Nachricht | Parteien- / Bewegungsgeschichte - Deutsche / Europäische Geschichte - Ausschluss. Das Politbüro vor dem Parteigericht Ausschluss. Das Politbüro vor dem Parteigericht

Anlässlich 30 Jahre politischer Wende veröffentlichen die Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Karl Dietz Verlag erstmals die Tonbandprotokolle jener Nacht

Im Herbst 1989, vor nunmehr 30 Jahren, gingen Hunderttausende Bürger in Berlin, Leipzig, Dresden, Erfurt, Plauen und zahlreichen anderen Städten auf die Straße. Sie demonstrierten für eine Demokratisierung ihres Landes, für Reisefreiheit und die Entmachtung der alten Führungsstrukturen in der DDR. Darunter befanden sich auch zahlreiche Mitglieder der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) sowie der anderen DDR-Blockparteien, die mehrheitlich für die Überwindung der diktatorischen Herrschaftsformen und des strukturellen Stalinismus eintraten.

Vielen von ihnen, insbesondere den SED-Mitgliedern, ging es um die Veränderung der Arbeits- und Lebensbedingungen und um einen demokratischen Sozialismus in der DDR. Nachdem SED-Generalsekretär Erich Honecker und sieben Wochen später auch sein Nachfolger Egon Krenz sowie das gesamte Zentralkomitee und Politbüro zurückgetreten waren, hatte der von der Basis erzwungene Außerordentliche Parteitag den «unwiderruflichen Bruch mit dem Stalinismus als System» beschlossen. Ein neues Parteiprogramm und Statut sowie grundsätzlich veränderte Führungsstrukturen standen am Beginn der Tätigkeit einer Partei, die sich nunmehr für wenige Wochen SED-PDS nannte. Bereits am 4. Februar 1990 beschloss der Parteivorstand den neuen Namen: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS).

Auf dem kurzen Weg zu diesem neuen Namen lag ein wichtiges Ereignis. In einer Sitzung, die vom Vormittag des 20. Januar bis in die frühen Morgenstunden des 21. Januar 1990 dauerte, tagte die vom Außerordentlichen Parteitag anstelle einer bisherigen Zentralen Parteikontrollkommission gewählte Schiedskommission unter Leitung ihres Vorsitzenden Günther Wieland. Sie beschloss nach intensiver Anhörung den Ausschluss von 14 ehemaligen Mitgliedern und Kandidaten des SED-Politbüros aus der Partei. Diese Sitzung wurde aufgezeichnet.

Die Tonbandprotokolle dieser Nacht wurden gemeinsam mit weiteren historischen Unterlagen der Schiedskommission vor zwei Jahren in das Archiv der Rosa-Luxemburg Stiftung übernommen und 30 Jahre nach ihrer Entstehung durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung und den Karl Dietz Verlag veröffentlicht. Im Verlag erscheint die Transkription der Gespräche im vollen Wortlaut, zusammen mit zusätzlichen historischen Dokumenten sowie einem Geleitwort von Dagmar Enkelmann und Beiträgen von Michael Herms, Volkmar Schöneburg und Tom Strohschneider.

Ausschluss. Das Politbüro vor dem Parteigericht

Details

Mitte Dezember 1989 wird aus der SED die SED-PDS. Ihr neuer Vorsitzender heißt Gregor Gysi. Doch noch immer gehören die verbliebenen 17 ehemaligen Mitglieder und Kandidaten des Politbüros dieser Partei an – bis zum 20. Januar 1990. In einer mehr als zwölf­stündigen Nachtsitzung der Zentralen Schiedskommission der SED-PDS werden die meisten von ihnen ausgeschlossen.

Diese Sitzung wurde aufgezeichnet. Nach 30 Jahren veröffentlichen die Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Karl Dietz Verlag nun erstmals die Tonbandprotokolle dieser Nacht.

Die Befragten

Margarete Müller
26 Jahre Kandidatin des Politbüros und Mitglied des DDR-Staatsrats – befragt vor allem zu verfehlter Landwirtschaftspolitik und Inanspruchnahme von Privilegien.

