Publikation Europa - Westeuropa - Europa global Die Deutsche EU-Ratspräsidentschaft

Eine Herausforderung für die Linke in Deutschland

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Reihe

Online-Publ.

Autorin

Judith Dellheim,

Erschienen

Januar 2020

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Nur online verfügbar

Europagebäude in Brüssel: Sitz des Rates der Europäischen Union
Sitz des Rates der Europäischen Union: das Europagebäude in Brüssel CC BY-SA 4.0, Samynandpartners, via Wikimedia Commons

Die Erinnerung an die deutsche Ratspräsidentschaft 1999, mit der die militärische Dimension der EU enorm wuchs, und an die von 2007, bei der es um den EU-Verfassungsvertrag ging, belegt: Die Überschrift ist keine Floskel. Der folgende Beitrag will daher zunächst kurz eine EU-Ratspräsidentschaft vorstellen und dann über den gegenwärtigen Diskussionsstand zum deutschen EU-Vorsitz informieren. Abschließend will er einige Vorschläge für die Linken in unserem Land unterbreiten.

Judith Dellheim ist Referentin für Solidarische Ökonomie im Institut für Gesellschaftsanlayse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Die «Spielregel»

Am 1. Juli 2020 tritt turnusgemäß Deutschland für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft an. Zuvor hat es im Rahmen des NATO-Großmanövers Defender gewaltige militärische Ressourcen bewegt und Russland gedroht. Ab dem 1. Juli bildet die Bundesrepublik gleichzeitig gemeinsam mit Portugal und Slowenien die Trio-Präsidentschaft, denn Portugal wird von Deutschland die Präsidentschaft übernehmen und sie dann an Slowenien weitergeben. Diese drei Länder formulieren kollektiv die Ziele und das Programm für die Arbeit des Rates für die nächsten einundeinhalb Jahre. Im Kontext damit erarbeitet jedes Land ein konkretes Sechsmonatsprogramm für den eigenen EU-Vorsitz. Die drei wichtigsten Aufgaben einer Ratspräsidentschaft sind:

  • Die Treffen des Rates der Europäischen Union und der ca. 200 Arbeitsgruppen und Ausschüsse federführend vorzubereiten, zu moderieren und auszuwerten; hier kommen die jeweiligen Fachminister*innen der Mitgliedsstaaten zu verschiedenen Themen zusammen. Die Fachminister*innen entscheiden über die Gesetzentwürfe der Europäischen Kommission. Der Ministerrat und das Europäische Parlament müssen den Vorschlägen zustimmen damit sie als Gesetz wirksam werden.
  • Die Mitgliedstaaten gegenüber den anderen EU-Institutionen zu vertreten; das sind in erster Linie die Europäische Kommission und das Europäischen Parlament.
  • Gemeinsam mit der Europäischen Kommission die EU auf der internationalen Ebene, so z. B. bei UN-Verhandlungen, zu repräsentieren.

Wie jedes andere Land, das die Ratspräsidentschaft innehat, wird auch Deutschland für die Zeit seiner Ratspräsidentschaft ein Logo führen. Für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sind 161 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt, aber kein Sponsoring vorgesehen.

Zum Stand der Debatte über die Prioritäten und Inhalte des Deutschen EU-Vorsitzes

