Linker Aufbruch in Frankreich?

Das Linksbündnis Nouveau Front Populaire erzielte bei der Parlamentswahl einen Überraschungserfolg – auch ein Ergebnis der sozialen Kämpfe der letzten Jahre. Doch die kontinuierliche Rechtsverschiebung zu stoppen, wird eine große Herausforderung. Von Kolja Lindner

Das Linksbündnis Nouveau Front Populaire erzielte bei der Parlamentswahl einen Überraschungserfolg – auch ein Ergebnis der sozialen Kämpfe der letzten Jahre. Doch die kontinuierliche Rechtsverschiebung zu stoppen, wird eine große Herausforderung.

In diesem Schwerpunkt beschäftigen wir uns mit dem Nouveau Front Populaire. Neben dieser Analyse haben wir das Wahlergebnis betrachtet und eine linke Aktivistin über den Haustürwahlkampf des Bündnisses befragt. 

Kolja Lindner ist Associate Professor für politische Theorie an der Universität Paris 8. Er hat 2017 die Studie Die Hegemoniekämpfe in Frankreich. Laizismus, politische Repräsentation und Sarkozysmus im Hamburger Argument-Verlag veröffentlicht.

Der Ausgang der französischen Parlamentswahlen im Juni dieses Jahres ist zweifellos ein Erfolg für die Linke jenseits des Rheins. Dies gilt auch, obwohl die Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung alles andere als eindeutig sind und der seit Jahrzehnten kontinuierliche Stimmenzuwachs der extremen Rechten nicht gestoppt werden konnte. Dennoch sind emanzipatorische Kräfte durch den Zusammenschluss der Linksparteien als «Nouveau Front Populaire», die zivilgesellschaftliche Mobilisierung im Kontext des Urnengangs und das unerwartet gute Wahlergebnis des Bündnisses in die Offensive gekommen. Diese Situation sollte nun konsolidiert und ausgebaut werden, statt auf kurzfristige Regierungsoptionen zu setzen.

Die Ausgangssituation

Um die politische Situation in Frankreich zu ermessen, sollte man sich zunächst einmal die Unterschiede zur deutschen Situation klarmachen. Mit der im Kontext des Kolonialkrieges in Algerien 1958 aus der Taufe gehobenen Fünften Republik wurde ein Präsidialsystem geschaffen, in dem das Parlament lediglich eine nachgeordnete Rolle spielt. Seine schwache Position lässt sich schon am Kalender ablesen: Die nach Mehrheitswahlrecht durchgeführten Parlamentswahlen finden in der Regel kurze Zeit nach den Präsidentschaftswahlen statt. In der Geschichte der Fünften Republik haben erstere bisher nahezu immer die Präsidentschaft mit einer dazugehörigen parlamentarischen Mehrheit ausgestattet. Koalitionen sind daher im französischen System unüblich. Der direkt gewählte Präsident (historisch bisher immer ein Mann) setzt nach seiner Wahl die Regierung ein. Diese kann auf verschiedenen Wegen die Prärogativen des Parlaments aushebeln und gilt wegen ihrer umfassenden Kompetenz, Dekrete zu erlassen, als zweite rechtssetzende Kraft der Republik. Grundsätzlich liegt diesem System die Annahme bzw. historische Erfahrung instabiler parlamentarischer Mehrheiten (etwa in der Vierten Republik von 1946-1958) zugrunde, weshalb die Regierung auch unabhängig von Kräfteverhältnissen in der Nationalversammlung agieren können soll. In der verfassungsrechtlichen Diskussion wird daher von einem «rationalisierten Parlamentarismus» gesprochen (François 2011).

