Publikation International / Transnational - Krieg / Frieden - Westasien - Libanon / Syrien / Irak - Türkei - Westasien im Fokus Syrien: Türkische Invasion oder Abkommen mit Damaskus?

Seit der US-Abzugsentscheidung hat sich das Ringen um Nord- und Ostsyrien zugespitzt

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Axel Gehring,

Erschienen

April 2019

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Ein Mann winkt US-Militärfahrzeugen, die in der Stadt Darbasiya (Nordwesten von Syrien) an der türkischen Grenze patroullieren.
US-Militärfahrzeug in Darbasiya (Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien) an der türkischen Grenze. REUTERS / Rodi Said

Adana-Abkommen könnte Schlüsselrolle spielen

Die Ankündigung des US-Präsidenten Donald Trump, das US-Truppenkontingent rasch aus Syrien abzuziehen, traf am 19. Dezember 2018 sämtliche Akteure und Interventionsmächte in der Region unerwartet – obwohl bekannt war, dass das Weiße Haus seit Monaten gegen den Widerstand des Pentagons und des Außenministeriums auf einen solchen Abzug gedrängt hatte. Zunächst schien es, als könnte die Türkei den größten Nutzen aus dieser neuen Situation ziehen. Tatsächlich aber musste die türkische Regierung empfindliche diplomatische Niederlagen einstecken. Allerdings läuft alles darauf hinaus, dass das autonome Gebiet Rojava, also die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien, künftig fester in den syrischen Staat integriert wird. Das von Russland eingebrachte Adana-Abkommen [von 1998; erlaubte der Türkei «bei Bedrohung» syrisches Territorium zu betreten und erzwang den Abzug der PKK aus Syrien — Anm. d. Red.] spielt in diesem Prozess unter neuen Vorzeichen eine wichtige Rolle. Derweil versucht die US-Außenpolitik in Nord- und Ostsyrien ihren diplomatischen Einfluss zurückzugewinnen indem sie Druck auf die dortigen kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen ausübt.

Neue Ausgangslage nach US-Abzugsentscheidung

Mit der US-Entscheidung stand (und steht) zu befürchten, dass die Türkei in die nach einem Rückzug der USA schutzlosen Gebiete in Nordostsyrien einmarschieren würde. Anfang 2018 hatte die Türkei eine Militäroffensive in der Region Afrin gestartet, nachdem Russland den Luftraum für türkische Einsätze «freigegeben» hatte. Allerdings unterscheidet sich die damalige Situation nicht nur in militärischer Hinsicht deutlich von der heutigen.

