponente müsse «für den nötigen Spielraum ausgeweitet werden, um damit dem Staat zu ermöglichen, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten handlungsfähiger zu sein». Zudem soll ein Investitionsfonds («Deutschlandfonds») eingerichtet werden, finanziert aus öffentlichen Krediten.
- Auch die SPD fordert einen «Deutschlandfonds», in den der Staat 100 Milliarden Euro kreditfinanziert einzahlen soll. Im offiziellen Wahlprogramm der SPD kommt das Wort «Schuldenbremse» nur ein einziges Mal vor – mit Verweis auf notwendige Ausnahmeregelungen für die Bundesländer. Die SPD-Fraktion hat im Dezember 2024 in einem Papier gefordert, die «veralteten Kriterien der Konjunktur-Komponente der Schuldenregel an die aktuellen wirtschaftlichen Realitäten» anzupassen. Die Obergrenze für eine strukturelle Neuverschuldung soll angehoben werden. Die SPD setzt sich zudem für eine Reform der Notlagenregelung ein. In Ausnahmesituationen – wie etwa Kriegen oder Hochwassern – sollen Kreditermächtigungen für mehrere Jahre im Voraus beschlossen werden dürfen, anstatt jedes Jahr aufs Neue.
- Das BSW spricht sich in seinem Wahlprogramm für eine Reform der Schuldenbremse aus, lässt jedoch völlig offen, wie diese ausgestaltet werden soll.
- Die Partei Die Linke fordert in ihrem Wahlprogrammentwurf die «Abschaffung der Schuldenbremse und ihre Ersetzung durch die ‹Goldene Regel›, wonach Investitionen über Kredite finanziert werden können». Die angesprochene «Goldene Regel» der Finanzpolitik besagt, dass eine Erhöhung der öffentlichen Neuverschuldung nur in dem Maße erfolgen darf, wie mit ihr gleichzeitig ein mindestens ebenso großer Anstieg des öffentlichen Netto-Vermögens einhergeht. Dieses komme auch zukünftigen Generationen zugute, sodass diese daher später auch an der Finanzierung beteiligt werden dürften. Die Partei verweist im Wahlprogrammentwurf auf die Schätzung von «600 Milliarden Euro an zusätzlichen Investitionen», die nötig wären, «um Infrastruktur, Wirtschaft und Gesellschaft zukunftsfähig zu machen.»
Wie glaubwürdig sind die jeweiligen Reformvorschläge?
Auffällig ist, dass SPD, Grüne und BSW die Schuldenbremse nicht grundlegend infrage stellen, sondern für eine «Modernisierung» bzw. Reform plädieren. Es ist allerdings mehr als fraglich, ob die von SPD und Grünen angestrebten Reformen den Kreditspielraum in ausreichendem Maße erhöhen würden. In den programmatischen Aussagen von Grünen und SPD ist zudem die Hervorhebung der Konjunkturkomponente aufschlussreich, denn bei einer schwachen Verhandlungsposition gegenüber der CDU könnte in deren Reform ein Minimalkompromiss gefunden werden.
Wem nutzen die Reformvorschläge?
Die Forderung nach einer Reform der Schuldenbremse kommt schon lange nicht mehr nur von links oder von der Partei Die Linke und ist auch nicht zwangsläufig eine progressive Forderung. Mitglieder des Sachverständigenrats für Wirtschaft (die sogenannten Wirtschaftsweisen), der Internationale Währungsfonds, der Bundesverband der Deutschen Industrie, die Bundesbank, große Wirtschaftsforschungsinstitute (etwa das DIW) und sogar Peer Steinbrück und Angela Merkel als Schöpfer der Schuldenbremse plädieren inzwischen für eine Reform. Die allgemeine Stoßrichtung der Reformdiskussion um die Schuldenbremse – auch in den programmatischen Aussagen von SPD und Grünen – zielt jedoch im Unterschied zu Vorschlägen von links auf die spezifische Unterstützung privater Unternehmen sowie auf eine Erhöhung der Rüstungsausgaben ab. Von einer Art «Green New Deal», bei dem massiv öffentlich investiert wird, um die Wirtschaft sozial-ökologisch umzubauen, dabei gute Beschäftigungsverhältnisse zu erhalten oder auszuweiten und (soziale) Infrastrukturen zu schaffen, von denen alle profitieren, ist in der öffentlichen Debatte nicht die Rede.