Zur konkreten Situation der Parlamentswahlen vom vergangenen Juni gehört, dass das politische Lager von Emmanuel Macron seit dem letzten Urnengang von vor zwei Jahren über keine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung mehr verfügte. Daher griff die Präsidenten-Partei Renaissance in ihren Regierungsgeschäften regelmäßig auf das oben erwähnte, undemokratische Machtarsenal zurück – insbesondere auf den legendären Verfassungsartikel 49, Absatz 3. Dieser ermöglicht es, Haushaltsgesetze mit Vertrauensabstimmungen zu verbinden. Gesetze gelten demnach als angenommen, wenn keine Mehrheit gegen die Regierung zustande kommt (aufgrund des häufigen Einverständnisses der bürgerlichen Rechten mit der von Renaissance betriebenen Politik war das seit 2022 durchgehend der Fall). Die von Mai 2022 bis Januar 2024 amtierende Regierung unter Premierministerin Elisabeth Borne hat den umstrittenen Verfassungsartikel allein 23 Mal eingesetzt und dabei das Verständnis dessen, was Haushaltsgesetze sind, extrem strapaziert. So wurde im Frühjahr 2023 die Rentenreform durchgesetzt, die von einer Einheitsfront der in Frankreich bestehenden Richtungsgewerkschaften und von weiten Teilen der Bevölkerung mit Streiks und Demonstrationen bekämpft worden war. Sie schrieb die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre und abschlagsfreie Altersbezüge nach erst 43 Beitragsjahren fest.

Bemerkenswert ist an dem Bündnis der Linksparteien nicht nur die Geschwindigkeit, mit der es sich zusammengefunden hat. Das NFP-Programm liest sich auch als eine Antwort auf die nicht zuletzt in den undemokratischen Strukturen der Fünften Republik wurzelnde Krise der politischen Repräsentation sowie als Ausdruck der sozialen Kämpfe der letzten Jahre.

Vor dem Hintergrund der fehlenden parlamentarischen Mehrheit des Präsidentenlagers besonders denkwürdig war zudem ein äußerst restriktives Einwanderungsgesetz, das die Borne-Regierung im Dezember 2023 mit Stimmen der bürgerlichen und extremen Rechten durchs Parlament brachte. Letztere verfügte damals über 89 der 577 Parlamentssitze; 60 Abgeordnete aus Macrons Partei stimmten gegen das Gesetz. Mit diesem sollten – neben Einschränkungen beim ius soli und erleichterten Abschiebungen – erstmals andere Regeln für ausländische Antragsteller*innen bei der Beziehung von Sozialleistungen wie Wohngeld, Kindergeld und häuslicher Pflege etabliert werden als für inländische. Auch wenn Teile des Gesetzes aus Formgründen vom französischen Verfassungsgericht kassiert wurden, hat der rechtsextreme Rassemblement National (RN) der dreimaligen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen mit dem Gesetzeserlass einen riesigen Erfolg erlangt. Immerhin macht sich die Partei für derartige Regeln seit jeher unter dem Schlagwort des «Inländervorrangs» (préférence nationale) stark.

Die Parlamentswahlen und die Einigung der Linken

Die Episode aus dem Jahresende 2023 gilt zu Recht als Meilenstein der in Frankreich sprichwörtlichen «LePenisierung der Köpfe», d.h. der kontinuierlich zunehmenden rassistischen sozialen Repräsentationen. Allseits war erwartet worden, dass sich diese langanhaltende Tendenz durch einen Wahlsieg des RN bei den Europawahlen im Juni konsolidieren würde. Und tatsächlich ist die extreme Rechte unter Führung von Parteichef Jordan Bardella mit gut 31 Prozent der Stimmen bei dieser einzigen landesweit nach Verhältniswahlrecht durchgeführten Wahl (die daher als besonderes Stimmungsbarometer gilt) weit vor allen anderen Parteien gelandet – mit um die 14 Prozent abgeschlagen auf Platz zwei und drei kamen dahinter Renaissance und die Sozialistische Partei.

Trotz der Erwartbarkeit dieses Ergebnisses ist der Wahlausgang allseits als eine schwere Krise wahrgenommen worden. Das hat Präsident Macron dazu veranlasst, unmittelbar nach Verkündigung erster Ergebnisse das Parlament aufzulösen und innerhalb von drei Wochen Neuwahlen zur Nationalversammlung anzusetzen. Zur erwarten stand ein erneuter Siegeszug des RN – und zwar deutlich ungebremster als in der Vergangenheit. In früheren Parlamentswahlen hatte das Mehrheitswahlrecht die rechtsextremen Kandidat*innen am zumindest massiven Einzug in die Nationalversammlung gehindert. Nach dieser Bestimmung müssen Parteien absolute (erster Wahlgang) bzw. relative (zweiter Wahlgang) Mehrheiten in einzelnen Wahlkreisen erlangen, um Abgeordnete ins Parlament zu entsenden. Daraus resultiert die Wahlstrategie der «republikanischen Front», wonach verschiedene Parteien ihre drittplatzierten Kandidat*innen aus dem zweiten Wahlgang zurückziehen, um einen Erfolg des RN zu verhindern [1].