Entgegen landläufiger Vermutungen war das türkische Militär Ende 2018 in keiner Weise darauf vorbereitet, östlich des Euphrat in Rojava (Nordsyrien) in größerem Umfang selbst militärisch initiativ zu werden. Eine Invasion mit eigenen Streitkräften sowie verbündeten islamistischen und dschihadistischen Kräften bedarf einer monatelangen logistischen und auch diplomatischen Vorbereitung – um den militärischen Erfolg und den Zusammenhalt eines solchen fragilen Bündnisses sicherstellen zu können. Die Region ist zudem weit größer als Afrin, dessen zivile Infrastrukturen einem konzentrierten und kriegsentscheidenden Bombardement ausgesetzt wurden. So wurde der lokal begrenzte Afrin-Krieg im Frühjahr 2018 mit verhältnismäßig wenig Bodentruppen ausgeführt, band aber erhebliche Teile der türkischen Luftwaffe. In den weiträumigeren Gebieten östlich des Euphrats ist eine derartige Strategie nur bedingt wiederholbar. Neben den höheren militärischen Erfordernissen einer erneuten Offensive ist heute auch die diplomatische Ausgangslage für die Türkei heute eine andere, sie ergibt sich wesentlich aus dem Kriegsverlauf des letztes Jahres: Syrische Regierungstruppen befanden sich Anfang 2018 im Kampf um den südlichen Teil von Idlib sowie um Ost-Ghouta. Beide Operationen banden erhebliche Kräfte – in diesem Kontext war ein Abzug dschihadistischer Kämpfer von dort und deren Beteiligung an der türkischen Afrin-Offensive durchaus im taktischen Interesse des Baath-Regimes. Die Unterstützung der kurdischen Selbstverteidigungskräfte bei der Abwehr der Invasion blieb folglich auf ein paar hundert Milizionäre begrenzt. Die ermöglicht der syrischen Regierung (unterstützt von Russland) zu Anfang des Jahres 2019 einen deutlich resoluteren Anspruch auf jene nordsyrischen Gebiete zu erheben, die seit der US-Abzugsentscheidung von einer türkischen Invasion bedroht sind. Die diplomatische Abwehr der türkischen Invasionsbestrebungen und die de facto Wiedereingliederung des Gebiets in den syrischen Staat werden synchron betrieben. Die syrischen Regierungstruppen und deren Verbündete konnten im letzten Jahr große Geländegewinne erzielen und sich auch im urbanen Raum in heftigen Kämpfen gegen ihre Widersacher durchsetzen. Jedoch waren sie gerade durch diese Kampagnen Anfang 2018 ausgelaugt. Und ohnehin existiert die syrische Armee schon lange nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form: Tendenzen der Tribalisierung und der Milizenbildung gab es eben auch aufseiten dieser Konfliktpartei, und es ist ein offenes Geheimnis, dass die syrische Armee nur dank massiver russischer Luftunterstützung den Krieg für sich entscheiden konnte.

Die Fragilität der Verhältnisse in der Endphase des seit 2011 währenden syrischen Bürger- und internationalen Stellvertreterkrieges lässt sich daher nicht auf die einfache Formel bringen, das Regime habe die Opposition besiegt und schicke sich nun an, direkt die Kontrolle über den Norden des Landes zu übernehmen. Ebenso war der landläufig befürchtete rasche türkische, ebenso wie ein rascher syrischer Vorstoß in die Gebiete östlich des Euphrat im direkten Anschluss an die US-Abzugsentscheidung unwahrscheinlich. Symbolisch wurde die Frage einer Invasion zunächst westlich des Euphrat, um die Stadt Manbij herum, ausgefochten: Dort hatte Ankara genügend Truppen zusammengezogen, um angreifen zu können. In Abstimmung mit dem lokalen Rat von Manbij patrouillieren seit Anfang Januar syrische und russische Truppen entlang der Demarkationslinie vor Manbij.

Von der Invasion zur Sicherheitszone?

Derweil scheint es, als würde sich der diplomatische Prozess mehr und mehr der Einflussnahme der US-Außenpolitik zu entziehen. Nachdem Präsident Trump Ende Dezember 2018 zunächst seine Abzugsentscheidung in erheblichen Teilen wieder revidiert hatte, indem er nur noch einen langsamen Abzug in Aussicht stellte und sich so den Positionen von Außenministerium und Pentagon annäherte, verkündete er am 13. Januar 2019 dann doch den Beginn des US-Abzugs, drohte aber zugleich der Türkei mit «ökonomischer Zerstörung», falls sie «gegen die Kurden zuschlage». Im selben Tweet stellte er zudem die Schaffung einer 20-Meilen-Sicherheitszone in Aussicht. Einen Tag später warnte er wiederum «die Kurden» davor, die Türkei zu provozieren. Während die Frage der konkreten Ausgestaltung der Sicherheitszone (Wer soll dort in wessen Interesse wen wie beschützen?) seitens höchster US-Stellen weitestgehend unbeantwortet blieb, nutze der türkische Präsident die Gelegenheit, den Begriff mit Leben zu füllen: Die Zone solle nicht etwa syrisches Grenzgebiet vor einer türkischen Invasion schützen, sondern vielmehr die kurdische Bevölkerung vor der YPG – den Volksverteidigungseinheiten. Obwohl nicht durch die Worte des US-Präsidenten gedeckt, versuchte die Türkei, die Zone als weiteren Invasionsvorwand zu instrumentalisieren, während gleichzeitig der dafür notwendige Aufmarsch bei Weitem nicht abgeschlossen war.