Sollten Investitionen von der Schuldenbremse ausgenommen werden?
Kennzeichnend für den aktuellen Reformdiskurs ist die Unterscheidung in «konsumtive» und «investive» Ausgaben des Staates. Die Definitionsmacht darüber, worin eine sinnvolle Zukunftsinvestition, also eine «investive» Kreditaufnahme besteht, obliegt aber den gesellschaftlichen Kräfte- und Mehrheitsverhältnissen. Hier steht das rechte und konservative Lager derzeit am stärksten da. Mehr Kreditspielraum für Autobahnen, Militär, Polizei und Fusionsforschung wäre aber nicht hilfreich. Eine Reform der Schuldenbremse würde also nicht zwangsläufig dazu führen, dass Geld für die richtigen Dinge ausgegeben wird. Das gilt auch dann, wenn die gesellschaftliche Stimmung eine umfassendere Reform befürworten würde, die über eine bloße Neugestaltung der Konjunkturkomponente hinausgeht – was die CDU bislang strikt ablehnt. Auch bei einer Anhebung der Grenze für die strukturelle Neuverschuldung von 0,35 auf 1,5 Prozent des BIP, wie sie etwa Bundesbankpräsident Joachim Nagel fordert, stellt sich vor allem die Frage: Wofür wird das Geld ausgegeben?
Die Reform der Schuldenbremse kann also nicht isoliert betrachtet werden. Sie ist eingebettet in die größere gesellschaftliche Auseinandersetzung darum, welche grundlegenden Weichen für die Zukunft gestellt werden sollen. Dabei ist die Unterscheidung in «konsumtive» und «investive» Ausgaben, auf denen letztlich auch die «Goldene Regel» aufbaut, nur bedingt hilfreich. So können Ausgaben, die klassischerweise zu konsumtiven Ausgaben zählen (z. B. sozialstaatliche Ausgaben), langfristig auch investiv wirken, umgekehrt können investive Ausgaben (z. B. in Autobahnen) sich langfristig als Investitionsruine erweisen und ökologisch schädlich sein. Gleichwohl wäre es ein sinnvoller erster Schritt, Investitionen aus der Schuldenbremse auszunehmen und zu einer «Goldenen Regel» zurückzukehren. Doch zeitgleich müsste darum gerungen werden, welche Investitionen als sinnvoll und zukunftsweisend angesehen werden und welche nicht.
Wie geht es mit der Schuldenbremse nach der Wahl weiter?
Trotz der enormen öffentlichen Investitionen, die in den letzten Jahren unter anderem zur Abfederung der Auswirkungen der Corona-Pandemie ab 2020 oder der Energiepreiskrise ab 2022 getätigt wurden, und trotz der massiven Aufrüstung der Bundeswehr über ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro halten die meisten Parteien grundlegend an der Schuldenbremse fest. AfD, FDP und CDU wollen durch künstlich knapp gehaltenen Finanzierungsspielraum Kürzungen im klima- und sozialpolitischen Bereich erzwingen. Daher nutzt ihnen die Schuldenbremse für ihre Politik.
Je nach Zusammensetzung der zukünftigen Regierung sind folgende realistische Szenarien denkbar:
- Keine Reform und neoliberaler Rollback: Eine schwarz-gelbe Regierung hält eisern an der Schuldenbremse fest und nutzt auch nicht diejenigen Spielräume, die die Ampel-Regierung zuletzt noch in Anspruch genommen hat, um weitere Investitionen zu tätigen. Im Kontext eines reaktionären gesellschaftlichen Klimas wird beim Sozialstaat, bei Migration und Integration sowie bei Klimapolitik stark gekürzt. Unternehmenssteuern werden drastisch gesenkt.