Am 25. Januar 2020 lag seitens der Bundesregierung noch immer kein Entwurf für ihr Arbeitsprogramm vor. Die GRÜNEN und die LINKEN im Deutschen Bundestag hatten das kritisiert. Die Chef*innen der Bundesländer hatten sich bereits während ihrer Tagung vom Oktober 2019 auf «inhaltliche Anliegen der Länder an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2020» verständigt und erklärt: «Die Bürgerinnen und Bürger brauchen wieder eine klare Orientierung, in welche Richtung sich die EU in Zukunft entwickeln soll … Die Länder unterstützen daher den Vorschlag einer Konferenz zur Zukunft Europas, in der die Bürgerinnen und Bürger gehört werden.» Die Länderchef*innen sprechen sich «für die Achtung ihrer Zuständigkeiten und die weitere Stärkung der Partizipations- und Informationsmöglichkeiten der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften in Europa aus. Das betrifft die Vertiefung des politischen Dialogs ebenso wie die Einbeziehung des Ausschusses der Regionen und die Stärkung der Stellung der Landes- und Regionalvertretungen in Brüssel. Ferner würden «erweiterte Folgenabschätzungen zu den regionalen, territorialen und grenzübergreifenden Auswirkungen» den nationalen und regionalen Parlamenten ihre Arbeit erleichtern. Die Länder bitten die Bundesregierung, im Programm der Ratspräsidentschaft «den regionalen Dimensionen des Strukturwandels Rechnung zu tragen und der Stärkung des Zusammenhalts der EU besondere Bedeutung beizumessen.» (Im PDF S. 4 – 5). Da eine zukunftsfähige Industriepolitik weiterhin auf kleine und mittlere Unternehmen basiere, sollten diese neu definiert werden. Fragen aber wirft zum einen das angestrebte Verhältnis von Subsidarität zu Solidarität auf, zum anderen die Forderung, «die internationale Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver und außenhandelsabhängiger Wirtschaftszweige sicherzustellen. Die Zukunft der Mobilität muss technologieoffen angegangen werden.» (Im PDF S. 10) Wie geht das zusammen mit drastischer Reduktion von CO2-Emissionen? Der Fokus der «Landesfürsten» auf die innere Sicherheit ist ambivalent. Sie scheint als Bekämpfung von primär ausländischer Kriminalität verstanden zu werden. Flucht und Migration werden zumindest tendenziell mit Verbrechen verbunden. Innovativ denkt man hingegen zur grenzübergreifenden, transnationalen und interregionalen Zusammenarbeit. «Die Länder begrüßen, dass im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft eine neue EU-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt (Leipzig Charta 2.0) verabschiedet werden soll.» (Im PDF S. 10) Sie wollen in die Erarbeitung einbezogen werden und fordern die Bundesregierung auf, «den Kampf gegen Antisemitismus zu einem Schwerpunktthema in der EU-Ratspräsidentschaft zu machen. Auf EU-Ebene sollte Deutschland im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft den Aktionsplan gegen Desinformation und zur Förderung der europäischen Vernetzung von Akteuren im Medienbildungs- und Kindermedienbereich gezielt vorantreiben, auch im Hinblick auf die digitale Radikalisierung. Darüber hinaus sollte die Bundesregierung die Mitgliedstaaten ermutigen, die Möglichkeiten zur Förderung durch europäische Fonds und Programme, insbesondere durch das Programm ‹Kreatives Europa›, vor allem zum Zwecke der Film- und Medienbildung wahrzunehmen und diese zu nutzen.» (Im PDF S. 12) Auch hier wollen die Länder relevant mitwirken. Mit Blick auf die UN-Klimaverhandlungen und die Weltbiodiversitätskonferenz erwarten sie von der Bundesregierung ergebnisorientiertes Engagement, was allerdings auch als Wirtschaftsfaktor verstanden wird. Dabei aber wird übersehen, dass «nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand» (Im PDF S. 13) in den herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen nicht sozial und ökologisch nachhaltig, solidarisch und gerecht sein können.

Abschließend bitten die Länder die Bundesregierung, «selbstbewusst und mit angemessenen finanziellen Ressourcen den Erwerb und die Verwendung der deutschen Sprache durch die Europäischen Institutionen zu fördern.» (Im PDF S. 14)

