Aus dem Reform-Zick-Zack in die Sackgasse

21. Mai 1989: Kurt Hagers Äußerungen auf dem Pfingsttreffen der FDJ werden als Absage an Reformen in der DDR verstanden. Beitrag von Lutz Brangsch.

Einen Tag nach den verfälschten Kommunalwahlen hielt Kurt Hager, gefühlt ewiger «Chefideologe» des ZK der SED (und damit der DDR) ein Referat aus Anlass des Jahrestages der Befreiung vom Faschismus, indem er natürlich das ‹eindeutige› «Votum der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik für die Kandidaten der Nationalen Front» hervorhob. Die zentrale politische Botschaft war aber eine andere. Hager verband die Würdigung der Verdienste und Erfahrungen der UdSSR mit einer dezidierten Betonung der Eigenständigkeit der DDR und der Hervorhebung des eigenen Weges, des «Sozialismus in den Farben der DDR». (Die Verpflichtung des 8. Mai 1945. Rede von Kurt Hager zum 44. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, in: Neues Deutschland vom 9. Mai 1989, S. 3–4.)

Die verbale Betonung der Verbundenheit mit der Sowjetunion und das Bekenntnis zur Vielfalt war tragischerweise in erster Linie ein Abwehrreflex. Hinter den von Hager bruchlos aneinandergefügten Besonderheiten der DDR standen z.T. heftigste innere Auseinandersetzungen, Reformvorstöße und –rücknahmen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Auch in den Jahren 1988 und 1989 blieb die Frage der Reform von Planung und Wirtschaftsleitung aktuell, was sich z.B. in einer Kontroverse zwischen dem Chef der Staatlichen Plankommission Gerhard Schürer und dem für Wirtschaft zuständigen Politbüromitglied Günter Mittag im Jahr 1988 zeigte. Tatsächlich war es so, dass das politische System der DDR und auch ihre Wirtschaftspolitik «liberaler» waren als dies in der UdSSR der Fall war. Gorbatschow ging aber über Teilreformen hinaus – er unterzog mit dem Dreiklang von Reformen in Politik, Wirtschaft und Ideologie (dabei vor allem des Geschichtsbildes) die 70 Jahre Geschichte des Realsozialismus einer grundlegenden Kritik und öffnete den Raum für die Kritik von Personen, Prozessen und Entscheidungen, an denen Generationen beteiligt waren. Er vertraute dabei darauf, ganz im Sinne Luxemburgs, dass die Massen gemeinsam mit der sich ändernden Partei daraus die richtigen Schlussfolgerungen ziehen könnten und würden. Dieses Vertrauen und die damit verbundene Bereitschaft der Selbstveränderung waren offensichtlich entscheidenden Teilen der Führung in der DDR fremd. Zwei Jahre zuvor hatte Hager in einem Interview den berühmt-berüchtigten Satz ausgesprochen:

«Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?» (Kurt Hager beantwortete Fragen der Illustrierten «Stern», in: Neues Deutschland vom 10. April 1987, S. 3.)

Mit der Tapetenmetapher hatte Hager 1987 die Grenzlinie des Reformierens gezogen, indem er die Prozesse in der UdSSR mit dem Bild verzwergte und die Tiefe verleugnete. Dabei ist völlig unwichtig, ob er, wie er in seinen Erinnerungen schrieb, missverstanden worden sei. (Hager, Kurt: Erinnerungen, 1. Aufl. Aufl., Leipzig 1996. S. 385) Entsprechend den Erfahrungen mit Äußerungen führender Persönlichkeiten wurde diese Aussage als Richtlinie verstanden – die doppelte Missinterpretation sagt viel über die damalige politische Kultur. Mit dem «Sozialismus in den Farben der DDR» suggerierte er nun Gradlinigkeit und überging die Zick-Zack-Bewegung der gesellschaftspolitischen Reformen in der DDR. Allein die Frage, inwieweit das Besondere im Weg der DDR zum Sozialismus überhaupt zu thematisieren wäre, war immer politisch brisant gewesen und stand schnell unter dem Generalverdacht des Antisowjetismus und (damit) Antikommunismus, wie schon früh z.B. Anton Ackermann und später Wolfgang Harich erfahren mussten. Täuschung und Selbsttäuschung fielen in eins. Hans Modrow gibt als Insider die Situation in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre so wieder:

«In Berlin schwebten sie auf einer Wolke und glaubten, das Volk sei noch immer mit «uns». Die Führung hatte die Verbindung zur Basis verloren. Ihre Politik war richtig, wenn es Probleme gab, lag es ausschließlich an der schlechten ideologischen Arbeit der Funktionäre vor Ort.» (Dürkop, Oliver/Gehler, Michael/Modrow, Hans (Hrsg.): In Verantwortung: Hans Modrow und der deutsche Umbruch 1989/90, Innsbruck/Wien/Bozen 2018. S. 166)

