Dossier75 Jahre Grundgesetz
Vor dem Hintergrund der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und der Menschheitsverbrechen der Nazis beschloss der Parlamentarische Rat nicht zufällig genau am 8. Mai 1949 ein Grundgesetz. Zwei Wochen später trat es in Kraft. Die Bundesrepublik war begründet – und lebt seither auf dieser verfassungsgebenden Grundlage. Was zunächst vorläufig bis zu einer möglichen (Wieder)Vereinigung beider deutscher Staaten gedacht war, ist heute zu einer dauerhaften Verfassung Deutschlands geworden. Es gilt sie zu verteidigen gegen die vielen Spielarten autoritärer Natur. Zugleich sollten wir uns ihrer progressiven, auch unausgeschöpften Potentiale bewusst bleiben.
Verfassungen wie das Grundgesetz setzen Rechtsnormen und einen Rahmen für die demokratische politische Auseinandersetzung. Diese Rechtsnormen unterliegen teilweise einem interpretatorischen Wandel. Sie bilden sich nie buchstabengetreu in Alltagsrealitäten ab. Entsprechend sind Verstöße gegen fundamental wichtige Verfassungsnormen wie zum Beispiel in Artikel 1 («Die Würde des Menschen ist unantastbar») oder Artikel 3 («Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich») traurige Realität, doch Ansporn auch für ihre stärkere gesellschaftliche Umsetzung. Das betrifft ebenso soziale und ökonomische Bestimmungen zur Koalitionsfreiheit und damit zum Streikrecht (Artikel 9) oder zur möglichen «Vergesellschaftung» von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln (Artikel 15). Zuletzt erregte der Zusatz in Artikel 20a große Aufmerksamkeit, insofern der Staat in die Pflicht genommen wurde, «auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen» zu schützen.
Anlässlich von 75 Jahren Grundgesetz haben wir in unserem Dossier Beiträge versammelt, die sowohl den historischen Entstehungskontext des Grundgesetzes beleuchten als auch entlang einzelner Artikel in gegenwärtige politisch-gesellschaftliche Auseinandersetzungen hinein diskutieren. Nicht zuletzt bietet das Dossier Überlegungen zur «verpassten Chance», 1990 in eine gesamtdeutsche Verfassungsdiskussion einzusteigen.