Etwa zeitgleich äußerte sich der ständige Vertreter der Bundesrepublik bei der EU Michael Clauß zu den Schwerpunkten der bevorstehenden Ratspräsidentschaft. Er nannte zuerst die weitere Entwicklung der «europäisch-britischen Beziehungen», die Verhandlung eines Freihandelsabkommens zwischen ihnen sowie ihre Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik. Sollten die Verhandlungen zum mehrjährigen Finanzrahmen noch bis zum 1. Juli anhalten, wären auch sie eine vorrangige Priorität. Da gehe es insbesondere um die Höhe des Haushalts, die Verknüpfung der Kohäsionsfonds mit Kriterien der Rechtsstaatlichkeit, den Einsatz der Gelder für den Klimaschutz und die Zukunftsfragen der EU. Das seien wiederum Klima, künstliche Intelligenz, Migration und die Rolle der EU in Europa und der Welt. Nachdem die Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien nicht eröffnet wurden, müsse nach der internationalen Handlungsfähigkeit und der EU-Nachbarschaftspolitik gefragt werden. Da China eine weltweit führende Wirtschaftsmacht geworden sei, spielten eine neue europäische Industriepolitik und der Schutz von Kerntechnologien eine zunehmend große Rolle. Angesichts der protektionistischen Politik der USA sei die EU zu «Sanktionsresilienz» gefordert. Das alles sieht Außenminister Heiko Maas genauso und kündigte für September einen EU-China-Gipfel an, wo die EU mit einer Stimme sprechen müsse. «Auch in den Krisen in unserer Nachbarschaft – in Syrien, Libyen oder in der Sahel-Zone – muss die EU schneller und effektiver handeln. Wir wollen während unserer Präsidentschaft ein Kompetenzzentrum für ziviles Krisenmanagement gründen, das Europas Rolle als Friedensmacht stärkt. Und wir wollen Fortschritte erzielen, um ein gemeinsames Hauptquartier für sämtliche Einsätze der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU einzurichten. Europa muss mehr Verantwortung für seine eigene Sicherheit übernehmen ... Ein starkes Europa als Teil einer starken NATO – das ist unser Ziel», was eindeutig nicht nach Friedenspolitik klingt. Die militärische Dimension prägt auch die Industriepolitik. «Wir wollen eine europäische Industriepolitik, die in eine Welt globaler Konkurrenzkämpfe passt. Wie notwendig das ist, zeigt die Diskussion über den 5G-Netzausbau … Mir ist wohler dabei, auf europäische Lösungen zu setzen.» Ähnlich erklärt dann der Staatsminister für Europa Michael Roth am 17. Januar im Bundestag zur Ratspräsidentschaft: « … ein starkes, souveränes und solidarisches Europa liegt im deutschen Interesse …» Die von Maas erwähnte Absicht, die Rechtsstaatlichkeit der EU-Mitglieder zu überprüfen, untersetzt Roth mit Kriterien: « … Unabhängigkeit der Justiz, Medienfreiheit und  -vielfalt». Sie sollen die EU einen, ebenso ein «Rahmen für Mindestlohnregelungen überall …, eine soziale Grundsicherung …, die Arbeitslosenrückversicherung, Kampf gegen Steuerdumping … wir wollen, dass Sozialstandards gehoben werden, überall in der Europäischen Union … Die Europäische Union muss zeigen, dass Arbeit und Umwelt versöhnt werden können. Aber Konsenssuche in der EU sei kompliziert, insbesondere in der Außenpolitik und vor allem gegenüber China … Man brauche «ein gemeinsames Verständnis von den großen Krisen … und … davon, was wir zu Frieden, Stabilität, Sicherheit und Menschenrechten in der Welt aktiv beitragen können.»