Die russische Reaktion kam prompt: Eine derartige Zone könne es nur unter Zustimmung und bei gemeinsamer Abstimmung mit der syrischen Regierung geben. Diplomatisch unterschied sich im Januar 2018 die Lage östlich des Euphrat also von jener in Afrin ein Jahr zuvor. Jedoch sorgte die wachsende Präsenz des Al-Quaida-Ablegers Hayat Tahrir Al Sham (HTS) in der unter türkischer Observation stehenden nordwestsyrischen Provinz Idlib für Spekulationen über einen alsbaldigen Angriff syrischer Truppen mit russisch-iranischer Unterstützung. Denn von den Astana-Vereinbarungen, in denen sich Russland, der Iran und die Türkei im Mai 2017 auf die Schaffung sogenannter Deeskalationszonen verständigt hatten, sind dschihadistische Gruppen, wie HTS, ausdrücklich ausgenommen. Befürchtet wurde, dass ein Angriff auf Idlib zum teilweisen Abzug dschihadistischer Kräfte und zu deren Beteiligung an einer türkischen Offensive gegen die kurdischen Autonomiestrukturen führen würde – ähnlich wie von Ghouta nach Afrin während des Afrin-Krieges. Ebenso stand die Möglichkeit eines expliziten russisch-türkischen Deals im Raum, der auf eine Wiedereingliederung Idlibs in den syrischen Staat bei gleichzeitiger Akzeptanz einer türkischen Sicherheitszone im Norden des Landes abzielen würde.

Von der Sicherheitszone zum Adana-Abkommen

Derartige Spekulationen übersahen jedoch eine wichtige Frage: Warum sollte sich Damaskus mit Ankara auf eine De-facto-Abtretung erheblicher Teile des eigenen Territoriums im Norden Syriens einlassen, wenn das Regime doch mittelfristig die Kontrolle über das ganze Land anstrebt und seine Position im Verlauf des Jahres 2018 weiter konsolidieren konnte? Tatsächlich beschleunigte die türkische Invasionsdrohung den ohnehin anstehenden Verhandlungsprozess zwischen der syrischen Regierung und der kurdischen Autonomieverwaltung über die Ausgestaltung der Nachkriegsordnung. Welche der beiden Seiten dabei wie viel durchsetzen kann, hängt wesentlich von den im stetigen Fluss befindlichen Kräfteverhältnisse ab: Aufgrund der türkischen Invasionsdrohung besteht für beide Parteien das Interesse an einer raschen Einung. Während es für die kurdische Seite riskant ist, mit Maximalforderungen in puncto Autonomierechte die Übereinkunft mit der syrischen Regierung zu gefährden, weiß Letztere, dass Zugeständnisse in diesem Punkt notwendig sind, insofern die rasche Herstellung der Souveränität über die Gebiete nordöstlich des Euphrats letztlich das wirksamste Mittel ist, eine türkische Invasion abzuwenden.

Indes laufen schon seit Längerem Verhandlungen zwischen der kurdischen Autonomieverwaltung, das heißt der Autonomen Administration Nord- und Ostsyrien, und der Zentralregierung in Damaskus über die Gestaltung der Nachkriegsordnung im Nordosten des Landes. Nicht zufällig wurden vor dem Hintergrund der türkischen Invasionsdrohung Mitte Januar 2019 einige Punkte des kurdischen Angebots an die Zentralregierung in Damaskus bekanntgegeben: Sie umfassen unter anderem den «Schutz der Souveränität des Staates Syrien» und die Bildung einer «Demokratischen Republik», zu der die Autonome Administration als ein Teil gehört.

