Vortrag und Diskussion

Dr. Sabine Kebir (Berlin): "Die Zivilgesellschaft erlernt die Staatsführung. Antonio Gramscis radikales Projekt der Aufklärung"

Veranstalter: Rosa-Luxemburg-Club Tübingen

Termin: Dienstag, 17.04.2007; 20.00 Uhr

Ort: Neue Aula, HS 6, Wilhelmstr. 7, 72074 Tübingen

Das Gelingen der Oktoberrevolution und das Scheitern der revolutionären Versuche im Gefolge des 1. Weltkriegs in Westeuropa erklärte Antonio Gramsci (1891-1937) mit der in Rußland noch kaum vorhandenen, in Westeuropa hingegen hoch entwickelten Zivilgesellschaft. Sie verfüge hier über zahlreiche ideologische und politische Mechanismen, über die damals schon auch die benachteiligten und ausgebeuteten Klassen in das kapitalistische System integriert wurden: die Ausweitung der repräsentativen Demokratie sowie die Errichtung eines hegemonialen Apparates von Bildungs- und Kulturinstitutionen. Deren Zielstellung ist nicht die Emanzipation der ausgebeuteten Klassen, sondern ihre Anpassung, um sie für eine evolutionäre Entwicklung des Kapitalismus instrumentalisierbar zu machen. Nach Gramsci bleibt der ´dressierte Gorilla` aber Mensch, der prinzipiell in der Lage ist, über seinen Zustand hinauszudenken. Er kann die bürgerliche Hegemonie schon innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft in Frage stellen und diese auch überwinden, wenn er sich mit seinesgleichen assoziiert. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß die Arbeiterbewegung nicht nur für die Universalisierung der Bildungsmöglichkeiten kämpft, sondern auch eigene, ´autonome` Bildungs- und Kulturinstitutionen schafft. Die Effizienz der Revolution maß Gramsci nicht – wie gemeinhin unterstellt – an ihrem Gewalt- und Zerstörungspotential, sondern an der nachhaltigen Umstrukturierung von dem Allgemeinwohl verpflichteten, demokratisch transparenten Institutionen.

Für Westeuropa strebte er nicht die Zerstörung, sondern die radikale Demokratisierung der bereits vorhandenen Zivilgesellschaften an. Damit knüpfte er weniger an die Oktoberrevolution an als an die Traditionen der westeuropäischen Aufklärung, die nicht nur zu den ursprünglichen Quellen des Marxismus gehörte, sondern auch die Entwicklung der westeuropäischen Arbeiterbewegung prägte. In diesem Zusammenhang ist nicht nur seine Konzeption der Arbeiterpartei wichtig, sondern auch seine Bildungs- und Kulturtheorien. Gegenüber sowohl in der Sowjetunion als auch in den westlichen Ländern vorhandenen idealistischen Ansätzen, die von einem präfabrizierten Menschenbild ausgingen, geht Gramsci immer konkret von den Erfahrungswelten der lernenden Subjekte aus. Im Unterschied zur bürgerlichen Gesellschaft, in der nur eine begrenzte Zahl ökonomisch unabhängiger Menschen frei genug ist, um die Aktivitäten der Zivilgesellschaft aktiv mit zu gestalten, stellt Gramsci das Ziel, daß alle Menschen dazu in die Lage versetzt werden müssen.

Gramscis Hoffnung, daß sich – trotz der durch Stalin bereits sichtbar gewordenen Bremsung – in der Sowjetunion eine sozialistische Zivilgesellschaft herausbilden würde, erwies sich als trügerisch. In Westeuropa ging er selbst in einer Phase zugrunde, in der der Faschismus die repräsentative Demokratie und die für die Entwicklung der Zivilgesellschaft unabdingbare Medien- und Assoziationsfreiheit abschaffte.

Die in der Konkurrenz zum Realsozialismus auch in den ehemals faschistischen Ländern nach 1945 wiedererstandene bürgerliche Zivilgesellschaft versprach bis 1989 Integration und Emanzipation aller. Seitdem konstatieren wir den Rückbau demokratischer Rechte und die zunehmende totalitäre Monopolisierung des kulturellen Lebens sowie den gravierenden Abbau der Bildungschancen. Die bürgerliche Zivilgesellschaft droht heute auf das vor dem 1. Weltkrieg erreichte Niveau zurückzufallen. Wenn die Linke hegemonial werden will, muß sie für die Umkehrung dieser Prozesse, für eine radikale Demokratisierung von Bildungs- und Kulturstandards sorgen. Damit wird nicht nur das für eine selbstregierte solidarische Gesellschaft unabdingbare höhere Bewußtsein geschaffen, sondern auch der für eine qualitative Veränderung der Gesellschaft notwendige institutionelle Wandel vorbereitet.

Sabine Kebir promovierte zum Thema “Die Kulturkonzeption Antonio Gramscis” und veröfentlichte zum Thema das Buch “Antonio Gramscis Zivilgesellschaft” (VSA-Verlag). Sie ist Lehrbeuaftragte für Philosophie an den Universitäten Frankfurt/Main und Berlin, Autorin von Sachbüchern und Belletristik, freie Publizistin in Presse, Rundfunk und Zeitschriften.



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