Dorfbewegungen

Dorfbewegungen – landesweite zivilgesellschaftliche Form der Aktivitäten (der  selbst organisierten „Bewegung“) von Dorfgemeinschaften und der Vernetzung zwischen Dörfern, gekennzeichnet dadurch, dass dörfliche Gemeinschaften – unterhalb der kommunalen Ebene - die Geschicke ihres Dorfes in die eigenen Hände nehmen.

Die erste[1] jener Dorfbewegungen, die inzwischen in (>)  ERCA vereint sind, entstand Ende der 1970er Jahre in Finnland. Es waren insbesondere 2 Problembereiche, die Bewegung in die Dörfer brachte: Erstens die Zuspitzung sozialer Problemlagen, die vor allem durch den Rückgang der Landwirtschaft, zunehmende Arbeitslosigkeit, Einschränkungen der kommunalen Daseinsvorsorge (u. a. Zentralisierung sozialer Infrastruktur) usw. hervorgerufen wurden. Zweitens - und das war der unmittelbar auslösende Faktor – verloren viele Dörfer durch die Bildung von Großgemeinden ihre frühere kommunale Selbstständigkeit.

Aus diesen Gründen taten sich in einzelnen Dörfern lokale Akteure zusammen, um die Geschicke ihres Dorfes in die eigenen Hände zu nehmen. Aus einzelnen „Dorfaktionsgruppen“, die dadurch entstanden, wurde allmählich eine ganze Bewegung, die vor allem von NGOs und Universitäten, später auch vom Staat, gefördert wurde, indem Beispiele verallgemeinert und lokale Akteure mobilisiert wurden, auch solche Dorfaktionsgruppen zu bilden.

Heute gibt es flächendeckend und wohl in fast allen Dörfern solche Aktionsgruppen, die sich zum größten Teil inzwischen als eingetragene Vereine - „Dorfvereine“ – konstituiert haben. Sie sind regional und national zu einer „Dorfaktionsbewegung“ vereint, die den Charakter einer zivilgesellschaftlichen Organisation mit einem gewählten Vorstand trägt. Ein- bis zweijährlich finden regionale bzw. landesweite Dorftage statt, die dem Erfahrungsaustausch zwischen den Dorfvereinen / Dorfaktionsgruppen dienen.

Eine Besonderheit in Finnland besteht darin, dass mit dem Entstehen der LEADER-Initiative der EU (ursprünglich als Programm zur Förderung der ländlichen Wirtschaft) eine enge Zusammenarbeit mit der Dorfbewegung, vor allem auf regionaler Ebene.

Eine weitere Besonderheit ist, dass die Dorfbewegung inzwischen gewissermaßen „staatlich anerkannt“ wird: So arbeitet der Vorstand der Dorfbewegung neben einigen anderen NGOs in einer interministeriellen Arbeitsgruppe für den ländlichen Raum mit und die Planvorschläge der Dorfbewegung werden bei der staatlichen Planung der ländlichen Entwicklung berücksichtigt.

In den achtziger Jahren entstand - im Rahmen der vom Europaparlament 1987 ausgerufenen Europäischen Kampagne für den ländlichen Raum – in Schweden eine ähnliche Bewegung, die ebenfalls mit der Bildung von Dorfaktionsgruppen begann und sich insgesamt an den finnischen Erfahrungen orientierte. Heute gibt es in  4.400 Dörfern (die in ca. 400 Kommunen zusammen geschlossen sind), Dorfvereine bzw. Dorfaktionsgruppen.

Die schwedische Dorfbewegung nennt sich „Ganz Schweden soll leben“, was heißen soll: Nicht nur die Städte, sondern auch die Dörfer sollen leben, und nicht nur der Süden des Landes, sondern auch der extrem dünn besiedelte Norden des Landes soll leben. Sie besteht - neben den 4.400 Dorfvereinen – aus einem „Volksrat“, in dem 50 Dorfvereine und 50 NGOs vertreten sind, und einem von ihm gewählten Vorstand. Die Bewegung wird vom Staat jährlich mit etwa 1 Million EURO gefördert.

Eine von der schwedischen Bewegung entwickelte Besonderheit, die inzwischen auch andere Dorfbewegungen übernommen haben, sind die zweijährlich stattfindenden „Ländlichen Parlamente“, an denen bis zu 1.000 Vertreter aus Dörfern und zahlreiche Politiker, darunter stets  Vertreter aller Parlamentsparteien und etliche Minister, gelegentlich auch der Ministerpräsident, als Gäste teilnehmen.

Gleichfalls in den achtziger Jahren entstand in den Niederlanden eine Dorfbewegung. Ihre lokale Basis sind in den Dörfern gewählte Dorfräte; die Bewegung unterstützt die Dörfer dabei, eigene Dorfentwicklungspläne auszuarbeiten, die in die Gemeindeplanung eingehen bzw. mit dem Gemeindeplan abgestimmt werden. Seit einigen Jahren werden ebenfalls zweijährlich Ländliche Parlamente veranstaltet, an denen auch Kommunalpolitiker und Wissenschaftler teilnehmen.