Darüber hinaus sieht das kurdische Angebot vor:

  • die Repräsentanten der Autonomen Administration sollen Teil der Nationalversammlung werden;
  • die Flagge der Autonomen Administration soll gemeinsam mit der Nationalflagge Syriens gehisst werden;
  • der Autonomen Administration soll es gestattet sein, eigene diplomatische Beziehungen zu halten, solange sie im Einklang mit den Interessen des Nationalstaats Syriens und der Verfassung stehen;
  • die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) sollen in das nationale Heer Syriens integriert werden und einen Teil des Grenzschutzes bilden;
  • interne Sicherheitskräfte sollen unter der Kontrolle der Regionalversammlungen im Autonomen Gebiet stehen;
  • in den syrischen Regionen der Autonomen Administration soll die Muttersprache als Bildungssprache etabliert werden, während Arabisch als Amtssprache beibehalten werden soll;
  • es sollen Fakultäten für Geschichte, Kultur, Sprache, Literatur und weitere Fachrichtungen eingerichtet werden, an denen in der jeweiligen Regionalsprache unterrichtet werden soll;
  • alle natürlichen Ressourcen sollen «gerecht und gleich» über das ganze Land verteilt werden.

Ob und welche Teile dieser Vorschläge Gesetzeskraft erlangen werden (mit weiteren kurdischen Konzessionen ist zu rechnen), hängt nun wesentlich vom Fortgang der Verhandlungen und vor allem der Entwicklung der Kräfteverhältnisse ab.

Am 23. Januar 2019, wenige Tage nach dem Bekanntwerden dieses Angebots, trafen sich der türkische und der russische Präsident im Kreml. Während es der türkischen Delegation nicht gelang, Russland von einer türkischen 20-Meilen-Sicherheitszone in Nordsyrien zu überzeugen, brachte die russische Seite das Adana-Abkommen von 1998 als Rahmen für die Konfliktregelung auf die Agenda. Das Abkommen war 1998 von der Türkei und Syrien vor dem Hintergrund einer türkischen Kriegsdrohung unterzeichnet worden. Grund für die Kriegsdrohung waren die Aktivitäten der PKK in Syrien, die seit 1979 von Syrien aus agierte. Das Abkommen bildete die Grundlage für die Ausweisung Abdullah Öcalans aus Syrien im Oktober 1998 und die Zerschlagung der PKK-Strukturen in Syrien. Die syrische Regierung stufte die PKK als Terrororganisation ein und erklärte, keine Aktivitäten zuzulassen, die sich von syrischem Boden aus gegen die Sicherheit und Stabilität der Türkei richten, und ein Monitoring über die Einhaltung dieser Vereinbarung einzurichten. So konnte ein türkischer Angriff auf diplomatischem Wege abgewendet werden.

Adana – eine türkische Niederlage?

Wichtig im heutigen Kontext ist die Tatsache, dass nicht etwa die türkische, sondern die russische Regierung das Adana-Abkommen im Januar 2019 in den diplomatischen Prozess einbrachte – als Alternative zu den Verschlägen der US-Regierung, eine Sicherheitszone einzurichten. Sowohl die USA als auch Russland haben auf diesem Weg die türkischen Ambitionen Schritt für Schritt zurechtgestutzt, während die Türkei aus der US-Abzugsentscheidung bislang keinen unmittelbaren Nutzen ziehen konnte, weil sie zu einer unmittelbaren Invasion in Nordsyrien militärisch nicht in der Lage war.

Doch inwieweit hat das russische Insistieren auf der Anwendung des Adana-Abkommens die türkischen Ambitionen nun genau eingehegt? Nach dem Treffen in Moskau versuchte die türkische Regierung, die Ergebnisse als Erfolg zu verkaufen, indem sie sich selbst aktiv hinter das Adana-Abkommen stellte und behauptete, es erlaube türkische Angriffe gegen die kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen sowie ihre militärischen Arme YPG und YPJ. Das ist allerdings nicht der Fall. Es handelt sich vielmehr um ein Abkommen zwischen zwei souveränen Völkerrechtsubjekten (Türkei und Syrien) und beinhaltet, obwohl 1998 unter türkischer Kriegsdrohung ausgehandelt, keine Souveränitätsabtretung. Ein türkisches Invasionsrecht (und damit eine besonders schwerwiegende Form der Souveränitätsbeschneidung) ergibt sich aus dem Abkommen nicht.