- Kompromiss aus Investitions- und Sparpolitik: In einer CDU-geführten Regierung mit einer geschwächten SPD oder Grünen-Partei als Koalitionspartner (eventuell noch unter Beteiligung der FDP) wird durch eine Neuberechnung der Konjunkturkomponente und gegebenenfalls geänderte Defizitregeln für die Länder geringfügig zusätzlicher Verschuldungsspielraum geschaffen. Außerdem wird ein mehr schlecht als recht ausgestatteter Investitionsfonds auf den Weg gebracht. Öffentliche Investitionen fließen teilweise in die marode Infrastruktur, ansonsten jedoch als Subventionen an spezifische Industriezweige. Kürzungen, etwa beim Bürgergeld, und die Senkung von Unternehmenssteuern um ein paar Prozentpunkte begleiten die Investitionspolitik.
- Reform der Defizitregeln: Im Kontext eines gesellschaftlichen Stimmungswandels, der sich auch in den Wahlergebnissen niederschlägt, wird nicht nur die Konjunkturkomponente reformiert, sondern auch die Grenze für die strukturelle Neuverschuldung angehoben. Begleitend wird ein öffentlicher Investitionsfonds eingerichtet. Auch in diesem Szenario fließen öffentliche Investitionen maßgeblich in militärische Ausgaben und Subventionen für spezifische Industriezweige. Kürzungspolitische Maßnahmen und eine Senkung der Unternehmenssteuern könnten auch hier im Rahmen eines Kompromisses begleitend zum Zuge kommen.
Wie können wir zu einer positiven Veränderung beitragen?
Die Schuldenbremse steht von verschiedensten Seiten in der Kritik. Das ist auch auf progressive Kämpfe in der Vergangenheit zurückzuführen. Doch eine konservative Minimalreform der Schuldenbremse, gepaart mit Steuersenkungen für Unternehmen, wäre nicht hilfreich. Deshalb kommt es darauf an, dass progressive Kräfte auf die Notwendigkeit massiver Investitionen zum sozialen und ökologisch gerechten Umbau der Industrie hinweisen. Gerade hinsichtlich einer Reform der Schuldenbremse sind die vielen Stimmen in der Zivilgesellschaft, die auf eine Reformnotwendigkeit hinweisen, hilfreich, um Druck auf die CDU aufzubauen. Auf eine größere Reform, die über die Neugestaltung der Konjunkturkomponente hinausgeht und auch die strukturellen Neuverschuldungsgrenzen erhöht, müsste die gesellschaftliche Auseinandersetzung darum folgen, wofür der zusätzliche Investitionsspielraum genutzt werden soll. Dadurch ließe sich die Wirtschafts- und Finanzpolitik weiter politisieren und progressive Positionen könnten ins Spiel gebracht werden. Eine veränderte gesellschaftliche Stimmungslage und entsprechende Mehrheitsverhältnisse könnten dann die zusätzlichen Investitionsspielräume für progressive Politikvorhaben nutzen und die Verschuldungsregeln weiter aufweichen oder sogar ganz abschaffen.
In der Argumentation für eine Reform oder Abschaffung der Schuldenbremse hilft es, auf den immensen Investitionsbedarf hinzuweisen, der vor allem durch die marode Infrastruktur (Verspätungen bei der Bahn, eingestürzte Carola-Brücke in Dresden, kaputte Schulen) ersichtlich wird. Die öffentliche Meinung steht einer Reform der Schuldenbremse teilweise skeptisch gegenüber, die Notwendigkeit öffentlicher Investitionen wird jedoch breit geteilt. Insgesamt sollte die Reformdiskussion nicht davon ablenken, dass es beim Thema Schuldenbremse um grundlegende Weichenstellungen für die Zukunft geht, und um ganz konkrete Ausgaben, die das Leben der Menschen besser machen sollen.