Beispielhaft für die Transformationsprozesse in ehemaligen sozialistischen Ländern ist die Dorfbewegung in Estland. Sie entstand in den 90er Jahren mit starker Förderung durch die finnische und die schwedische Dorfbewegung. Sie hat von deren Erfahrungen profitiert und gehört heute zu den am besten organisierten Dorfbewegungen. Die in jedem, auch in den kleinsten Dörfern existierenden Dorfvereine sind jeweils Mitglied einer der 19 regionalen Vereinigungen, die wiederum - neben den Vertretern anderer NGOs – Mitglieder der nationalen Dorfaktionsbewegung namens „Kodukant“ (Heimstatt) sind. Die Dorfvereine arbeiten in der Regel jährlich Dorfpläne aus. Zweijährlich findet das „Ländliche Parlament der Dörfer Estlands“ statt.

Die Bewegung, in der erstaunlich viele Frauen und Jugendliche mitwirken, unterstützt die lokalen Akteure auf vielfältige Weise, unter anderem durch ein Kompetenzzentrum, das Weiterbildungskurse abhält, und durch eine enge Kooperation mit den regionalen Aktionsgruppen (LAG) der LEADER-Initiative und deren Management.

Zu den verallgemeinerungsfähigen Erfahrungen gehören typische Strukturen der Dorfbewegungen, die in einzelnen Ländern variieren oder nicht immer alle gleichermaßen ausgebildet wurden; in jedem Fall muss die Anwendungsmöglichkeit solcher Erfahrungen unter den jeweiligen nationalen und regionalen Bedingungen erprobt werden.

Zu solchen typischen Strukturen gehören u. a. folgende Elemente:

  • Lokale Organisationsformen des Zusammenwirkens bzw. der Zusammenschlüsse von Akteuren auf Dorfebene, also unterhalb der kommunalen Ebene, wie z. B. Dorfaktionsgruppen, Dorfvereine, Dorfräte, usw. Sie haben im Wesentlichen zwei Funktionen:
  • Entwicklung und Praktizieren neuer Formen der lokalen Selbstbestimmung im Dorf und der  Mitbestimmung in der Gemeinde in Bezug auf die Entwicklung des Dorfes;
  • Mobilisierung des bürgerschaftlichen Engagements der Dorfgemeinschaft / Organisierung von Projekten und Aktionen zur  Selbstgestaltung der dörflichen Lebensqualität durch weitgehende Entfaltung endogener Potenziale.
  • Regionale Formen der Kommunikation bzw. des Zusammenschlusses  (der Vernetzung) von Dorfakteuren bzw. deren lokalen Organisationsformen.
  • Landesweite Zusammenschlüsse als Bewegung oder Organisation, die der Entwicklung und landesweiten Vernetzung der Dörfer und als deren Lobby gegenüber der Politik dienen.
  • Regelmäßige regionale und landesweite Begegnungen zwischen Dörfern sowie von Dorfakteuren und Politikern (Erfahrungsaustausch, Lobbyfunktion, Stärkung des Selbstbewusstseins der Dorfakteure), z. B. als „Ländliche Parlamente“ oder „Tage der Dörfer“.

Die Dorfbewegungen haben praktisch nachgewiesen, dass das Dorf als sozialräumliche Existenzform nicht verschwindet, sondern ebenso wie die Stadt eine bleibende Rolle spielt.

Das Wesentliche der Dorfbewegungen - ihre Grundidee - ist, dass Dorfgemeinschaften in der Lage sind und dabei unterstützt werden, „die Geschicke ihres Dorfes in die eigenen Hände zu nehmen“. Die Dorfbewegungen können somit eine starke zivilgesellschaftliche Kraft darstellen, die maßgeblichen Einfluss auf die Politik im Interesse der Dörfer erlangen kann.

In manchen Ländern wurden solche Entwicklungen durch die Schaffung zentraler Institutionen eingeleitet, die in der Literatur „Ländliches Forum“ genannt werden. Meist sind sie ein informeller Zusammenschluss von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen, die mit dem ländlichen Raum und der Dorfentwicklung zu tun haben. Sie sind also nicht  – wie in den klassischen Beispielen - „bottom up“, also auf der Grundlage von Dorfaktionsgruppen oder ähnlicher Former des organisierten Zusammenwirkens von Dorfakteuren entstanden, sondern  sind zunächst „top down“ bemüht, auf die lokale Basis einzuwirken, lokale Akteure zu qualifizieren und die Selbstorganisation von Dörfern zu fördern. In manchen Ländern, wie z. B. in der Slowakei und in Ungarn, nennen sich diese zentralen Institutionen „Ländliches Parlament“ und zählen in gewisser Weise zu den Keimformen von künftigen Dorfbewegungen.



[1]   Inzwischen gibt es in 24 europäischen Ländern Dorfbewegungen bzw. ihnen ähnliche Bewegungen: Bulgarien, Dänemark, England, Estland, Finnland, Frankreich, Irland, Kroatien, Lettland, Litauen, Niederlande, Nordirland, Norwegen, Polen, Portugal, Schottland, Schweden, Slowakei, Slowenien, Ungarn, Tschechische Republik, Wales, Land Brandenburg.