Publikation Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen - GK Klassen und Sozialstruktur Die Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen 2019

Wahlnachtbericht, erster Kommentar und Daten

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Horst Kahrs,

Erschienen

September 2019

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Landtage in Brandenburg und Sachsen
Brandenburg state parliament in Potsdam. R: Saxonian state parliament in Dresden (Image: RLS)
 
Photos: Orderinchaos, CC BY-SA 4.0 and KolossosCC BY 3.0 (Wikimedia Commons)

Die Wahlen zum 7. Landtag Brandenburg und zum 7. Sächsischen Landtag am 1. September 2019 läuten einen neuen Zyklus der deutschen parlamentarischen Demokratie ein.

2014 zog die AfD erstmals in drei Länderparlamente ein, inzwischen ist sie in allen Landtagen vertreten. Am gestrigen Wahlabend mündete eine fünfjährige politische Übergangsperiode in einen neuen politischen Zyklus. War der vorherige Zyklus geprägt vom Erstaunen über das Erstarken einer Partei rechts von der Union, trotz oder wegen ihrer verschiedenen Häutungen in Richtung einer antidemokratischen, autoritär-völkischen Partei und dem Rätseln darüber, wie ihre Wähler und Wählerinnen gleichwohl am besten zurückgewonnen werden könnten, so wird der nächste Zyklus von der Erkenntnis geprägt sein, dass die parlamentarische Existenz dieser Partei von Dauer sein wird und es eine nicht unerhebliche Zahl von Bürgerinnen und Bürgern in dieser Gesellschaft gibt, die die politischen Positionen und den Stil dieser Partei gutheißen, teilen und nicht nur billigend in Kauf nehmen.
 

Der Ausgang der gestrigen Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen bestätigt einige seit den Landtagswahlen 2016 zu beobachtende Tendenzen:

  • Die Repolitisierung der gesellschaftlichen Debatten hält an, politische Themen spielen in den Alltagsgesprächen wieder eine größere Rolle. Dabei handelt es sich weniger um bestimmte Themen, sondern um gesellschaftspolitische Richtungsfragen. Wie gefährdet ist die parlamentarische Demokratie, wenn eine rechte, nationalistisch-völkische Partei erstarkt? Welche Veränderungen kommen auf den Alltag zu durch Zuwanderung, sozioökonomische Veränderungen, was bedeutet das jeweils für die widerstreitenden Vorstellungen von einer guten Gesellschaft? Kurz, es finden gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen um die Art und Weise des zukünftigen Zusammenlebens statt – und die Beteiligung an Wahlen steigt.
  • Die Zeit der Volksparteien, wie sie in der alten Bundesrepublik entstanden, ist vorbei. Das Parteiensystem hat sich verändert: Statt zwei großer Parteien und mehrere kleinere Parteien konkurrieren jetzt mehrere mittelgroße Parteien und mehrere kleinere Parteien. Dadurch wird der mögliche Wahlausgang hinsichtlich der Frage, welche Parteien die Regierung bilden werden, für die Wähler und Wählerinnen unübersichtlicher und taktische Entscheidungen schwerer. Die Orientierung an Personen, in der Regel an der Ministerpräsidentin bzw. an dem Ministerpräsidenten gewinnt an Bedeutung. Michael Kretschmer und Dietmar Woidke besaßen über die Grenzen der eigenen Parteianhänger hinaus großes Ansehen, eine Wechselstimmung gab es nicht, obwohl die Zustimmung zu ihren Parteien sank. Je näher die Frage, wer regieren soll/wird, desto stärker zogen sie ihre Parteien in den Umfragen nach oben. Es wiederholte sich ein Bild aus dem Frühjahr 2016 in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz: Der MP zog in einem Land seine Partei mit, die im anderen deutlich verlor.
  • Die Transformation des Parteiensystems führt zu schwierigen Regierungsbildungen. Spätestens nach diesen Wahlen müssen alle Parteien sich darauf einrichten, dass die altbekannten Muster der Regierungsbildung zur Ausnahme, die frühere Ausnahme zur Regel wird. Die notwendige Bildung von «ungeliebten» Koalitionen wird einerseits die öffentliche Debatte über den Charakter von Koalitionen demokratisieren, andererseits aber immer neue Nahrung für populistische Attacken gegen die »Altparteien«, die «Systemparteien« oder das «neoliberale Parteienkartell» liefern. Möglicherweise gewinnt in dem Maße, in dem die Anpassung an die neue Realität gelingt, die Rückkehr zu Koalitionswahlen an Bedeutung: Mehrere Parteien stellen ein gemeinsames Regierungsprogramm zur Wahl.
  • Die AfD hat sich im Parteiensystem als feste Größe etabliert. Die Frage, wie es andere Parteien – insbesondere die CDU – mit einer Zusammenarbeit halten werden, wird auch für die Entwicklung der AfD selbst an Bedeutung gewinnen. Die AfD steht vor der strategischen Entscheidung, den Weg der sich ständig radikalisierenden Bewegung weiter zu verfolgen oder auf Umsetzung ihrer Mandatsmacht in Regierungsmacht zu setzen. Vereinigung wie die Werte-Union oder Personen wie H.-G. Maaßen fungieren bei letzterem als Brückentechniker. Seitens der anderen Parteien wird endlich zu realisieren sein, dass es sich bei der Wahlentscheidung für die AfD nicht um bloßen (einmaligen) Protest handelte, sondern eine Abwendung von anderen Parteien, ihren Programmen und gesellschaftspolitischen Vorstellungen. Wer AfD wählt, will eine andere Gesellschaft.