Angesichts der Gefahr eines weiteren rechtsextremen Wahlsiegs schlossen sich die vier wichtigsten linken Parteien – die Sozialistische Partei (PS), die Grünen, die Kommunistische Partei und die linkspopulistische La France Insoumise (LFI) – in kürzester Zeit zu einem Wahlbündnis zusammen, das zudem von den Trotzkist*innen des Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) unterstützt wurde. Der Zusammenschluss entstand aus den Trümmern der vorhergehenden, für die Parlamentswahl 2022 geschlossenen Allianz Nouvelle Union populaire écologique et sociale (NUPES). Diese war de facto zerfallen durch Konflikte um eine die LFI ausschließende Aussetzung der Allianz bei den Senatswahlen im September 2023 und die ambivalente LFI-Positionierung nach den Terroranschlägen der palästinensischen Hamas im Oktober 2023. In der Neuauflage wurde nun – in Anlehnung an den durch die «Volksfront» von 1936 geführten historischen Abwehrkampf gegen einen faschistischen Aufstandsversuch – der Name des «Nouveau Front Populaire» (NFP) gewählt.

Hinzu kam eine zivilgesellschaftliche Mobilisierung, die in der jüngeren französischen Geschichte ihresgleichen sucht. So fuhren tausende Aktivist*innen außerparlamentarischer Gruppen mit Konvois in besonders umkämpfte Wahlkreise, um den NFP durch Haustürwahlkampf zu stärken. Gezielt wurden dabei Regionen angesteuert, wo sich die in den zweiten Wahlgang eingezogenen, drittplatzierten Kandidat*innen der bürgerlichen Rechten oder der Macron-Partei weigerten, durch ihren Rückzug eine «republikanischen Front» zu ermöglichen – eine Strategie, der nahezu alle drittplatzierten NFP-Kandidat*innen gefolgt waren. Zudem riefen Gewerkschaften bereits für das Wochenende nach den Europawahlen zu Großdemonstrationen gegen Rechtsextremismus auf. Ferner verkündeten hunderte Schulleiter*innen öffentlich, dass sie einer RN-Regierung die Gefolgschaft verweigern würden. Und schließlich riefen selbst Spieler der französischen Männer-Fußballnationalmannschaft und die Hochschulrektor*innenkonferenz dazu auf, bei den anstehenden Wahlen gegen den RN zu stimmen.

Ein Programm der sozialen Bewegungen

Bemerkenswert ist an dem Bündnis der Linksparteien nicht nur die Geschwindigkeit, mit der es sich zusammengefunden hat. Das NFP-Programm liest sich auch als eine Antwort auf die nicht zuletzt in den undemokratischen Strukturen der Fünften Republik wurzelnde Krise der politischen Repräsentation sowie als Ausdruck der sozialen Kämpfe der letzten Jahre. Einige Beispiele:

Erstens die Mobilisierungen gegen Rassismus und Polizeigewalt, die in den französischen Vorstädten über eine lange Tradition verfügen und mit der Ermordung von George Floyd im Mai 2020 eine neue Dynamik erlangt haben. In den letzten Jahren haben sich mehrfach Zehntausende an entsprechenden Protesten beteiligt. Zuletzt kam es im Sommer 2023 zur mehrtägigen, landesweiten Riots, nachdem ein Polizist einen Jugendlichen am Steuer seines Autos erschossen hatte – wegen der «Verweigerung eines polizeilich angeordneten Verkehrsverhaltens» (refus d’optempérer), das Polizist*innen seit 2017 den Schusswaffengebrauch im Falle einer eigenen Gefährdung durch das fragliche Fahrzeug erlaubt. Insbesondere das 2016 nach dem Tod des Schwarzen Mannes Adama Traoré in den Händen der Polizei entstandene «Komitee Adama» ist mittlerweile ein einflussreicher politischer Akteur geworden, der die französische Regierung schon mehrfach direkt herausfordern konnte und dem es gelungen ist, unter jungen Leuten eine regelrechte «Generation Adama» zu formieren.