Der Versuch Ankaras, das Abkommen für sich zu instrumentalisieren – anstatt eine diplomatische Niederlage in Moskau offen einzugestehen und die handfesten Divergenzen mit Russland beim Namen zu nennen – kann sich als folgenschwerer Bumerang erweisen. Auch wenn jetzt darüber debattiert werden kann, inwieweit es sich bei der PYD, der YPG und der YPJ de facto um Extensionen der PKK handelt, so macht der laufende Verhandlungsprozess zwischen der Autonomen Administration Nord- und Ostsyrien und der syrischen Zentralregierung die Aufrechterhaltung dieser Interpretation zunehmend schwierig: Zwar ist momentan wenig Detailliertes über den Verhandlungsprozess bekannt, es dürfte aber klar sein, dass sich beide Seiten wohl kaum auf eine Ausweitung der kurdischen Autonomie einigen werden – über das ohnehin von der Autonomen Administration vorgeschlagene Maß hinaus. Und bereits jetzt sehen die kurdischen Vorschläge (siehe oben) vor, dass sich die lokalen Selbstverwaltungsstrukturen als ein integraler Bestandteil der syrischen staatlichen Souveränität konstituieren. Sie könnten nicht mehr ohne weiteres als Extensionen der PKK definiert werden und fielen damit nicht unter die Bestimmungen des Adana-Abkommens, sondern wären Teil des staatlichen Institutionengefüges Syriens. Zugleich würde damit der Einfluss von Damaskus erheblich gestärkt. Der russischen Regierung dürfte das bewusst gewesen sein, ehe sie Ende Januar in Moskau auf die Anwendung des Adana-Abkommens als Rahmen der Konfliktregelung bestand.

Die diplomatische Konstellation in Bezug auf die Gebiete nordöstlich des Euphrats ist zu Beginn des Jahres 2019 kaum mehr mit der von Anfang 2018 zu vergleichen, als nicht nur Russland, sondern auch die USA der türkischen Invasion in Afrin fast keinen Widerstand entgegensetzen. Ein wichtiges damaliges Ziel hat Russland im Verlauf des Jahres 2018 erreichen können: Die engere Bindung der kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen an Damaskus, die sich im laufenden Verhandlungsprozess zwischen der Autonomen Administration Nord- und Ostsyrien und der Zentralregierung in Damaskus manifestiert. Der russische Rekurs auf das Adana-Abkommen verhält sich im Wesentlichen komplementär dazu: Der türkische Präsident, der «nicht mit dem syrischen Diktator» verhandeln möchte, wird durch das – einst unter ganz anderen Umständen ausgehandelte – Adana-Abkommen dazu gezwungen, die syrische Souveränität über Nordsyrien anzuerkennen. Derweil gestattet die ernste kurdische Sorge über eine türkische Invasion – denn die Tatsache, dass Ankara im Januar seinen Aufmarsch noch nicht abgeschlossen hatte, bedeutet keineswegs, dass die militärische Bedrohung dauerhaft gebannt ist – Moskau eine erhebliche indirekte Definitionsmacht über die Rahmenbedingungen kurdischer Autonomie innerhalb des syrischen Nationalstaates.

Dennoch lassen sich die Verhandlungen zwischen der Autonomen Administration Nord- und Ostsyrien und der syrischen Regierung nicht auf das schlichte Narrativ einer kurdischen Kapitulation gegenüber dem Baath-Regime reduzieren. Denn: Noch ist der Bürgerkrieg nicht beendet und die türkische Invasionsdrohung nicht komplett abgewendet; zudem kann Damaskus nicht beliebig Truppen aus der Region um Idlib Richtung Rojava/Nordsyrien abziehen, denn die repressive Befriedung der im Laufe der Jahre 2017 und 2018 rückeroberten Landesteile ist fragil. Diese temporäre Schwäche der Zentralregierung kann die kurdische Seite zurzeit bei den Verhandlungen über die Zukunft ihrer Autonomie auf ihrer Habenseite verbuchen.