Lesen Sie mehr zur Transformation des Parteiensystems im Anhang C (PDF-Download).

Die Wahlbeteiligung ist in beiden Ländern deutlich gestiegen. Alle Parteien konnten vormalige Nichtwähler (netto) mobilisieren, am stärkste gelang dies in beiden Ländern der AfD. In beiden Ländern wurden die bestehenden Regierungen abgewählt, aber die Ministerpräsidenten bestätigt. Inwieweit bei den Wahlentscheidungen für die Partei des Ministerpräsidenten taktische Überlegungen, den Aufstieg der AfD zur «stärksten Partei» zu verhindern, eine Rolle gespielt haben, wie es am Wahlabend von Seiten der Grünen und der Linkspartei angedeutet wurde, bleibt spekulativ. Denn hätte es eine solche Stimmung im größeren Umfang gegeben, dann hätte sie sich ja zunächst vor allem bei den Anhängern der CDU und der SPD auswirken müssen.

Regierungsbildung: Im Sächsischen Landtag bleiben aufgrund der Kandidaten-Beschränkung der AfD-Liste auf 30 Personen zwei der AfD zufallende Sitze unbesetzt. Für eine Regierungsmehrheit reichen 60 Sitze. Eine Fortsetzung der bisherigen CDU-SPD-Koalition ist nicht möglich, ebenso keine CDU-Grüne-Regierung. Zweierkoalitionen könnte die CDU rechnerisch nur mit der AfD oder der Linkspartei bilden, was sie ausgeschlossen hat. Daher bleibt entweder die Bildung einer Minderheitsregierung oder eine «Kenia»-Koalition.
Im Landtag Brandenburg verlieren SPD und LINKE ebenfalls ihre Regierungsmehrheit. Nur zusammen mit den Grünen können gerade noch die notwendigen 45 Mandate erreicht werden. Ebenfalls unmöglich ist eine SPD-CDU-Koalition, auch hier würden die Grünen für eine (stabile) Mehrheit benötigt. Die CDU könnte auch mit der AfD keine Regierung bilden.

Die Wahlgewinnerin ist zweifellos die AfD. Am 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen gewinnt eine völkisch-nationalistische Partei nochmals an Zustimmung. Die AfD bestätigt im Kern ihre Ergebnisse der Bundestagswahl 2017 und der Europa-Wahl 2019 in beiden Ländern. Sie schafft den Durchbruch zur «stärksten Partei», ihr nächstes Etappenziel nicht. Gelungen ist ihr in Brandenburg und Sachsen die Verschmelzung von rechtsbürgerlich-konservativen mit offen rechtsextremen, völkisch-nationalistischen Strukturen und Milieus, die dort seit Anfang der 1990er Jahre recht systematisch aufgebaut wurden. Getragen wird diese Partei von Wählern und – mit Abstrichen – Wählerinnen aus allen sozialen Schichten, einem klassen- und schichtenübergreifenden vertikalen Bündnis, wobei die Zustimmung aus den ideologischen Milieus der traditionellen Arbeitnehmerschaft, der Tradition der Facharbeit mit mittleren Qualifikationen, überdurchschnittlich ausfällt. Sie fand unter erwerbstätigen (männlichen) Personen besonders starke Zustimmung, ebenso im Braunkohlerevier der Lausitz und in Wahlkreisen mit schrumpfender Einwohnerzahl. Die Wähler der AfD geben eine hohe ideologische Übereinstimmung mit zentralen AfD-Positionen (Zuwanderung, Islam, Kriminalität) zu Protokoll, wissen um deren rechtsextreme Positionen, von denen ein Drittel bis die Hälfte sagen, eine größere Abgrenzung wäre nötig und wollen ihre Meinung äußern können, ohne dafür kritisiert, etikettiert oder zurückgewiesen zu werden.