Zweitens hat die Bewegung der Gelbwesten gegen die Erhöhung der Benzinsteuer und für sozialökologische Gerechtigkeit seit November 2018 mit Blockaden und Demonstrationen über Monate das Land im Atem gehalten. Sie ist mit massiver polizeilicher Gewalt (eine Tote, über 1.700 teils schwer Verletzte, 24 Menschen, die ein Auge, bzw. fünf die eine Hand verloren haben) und juristischer Repression (über 10.000 Festnahmen, über 3.000 Verurteilungen, davon über 2.000 zu Bewährungs- oder Gefängnisstrafen) zerschlagen worden. Es handelte sich bei den Gelbwesten zwar um eine heterogene Bewegung, in ihrer Mehrheit hatte sie allerdings eine fortschrittliche Orientierung und trug, anders als oft behauptet, gerade nicht zum Erstarken der extremen Rechten bei.[2] Dies illustrieren auch die im Kontext der Bewegung entwickelten, innovativen und demokratischen Antworten auf die Krise der politischen Repräsentation (insbesondere das Initiativreferendum RIC – «référendum d’initiative citoyenne») und verschiedene, gemeinsam mit Gruppen wie dem «Komitee Adama» organisierte Demonstrationen gegen Polizeigewalt und sozialräumliche Segregation.

Drittens hat die französische Ökologiebewegung einen Umfang und eine Radikalität angenommen, die hierzulande ihresgleichen sucht. Lediglich von «Klimaprotesten» zu sprechen, wäre hier irreführend. Die Mobilisierungen der letzten Jahre thematisieren Umweltzerstörung durch industrielle Landwirtschaft deutlich stärker als Bewegungen in Deutschland. Damit wird an die Arbeit der bereits 1987 gegründeten, fortschrittlichen Landwirtschaftsgewerkschaft Confédération paysanne angeknüpft. In den vergangenen Jahren wurden etwa zahlreiche Kämpfe gegen Wasserverknappung durch Bewässerungsreservoirs geführt. Die Auseinandersetzungen um diese «méga-bassines» haben mit den militanten Konfrontationen im westfranzösischen Sainte-Soline vergangenes Frühjahr und den jüngsten Aktionen im ebenfalls westfranzösischen Poitou einige öffentliche Aufmerksamkeit erreicht. Hinzu kommen die regelmäßigen großen Proteste gegen den Bau der Autobahn A69 zwischen Castres und Toulouse in Südfrankreich.

Viertens sind die wiederkehrenden Kämpfe gegen den Abbau sozialer Rechte zu nennen, wie zuletzt die monatelange soziale Bewegung gegen die Reform des Arbeitsrecht 2016 (die u.a. eine Aufweichung des Kündigungsschutzes und eine Flexibilisierung der Arbeitszeit vorsah), in deren Rahmen die Platzbesetzung «Nuit debout» entstand, sowie zwei Runden der mit umfangreichen Streiks und Massendemonstrationen geführten Auseinandersetzung um die schon erwähnte Rentenreform im Winter 2019/20 und im Frühjahr 2023.[3]

Um den Erfolg der extremen Rechten in Frankreich langfristig zu verhindern, geht es also um deutlich mehr als eine massive Wähler*innen-Mobilisierung, die dem NFP im Kontext der zurückliegenden Parlamentswahlen gelungen ist. Nötig ist eine hegemoniepolitische Offensive. Der rassistische Alltagsverstand kann nur durch gezielte und langfristige Anstrengungen zurückgedrängt werden.