Werner Walde
Kandidat des Politbüros, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Cottbus – befragt vor allem über Informationsflüsse Cottbus-Berlin, verfehlte Energiepolitik und Privilegien.

Joachim Herrmann
Mitglied des Politbüros, Sekretär des ZK der SED – befragt vor allem zur Arbeit innerhalb der Parteiführung, Manipulation Massenmedien, Verhältnis zur KPdSU und Privilegien.

Siegfried Lorenz
Mitglied des Politbüros, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt – befragt vor allem zu Informationsflüssen Karl-Marx-Stadt-Berlin und Tätigkeit als Sekretär für Parteifragen und Privilegien.

Kurt Hager
Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED – befragt vor allem zur Einhaltung des Parteistatuts, Verantwortung für Gängelei in Kulturpolitik, Bildung und Wissenschaft und Privilegien.

Alfred Neumann
Mitglied des Politbüros, 1. Stellvertreter des DDR-Ministerratsvorsitzenden – befragt vor allem zur Arbeit innerhalb der Parteiführung und Privilegien.

Horst Dohlus
Mitglied des Politbüros, Sekretär des ZK der SED – befragt vor allem zu
Informationsflüssen Parteibasis-Politbüro, Unterdrückung kritischer Meinungen innerhalb der SED, Rolle beim Ablauf der Wahlen vom Mai '89, Privilegien.

Heinz Keßler
Mitglied des Politbüros, Minister für Nationale Verteidigung – befragt vor allem zu Information des Politbüros über Lage in der NVA, Haltung zur KPdSU und Privilegien für NVA-Kader.

Erich Mückenberger
Mitglied des Politbüros und Vorsitzender der Zentralen Parteikontrollkommission – befragt vor allem zur Verantwortung für schlechte Kritik-Kultur innerhalb der SED und Privilegien.

Werner Jarowinsky
Mitglied des Politbüros, Sekretär des ZK der SED – befragt vor allem zu seiner Verantwortung für geschönte Berichte über schlechte Versorgungslage, Zustand der Volkswirtschaft, Stimmung in der Bevölkerung und Privilegien.

Hans-Joachim Böhme
Mitglied des Politbüros, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle – befragt vor allem zu Informationsflüssen Bezirk Halle nach Berlin, Rolle bei Demonstrationen im Bezirk Halle im Oktober 89 und Privilegien.

Günter Schabowski
Mitglied des Politbüros, ZK-Sekretär, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin – befragt vor allem zu Informationsflüssen Bezirksparteiorganisation-Politbüro, Anteil am Sturz Erich Honeckers, Verantwortung für Übergriffe der Sicherheitsorgane am 40. Jahrestag der DDR und Privilegien.

Inge Lange
Mitglied des Politbüros, Sekretär des ZK der SED – befragt vor allem zur Mitverantwortung für ungenügende Frauenpolitik und Privilegien.

Egon Krenz
Generalsekretär des ZK der SED, Mitglied des Politbüros, Vorsitzender des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR – befragt vor allem zu kritikloser Unterstützung der Parteiführung, Rolle bei den Wahlen im Mai 1989, Einfluss auf das Ministerium für Staatssicherheit und Privilegien.

Gerhard Schürer
Mitglied des Politbüros, Vorsitzender der Staatlichen Plankommission beim Ministerrat der DDR – befragt vor allem zur Verantwortung für wirtschaftliche Lage der DDR und Privilegien.

Die Publikation zu den Tonbandaufnahmen

AUSSCHLUSS
Das Politbüro vor dem Parteigericht
Die Verfahren 1989/1990 in Protokollen und Dokumenten

Herausgegeben von Gerd-Rüdiger Stephan und Detlef Nakath
Bearbeitet von Christine Krauss

Mit einem Geleitwort von Dagmar Enkelmann sowie Beiträgen von Michael Herms, Volkmar Schöneburg und Tom Strohschneider

552 Seiten, geb., 49,90 Euro
ISBN 978-3-320-02365-2

Bestellen:
Karl Dietz Verlag
dietzberlin.de