Die Bundestagsdebatte zum EU-Vorsitz ging zurück auf einen Antrag der GRÜNEN-Fraktion. Sie fordert, dass die deutsche Ratspräsidentschaft verkünde: «Jetzt packt Europa die großen Themen an, allen voran den Klimaschutz. Aber nicht nur das: Europa muss sich im geostrategischen Machtkampf zwischen den USA und China stärker als gestaltender Akteur behaupten. Es muss einen eigenen wertebasierten Weg bei Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz gehen, den digitalen Binnenmarkt vollenden und so seine technologische Souveränität bewahren. Es muss als innovativer, kreativer, chancengerechter und forschender Kontinent bestehen. Es muss eine Industriestrategie entwickeln, die dem Protektionismus der Großmächte die europäische Konzeption eines effizienten, ökologischen und sozialen wertebasierten Multilateralismus entgegenhält. Und Europa muss seine Hausaufgaben machen: die Bankenunion vollenden, die Eurozone krisenfest, den Euro stärken und endlich eine Sozialpolitik entwickeln, die auf europäischer Ebene diesen Namen verdient. Deutschland muss hier beweisen, dass es als reichstes Land der EU zu mehr Solidarität in Europa bereit ist.» (Im PDF S. 2) DIE GRÜNEN wollen offenbar Soziales, Ökologisches und Solidarisches mit globaler Konkurrenzfähigkeit vereinbaren, was unmöglich ist. Die EU müsse «die globale Klimaschutz-Führerschaft übernehmen» (Im PDF S. 3) und auch beim Erhalt der Biodiversität vorangehen. Die Gemeinsame Agrarpolitik müsse derart gestaltet werden, «dass die EU-Zahlungen helfen, die Agrarwende zu finanzieren». Mit dem Klimaschutz verbunden sei «die Digitalisierung als zweite große Herausforderung für die Ratspräsidentschaft». Sie stehe im Kontext mit «sozial-ökologischer Transformation» und «europäischer digitaler Souveränität» (Im PDF S. 4). Auch hier gibt es Klärungs- und Diskussionsbedarf, ebenso zum «Feiern» des zehnten Jahrestages der EU-Grundrechtecharta. Allerdings ist zweifellos richtig ist, dass es «einen neuen Anlauf für die Bekämpfung von Rassismus, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Antisemitismus und Antiziganismus [braucht] … die Ratspräsidentschaft [bietet] die Möglichkeit, die EU-Verfahren und Instrumente zu Rechtsstaatlichkeit auszuweiten und zu stärken.» Während seiner Ratspräsidentschaft fungiert Deutschland als nicht-ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats und des UN-Menschenrechtsrats, was zu besonderem Engagement herausfordere. Das gelte auch für die «Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) im Sinne eines einheitlich starken Flüchtlingsschutzes», die während der deutschen Ratspräsidentschaft mit «aller Ernsthaftigkeit und mit viel Nachdruck angegangen werden» (Im PDF S. 5) müsse. Bei viel Zustimmung fällt die Gleichsetzung von «EU» und «Europa» auf, was anmaßend und geografisch falsch ist. Die bei der Klima- und Biodiversitätspolitik bewiesene Entschlossenheit ist bei der Bekämpfung von Armut, sozialer Ausgrenzung, von sozialen und globalen Spaltungen so nicht zu finden. Die Aussagen zur Industriepolitik orientieren stark auf «Globalisierungsgewinne» und die Vorschläge zu den nachhaltigen Geldanlagen befördern weder soziale Nachhaltigkeit noch den Schutz vor Finanzkrisen. Die Vorschläge zur Verteidigung und dem Ausbau demokratischer Rechte, zur Asyl-, Menschenrechts- und Friedenspolitik weisen große Schnittflächen mit linken Positionen auf, aber auch große Löcher. Russland und die Ukraine gibt es in dem Antrag nicht, ebenso Israel und Palästina wie den Mittleren Osten. Auch gibt es keine NATO und kein PESCO, keine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Es gibt aber auch keine «Konferenz zur Zukunft Europas».

Kurzes Fazit

Um ihre Organisations-, Kooperations- und Bündnisfähigkeit politikwirksam zu qualifizieren,  sollten die emanzipativ-solidarischen Akteure in Deutschland, in der EU und in Europa zumindest drei linke Initiativen zu gemeinsamen Angelegenheiten machen: den Protest gegen Defender 2020, die «Klima- und Ökoproteste» und die Auseinandersetzung mit dem Projekt «Konferenz zur Zukunft Europas». Der Protest gegen das NATO-Großmanöver sollte mit radikaler Kritik der Pläne zur Steigerung von «Europa’s Handlungsfähigkeit» verbunden werden, denn die Bundesregierung zielt mit ihrer Ratspräsidentschaft auf weitere Militarisierung der EU. Dass die demokratischen Kampagnen zu den UN-Verhandlungen in Sachen Klima und Biodiversität unterstützt werden sollten, liegt auf der Hand. Aber das muss auf allen Ebenen geschehen – beginnend mit der lokalen und regionalen – und alternative sozial-ökologische Entwicklungen befördern. Da bieten entsprechende Forderungen und Vorschläge der «Landesfürsten» und das Vorhaben «Leipzig Charta 2.0» durchaus Handlungsmöglichkeiten. Werden sie nicht von links genutzt, bauen Neoliberale und Rechtsextreme ihren Raum und Einfluss aus. Das gilt auch für die Konferenz zur Zukunft Europas, wo Attac Österreich, TNI und Corporate Europe Observatory schon initiativ geworden sind. Schließlich will von der Leyen eine andere «Zukunft Europas» als die emanzipativ-solidarischen Akteure, denen durchaus an Aktionsprogrammen gegen Antisemitismus und Medienmanipulation gelegen sein muss. Die wenigen Ausführungen hier machen aber auch erneut deutlich, wie wichtig eine grundsätzliche Kritik der kapitalistischen Produktionsweise und der bürgerlichen Gesellschaft ist, denn in den vorgestellten Papieren wird gar nicht erst versucht, die eigentlichen Probleme und ihre Verursacher zu benennen.