Diese starken sozialen Kämpfe der letzten Jahre haben die linken Parteien nicht nur zur Zusammenarbeit angetrieben, sondern auch im Programm des NFP deutliche Spuren hinterlassen. Das zeigt sich bereits an den vorgeschlagenen Maßnahmen, die in den ersten zwei Wochen an der Macht ergriffen werden sollen. Sie sehen vor, dass die Verordnungen zur Umsetzung der Rentenreform von 2023 aufgehoben werden. Zudem sollen Moratorien zu den «méga-bassines» und großen Infrastrukturprojekten wie geplanten Autobahnen gewährt werden. Und schließlich soll der Polizei der Gebrauch ihrer im westeuropäischen Kontext einzigartigen Gummigeschosse und -granaten verboten werden. Auf längere Sicht soll es eine Rückkehr zur 2010 abgeschafften Rente mit 60 und zu etablierten arbeitsrechtlichen Standards geben. Zudem ist eine Transformation der undemokratischen Strukturen der Fünften Republik geplant, u.a. durch die Einführung des Verhältniswahlrechts, die Aufwertung des Parlaments, die Abschaffung des Verfassungsartikels 49, Absatz 3, die Einführung eines Initiativreferendums und die Einberufung einer Verfassungsversammlung mit dem Ziel der Ausarbeitung von Grundlagen einer Sechsten Republik. Ferner ist die Schaffung einer mit Ermittlungsbefugnissen ausgestatteten, unabhängigen Behörde zur Kontrolle des polizeilichen Vorgehens vorgesehen, die bestehende, polizeiinterne und viel kritisierte Strukturen ersetzen würde. Außerdem wird eine Überprüfung des polizeilichen Schusswaffengebrauchs angestrebt, «damit den Tötungen im Zusammenhang polizeilicher Verkehrsanweisungen ein Ende gesetzt wird». Und schließlich soll racial profiling dadurch eingedämmt werden, dass Menschen, die polizeiliche Personenkontrollen über sich ergehen lassen müssen, einen schriftlichen Nachweis der Maßnahme erhalten und so ihre Betroffenheit sichtbar machen können.

Für eine antikapitalistische und antirassistische Offensive

Bemerkenswert am Wahlprogramm des NFP ist auch, dass es den Zugang zu öffentlichen Diensten und Sozialleistungen «jenseits nationaler Zugehörigkeit» gewährleisten will. Damit bezieht das linke Parteienbündnis eine klare Gegenposition zum rechtsextremen «Inländervorrang». Dies ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund bedeutsam, dass die RN-Programmatik im Grunde eine rassistische soziale Repräsentation zum Ausdruck bringt. Denn «nationale Zugehörigkeit» ist aufgrund der durch die französische Republik etablierten «Farbenblindheit» die einzige öffentlich legitime Form der Diskriminierung. Deswegen kommen rassistische Positionen im öffentlichen Diskurs in Frankreich oftmals als nationalistische daher. «Nation» kodifiziert race und entsprechende Weltbilder stellen eine zentrale Motivation für rechtsextremes Stimmverhalten dar. So zumindest argumentiert eine im Mai dieses Jahres veröffentlichte und in Frankreich vieldiskutierte Studie des Sozialwissenschaftler Félicien Faury (Faury 2024). Anders als die Wirtschaftswissenschaftler*innen Julia Cagé und Thomas Piketty, die das Wahlverhalten in Frankreich in einer vor kurzem publizierten und breit rezipierten Untersuchung auf Klassenpositionen zurückgeführt haben (Cagé/Piketty 2023), insistiert Faury zu Recht auf die Bedeutung des Rassismus.

Durch eine Ethnographie in der süd-ost-französischen Region Provence-Alpes-Côte d’Azur arbeitet der Autor heraus, wie eine weit über die Arbeitswelt hinausgehende Krise sozialer Reproduktion, die mit Sozialleistungen und Steuerfragen sowie dem Zugang zu Bildung und Wohnraum zusammenhängt, durch rassistische Vorstellungen verarbeitet wird. Restriktive Migrationspolitik wird hier zum imaginären Vehikel staatlicher Handlungsfähigkeit, die in wirtschaftspolitischen Belangen in der Vorstellungswelt der meisten RN-Wähler*innen nicht mehr besteht. Unter Bedingungen einer immer prekäreren sozialen Kohäsion begreift Faury die Wahl des RN als eine «Art, die Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Mehrheit zu politisieren» (Faury 2024: 172, Übersetz. d. Verf.): durch eine aggressive Politik der Ungleichheit gegenüber Nicht-Weißen, unabhängig von deren staatsbürgerlicher Zugehörigkeit. Damit ist zugleich die Aufgabe linker Politik beschrieben, die der Autor wie folgt fasst:

