Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Asien - Südasien - Commons / Soziale Infrastruktur - Ernährungssouveränität Zurück zu den Wurzeln

Aktivist Sarangi über mögliche Wege aus der Hungerkrise in Indien

Information

Autorin

Nadja Dorschner,

Debjeet Sarangi Foto: Stefan Mentschel

Debjeet Sarangi ist Gründer der Nichtregierungsorganisation Living Farms, die im ostindischen Bundesstaat Odisha (früher Orissa) gemeinsam mit der indigenen Bevölkerung an Projekten im Bereich Aufforstung, biologische Landwirtschaft und Ernährungssouveränität arbeitet. Das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Neu-Delhi kooperiert seit mehreren Jahren mit Sarangis Grassroots-Bewegung. Über die Gründe für die andauernde Mangel- und Unterernährung in vielen Teilen des südasiatischen Landes und Lösungsansätze hat unsere Mitarbeiterin Nadja Dorschner mit ihm gesprochen.


Laut einer aktuellen Studie der indischen Regierung haben die Menschen in den ländlichen Regionen Indiens heute weniger zu essen als vor 40 Jahren. Gleichzeitig ist Indien der weltweit zweitgrößte Nahrungsmittelproduzent und exportiert Reis und Weizen in großem Stil. Wie geht das zusammen?

Sarangi: Indien wird immer wieder und durchaus zurecht als Land der Gegensätze bezeichnet. Doch für das ungelöste Hungerproblem gibt es einfache Erklärungen. Die Ernährungssituation hat sich für die ländliche Bevölkerung dramatisch verschlechtert, weil die Menschen den Zugang zu dem Land verloren haben, auf dem sie früher ihre Nahrung selbst anbauen konnten. Im Rahmen sogenannter Entwicklungsprogramme sind zahlreiche Menschen von ihren Ländereien vertrieben worden. Gewaltige Flächen in Odisha etwa werden heute von Agrarkonzernen für den Plantagenanbau von Cashewnüssen oder Eukalyptus genutzt. Die Zahl der Bäuerinnen und Bauern hat sich halbiert, dafür sind die Betriebe der Agrarindustrie riesig. Hinzu kommt, dass sich die ländliche Bevölkerung Nahrungsmittel wie Linsen oder Bohnen häufig nicht mehr leisten kann, weil die Preise stark angestiegen sind.

Woran liegt das?

Sarangi: Einerseits exportieren wir tonnenweise Reis und Weizen. Andererseits müssen wir Hülsenfrüchte wie Linsen, die früher ein Grundnahrungsmitteln in jedem Dorf waren, heute teuer aus anderen Teilen der Welt wie etwa Ostafrika importieren. Dementsprechend findet man auf den Tellern der ländlichen Bevölkerung inzwischen auch hauptsächlich kohlenhydrathaltige Nahrungsmittel wie Reis und Weizen, aber immer weniger Proteine und Vitamine – obwohl es in Indien eigentlich eine unglaubliche kulinarische Vielfalt gibt.   

Warum ist diese Vielfalt in Gefahr?

Sarangi: Mit den Anbauflächen ging auch sehr viel traditionelles Wissen zu Anbaumethoden und der Zubereitung von Nahrung verloren. Jahrhundertelang wurden in den ländlichen Regionen Indiens Wälder und Gewässer aber auch öffentliche Flächen in den Dörfern gemeinschaftlich genutzt. Dort wurden Gemüse, Reis oder Kartoffeln angebaut. Ergänzt wurde der Speiseplan durch Wurzeln, Kräuter und Früchte aus den Wäldern und Fische aus den Flüssen und Seen. Aber viele Wälder wurden abgeholzt und die Gewässer durch Pestizide und Umweltbelastungen aus Bergbauprojekten mit tödlichen Giften verschmutzt. Aber anstatt angesichts der Probleme die heimische Vielfalt der Natur zu fördern, wird die Ernährung der ländlichen Bevölkerung vom globalen Markt abhängig gemacht.

Ihre Organisation Living Farms arbeitet in Regionen, in denen vor allem Angehörige der indigenen Bevölkerung Indiens leben. Diese Adivasi-Gemeinschaften sind besonders von den beschriebenen Probleme betroffen. Wie steuern sie dagegen?

Sarangi: Wir versuchen in enger Zusammenarbeit mit der Bevölkerung und auch dank der Unterstützung der Rosa Luxemburg Stiftung ein selbstbestimmtes und ökologisch nachhaltiges Landwirtschaftskonzept zu entwickeln. Dafür ist es vor allem wichtig, dass die Bäuerinnen und Bauern das Saatgut für traditionelle einheimische Sorten erhalten und auf ihren Feldern anbauen. Zudem fördern wir den Einsatz organischer Düngemittel. Dadurch können sie sich von der Saatgut- und Pestizidindustrie finanziell unabhängig machen. Wir organisieren Workshops, in denen Wissen zur Saatguterhaltung, zu verschiedenen Anbaumethoden und zur Herstellung organischen Düngers weitergegeben wird. Abholzung und Plantagenwirtschaft haben ausgelaugte und verseuchte Böden hinterlassen, die wir in unseren Projekten zu regenerieren versuchen. Wir legen die Verantwortung dabei in die Hände der Menschen, die dort leben und haben vor Ort Ausschüsse gebildet, die sich für die Regeneration und Erhaltung der Biodiversität einsetzen.

Können die Adivasi von dieser Art der Unterstützung besser profitieren?

Sarangi: Wir glauben schon. In den Augen der indigenen Bevölkerung lässt sich der Wert von Natur und Nahrung nicht mit Geld aufwiegen. Manche Dörfer in Odisha wirtschaften bis heute ohne Geld und überleben vor allem durch gegenseitige Unterstützung. Fragen sie die Adivasi, was sie zum Leben brauchen. Sie werden ihnen sagen, dass sie auf dem Markt nur Benzin und Salz kaufen. Alles andere gibt ihnen die Natur. In der Vergangenheit waren Adivasi-Gemeinschaften selbst während Hungersnöten nie auf externe Hilfe angewiesen.

Kann dieser Ansatz mit dem herkömmlichen Entwicklungsmodell konkurrieren?

Sarangi: Wir müssen uns fragen, welche Art von Entwicklung wir anstreben, welchem Modell wir folgen und was wir darunter verstehen. In vielen ländlichen Regionen Indiens ist der Begriff Entwicklung für die Bevölkerung gleichbedeutend mit Gewalt und Vertreibung. Sie profitieren nicht von einem steigenden Bruttoinlandsprodukt oder vom wirtschaftlichem Wachstum. Deshalb müssen wir anfangen, über das herkömmliche Verständnis von Entwicklung hinauszudenken und eine gewaltfreie Form des Wirtschaftens finden.

Das klingt nach einer romantischen Vorstellung.

Sarangi: Vielleicht. Auf dem Weg dorthin müssen wir unsere Prioritäten neu definieren und immer wieder hinterfragen. Selbst wenn wir über alternative Gesellschafts- und Wirtschaftsformen sprechen, heißt das nicht, dass wir sie selbst auch leben können. Letztendlich versuchen wir mit unserer Arbeit der indigenen Bevölkerung eine Stimme zu geben. Aber wir leben trotzdem anders als sie, weil unser Leben auf dem kapitalistischen Markt basiert. Das ist die eigentliche Krise, die wir nur bewältigen, wenn wir auf individueller Ebene unser Handeln ändern.