Die Autonomiebestrebungen werden indes durch die US-Abzugsankündigung schwer belastet: Denn der politische Spielraum wird auf der kurdischen Seite wesentlich durch die Vielzahl an diplomatischen Optionen begründet. Die Einschränkung dieses Spielraums zeigt sich bereits in den umfassenden Zugeständnissen, die in den gegenwärtigen Verhandlungen gegenüber Damaskus gemacht wurden. Während mit der Herausbildung der Nachkriegsordnung auch die Reintegration Syriens in die globale kapitalistische Ordnung ansteht, bleiben damit verbundene weitgehend ungeklärt: Wie werden sich zum Beispiel in Rojava alternative Produktionsverhältnisse oder auch nur die Modifikation von Eigentumsverhältnissen innerhalb der neuen Ordnung organisieren lassen? Derweil zeichnet sich langsam ab, welche Kräfteverhältnisse sich zwischen Akteuren festschreiben. Auch wenn noch nicht absehbar ist, wie Damaskus auf die kurdischen Vorschläge reagieren wird: Die türkische Invasionsdrohung kam womöglich noch gerade rechtzeitig, denn je mehr sich die Herrschaft von Damaskus in den restlichen Teilen des Landes konsolidiert, desto schwerer wird der Stand der kurdischen Autonomieverwaltung in den Verhandlungen mit Damaskus – und desto größer sind die Konzessionen, die sie machen müssen. Ein rascher Vertragsabschluss ist tendenziell im kurdischen Interesse, denn die Kräfteverhältnisse verschieben sich mehr und mehr zu ihren Ungunsten. Die türkische Invasionsdrohung hat daher, wohl ungewollt, auch in Damaskus das Interesse an einem raschen Vertragsabschluss gesteigert.

Dies gilt auch für die jüngsten diplomatischen Winkelzüge der US-Regierung: Um jenen Einfluss in Nord- und Ost-Syrien zurückzugewinnen, der seit der US-Abzugsankündigung im Schwinden begriffen ist, werden die Einheiten der SDF und YPG/YPJ einerseits weiterhin mit US-Nachschub versorgt und ein kleines US-Truppenkontingent soll verbleiben. Zugleich erhöhen die USA den Druck auf die kurdischen Autonomiestrukturen. Dem Vernehmen nach sollen kurdische Angehörige der SDF die YPG auf US-Wunsch verlassen und durch «lokale» arabische Kräfte ersetzt werden – ein Modell, wie es bereits westlich des Euphrat in Manbij praktiziert wird. Ebenso ist aus US-Sicht die Einrichtung einer Sicherheitszone noch nicht vom Tisch. Und die türkische Regierung dient sich erneut an diese «einzurichten». Während der türkische Verteidigungsminister vor kurzem ein Einsatzführungszentrum nahe der Grenze eröffnete, erneuerte Präsident Erdoğan in der Nacht der Kommunalwahlen seine Invasionsdrohung. Es ist fraglich, inwieweit das US-Bemühen die kurdischen Autonomiestrukturen und die Türkei zu einer einvernehmlichen Einrichtung einer «Sicherheitszone» zu überreden, Erfolg haben wird. Die Neuinterpretation des Adana-Abkommens als Vorstufe zur Inkorporation der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien in den syrischen Nationalstaat und die Einrichtung einer «Sicherheitszone» sind folglich als zwei konkurrierende Konzepte zu begreifen. Je stärker der Druck auf den kurdischen Autonomiestrukturen lastet, zu desto mehr Konzessionen an Damaskus dürften sie geneigt sein und wahrscheinlich die Neuinterpretation des Adana-Abkommens – wenngleich unter anderem Namen – als das kleinere Übel betrachten. Entgegen der US-Intention dürfte der US-Einfluss damit weiter sinken.