DIE LINKE ist die Verliererin des Wahlabends. Sie verliert Stimmen in alle Richtungen. Sowohl als Regierungs- wie als Oppositionspartei schrumpft sie gleichmäßig auf rund ein Zehntel der Stimmen, womit sie das Ergebnis der Europawahl nochmals unterschreitet. Langjährige Diskussionen, welche Rolle der Partei besser zu Gesicht stände, erwiesen sich als wenig zielführend. Vordergründig haben die Versuche, sich wieder stärker auf die ländlichen Regionen auszurichten (Sachsen) oder in der Regierungsrolle eine Verjüngung der Partei durchzuführen (Brandenburg), nicht zu den kurzfristig erhofften Erfolgen geführt. Tatsächlich liegen die Probleme tiefer: Die Folgen der Altersstruktur der Mitgliedschaft und Wählerschaft wirken stärker, die Jahrgänge der 1989 etwa 15 - 35-Jährigen, die heute in der zweiten Hälfte ihres Erwerbslebens stehen, waren traditionell schwach vertreten, so dass hier wichtige Bindungen fehlen, die zwischenzeitlich überdurchschnittliche Zustimmung unter Jüngeren ist nicht mehr zu beobachten. Schließlich haben die jüngeren Auseinandersetzungen innerhalb der Partei zu einem neuen, eher lähmenden Konflikt geführt, der auch in der Außendarstellung wahrnehmbar ist: Ob sich eine linke Partei vor allem als Anwalt der «Armen und Schwachen» in der Gesellschaft verstehen müsse oder (!) als entschiedene Verfechterin von «Menschheitsfragen» (wie dem Klimawandel und seinen Folgen). Stärke der Linken waren immer Phasen, in denen verteilungspolitische Fragen mit den politischen Leidenschaften für eine bessere, gerechtere Gesellschaft als greifbarer Vision verbunden werden konnten. Diese «programmatische« Lücke» teilen sich DIE LINKE und die SPD; eine programmatische Erneuerung, neue Ideen bei den Antworten auf die großen Zukunftsfragen scheinen unausweichlich.

Die CDU zählt ebenfalls zu den Wahlverlierern. Sie bekommt in beiden Ländern ihr schlechtestes Ergebnis bei einer Landtagswahl. Die neue Parteiführung ist geschwächt, die Frage, wie die Auseinandersetzung mit der AfD zu führen sein wird, wird nochmals an Bedeutung gewinnen.

Die SPD schneidet in beiden Ländern ebenfalls so schlecht ab wie nie zuvor, sie fährt in Sachsen das schlechteste Ergebnis bei einer Landtagswahl überhaupt ein. Wie bei anderen Parteien auch mag dabei die bundespolitische «Performanz» - Bleibt man in der GroKo, wie sieht die neue Parteiführung und der Kurs der Partei aus? – eine Rolle gespielt haben.

Die Grünen bleiben hinter ihren Umfragewerten zurück. Allerdings werden sie als ausgewiesene Westpartei in Brandenburg erstmals zweistellig in den Landtag gewählt. Als Gegenpol zur AfD können sie sich in beiden Ländern nicht profilieren. Sie wird vor allem gewählt von Menschen, denen die Klimafrage am Herzen liegt. Unter jungen Wählerinnen und Wählern und höher Gebildeten ist sie besonders stark. In beiden Ländern besteht die Aussicht, in Koalitionsverhandlungen und Regierungsverantwortung einzutreten.
 

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