Egon Krenz beschreibt die Situation unter einem anderen Aspekt – dem des Zerfalls und der Handlungsunfähigkeit des ZK und des Politbüros der SED. Seiner Darstellung nach betrachteten Mitglieder dieser Gremien die Ablehnung der Reformansätze in der UdSSR äußerst kritisch. Krenz selber sagt, dass er im Dezember 1987 mit einem Gutachten zur Politik Gorbatschows Honecker habe eine Brücke bauen wollen, «um den Weg zur Neuformulierung unseres beschädigten Verhältnisses gegenüber der Sowjetunion frei zu machen.» (Krenz, Egon: Wenn Mauern fallen: die friedliche Revolution: Vorgeschichte, Ablauf, Auswirkungen, Wien 1990. S. 23)

Dieses Anliegen blieb erfolglos. Das ist aber nicht die eigentliche Frage. Modrow und Krenz verweisen indirekt auf das zentrale Problem – die Konzentration der Entscheidungsprozesse in einem kleinen Kreis von Personen, die durch ihre gemeinsamen Wege im Apparat aneinander gekettet waren – und durch die Organisationsweise der SED aus diesen Abhängigkeiten nicht ausbrechen konnten. Das Außen erschien nur noch als Gegenstand, nicht als Quelle der Politik. Die in den Erinnerungen Krenz‘ auf der einen und Hagers auf der anderen Seite dargestellte Gegensätze von Positionen zu Reformprozessen in der DDR und in der Sowjetunion innerhalb der Führungsgruppe spielten in der öffentlichen Diskussionen keine Rolle. Offiziell dominierte die Hagersche Sicht.

Das Pfingsttreffen der FDJ sollte zum letzten Ereignis werden, das diese Selbsttäuschung zu bestätigen schien. Es war schon immer fraglich, ob die Teilnahme an einer Feier und den damit verbundenen politische Manifestationen unbedingt als rückhaltlose Zustimmung zur Partei- und Staatspolitik oder den Führungspersonen interpretiert werden könne. Das Neue Deutschland vom 16.05.1989 titelte auf Seite 3 mit Bezug auf die Demonstration im Rahmen des Treffens: «Im Marsch der jungen Generation schlug das Herz der ganzen Republik» – nur schlug es eben nicht in der Weise, wie es die Repräsentanten auf der Tribüne wahrnehmen wollten und wie die Seite 1 nahelegt: nicht Erich Honecker oder die Parteiführung war Gegenstand der Begeisterung, sondern – das «Eigene», für das man auch mal eine Demonstration in Kauf nahm. Bekenntnisse zur Friedenspolitik der DDR und Stolz auf die eigene Arbeit auf der einen und Kritik an bestimmten Elementen der Politik der DDR oder die Ausreise bildeten keinesfalls einen unüberbrückbaren Widerspruch, wie oft behauptet wurde und wird. Das Verblassen der Farben des DDR-Sozialismus, die in den soziologischen Untersuchungen unzweifelhaft belegt und die in der anhaltenden und sich nach dem Festival verstärkenden Ausreisewelle deutlich wurde, bedeutete und bedeutet genauso nicht eine (vorweggenommene) rückhaltlose Bejahung der Verhältnisse der Berliner Republik ab 1990.

Peter Förster beschreibt anknüpfend an seine Untersuchungen Ende der 1980er Jahre dieses scheinbare Paradox so:

«Im Jahr 2002 identifizieren sich einschränkungslos mehr Panelmitglieder mit der DDR als mit der BRD (43% gegenüber 34%)! Für die meisten Panelmitglieder ist im Jahr 2002 (wie schon zuvor) charakteristisch, das sie schon Bundesbürger sind, ohne jedoch ihre Verbundenheit mit der DDR aufgegeben zu haben. Das Zugehörigkeitsgefühl zur DDR ist offensichtlich tiefer verwurzelt, als bisher angenommen wurde. Es wird in verhältnismäßig kurzen Zeiträumen auch nicht von jungen Menschen als Ballast abgeworfen. Eine große Rolle spielen dabei tiefe lebensgeschichtliche Prägungen, vor allem das Erleben der DDR als Heimatland, die Betonung der gelebten Biographie, die Erinnerung an eine meist sorgenfreie Kindheit in sozialer Sicherheit, die vielfach aufgewertet wird durch den Kontrast heutiger Alltagserfahrungen. Entscheidenden Einfluss haben jedoch die aktuellen Erfahrungen der Panelmitglieder im Reinigungsprozess.» (Förster, Peter: Die Generation der zweifach Enttäuschten. Junge Ostdeutsche im Jahr 12 nach der Vereinigung, in: Utopie kreativ H. 145 (November 2002), S. 978–993.)

Diejenigen, die damals 16 oder 17 Jahre alt waren, wollten «etwas anderes» – weder Realsozialismus noch Realkapitalismus (denn der, den sie in der Bonner Republik vermuteten, gab es nicht). Das macht noch einmal die Dimension der im Frühjahr 1989 verpassten Chancen deutlich.

(Mit freundlicher Unterstützung der Tageszeitung neues deutschland und ihres online-Archivs.)