«Im derzeitigen Kontext der zunehmenden Legitimierung rechtsextremer Thesen in weiten Teilen des öffentlichen und politischen Raums fangen Wähler an, diese für bare Münze zu nehmen. Politische Akteure, die diese Thesen entkräften wollen, müssen daher andere Projekte (ökonomische Sicherheit und gesellschaftliche Emanzipation) anbieten, die schwerer wiegen, konkurrierende Affekte nähren, andere Bestrebungen aktivieren und so das rassistische Wahlverhalten zurückdrängen. Meine Studie zeigt, dass der RN seine Kraft aus einer Situation schöpft, die durch kapitalistische Ungleichheiten und rassistische Verhärtung hervorgerufen wird. Insofern kann der Kampf gegen die extreme Rechte nur dann erfolgreich sein, wenn er an diesen beiden Fronten gleichzeitig geführt wird. Dieser Kampf muss auf der politischen Bühne geführt, aber zugleich durch eine längerfristige soziale und kulturelle Arbeit ergänzt werden. Eine weitere Lehre aus dieser Untersuchung ist, dass das rechtsextreme Wahlverhalten in alltäglichen sozialen Beziehungen verankert ist und sich durch die Verbreitung von in verschiedenen sozialen Gruppen geteilten ‚Selbstverständlichkeiten‘ legitimiert. Der Kampf gegen die Normalisierung des LePenismus muss daher notwendigerweise auch im Alltagsgeschehen stattfinden, das die politischen Auffassungen hervorbringt.» (ebd.: 227, Übersetz. d. Verf.).

Um den Erfolg der extremen Rechten in Frankreich langfristig zu verhindern, geht es also um deutlich mehr als eine massive Wähler*innen-Mobilisierung, die dem NFP im Kontext der zurückliegenden Parlamentswahlen gelungen ist. Nötig ist eine hegemoniepolitische Offensive, die die Krise sozialer Reproduktion in Frankreich kulturell (mit progressiven Deutungsangeboten), politisch (durch den Kampf gegen die Entmündigung durch das System der Fünften Republik) und sozio-ökonomisch (durch einen relationalen Egalitarismus, der sowohl Rassismus als auch Klassenspaltung in den Fokus nimmt) adressiert. Der rassistische Alltagsverstand kann nur durch gezielte und langfristige Anstrengungen zurückgedrängt werden.

Angesichts der massiven gesellschaftlichen Mobilisierung für den NFP im Kontext der Wahlen und der allenfalls aufgeschobenen, keinesfalls aber gebannten Gefahr einer rechtsextremen Parlamentsmehrheit (oder gar Präsidentschaft) erwarten soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Akteur*innen nun vollkommen zu Recht eine geeinte und offensive linke Politik. Es scheint allerdings leider alles andere als ausgemacht, ob das kürzlich entstandene linke Wahlbündnis dies einzulösen vermag. Die im NFP erbittert über zwei Wochen geführte Auseinandersetzung über eine (mittlerweile gefundene) Kandidatin für das Amt der Premierministerin verheißt in dieser Beziehung nichts Gutes. Und wie offensiv eine linke Politik schon allein auf parlamentarischer Ebene sein kann, wenn sie für Mehrheiten auf zumindest temporäre Bündnisse mit Kräften rechts der Sozialist*innen angewiesen ist, bleibt offen. Zudem scheinen einige Sozialist*innen durchaus damit zu liebäugeln, mit Macrons Partei gemeinsame Sache zu machen. Es sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass der derzeitige französische Präsident seine politische Karriere unter seinem sozialistischen Vorgänger François Hollande begonnen hat – zunächst als einflussreicher Präsidentenberater, dann als Wirtschaftsminister. Die neoliberalen Kräfte innerhalb des PS sind seit Hollandes Abdanken 2017 zwar nicht mehr unbedingt tonangebend, aber sie sind auch keineswegs verschwunden. Es wird also an zukünftigen sozialen Kämpfen liegen, den NFP auf Kurs zu halten und somit den Teilerfolg des späten Frühjahres 2024 nicht verpuffen zu lassen.

Literatur

  • Blavier, Pierre, 2021: Gilets Jaunes. La révolte des budgets contraints, Paris.
  • Cagé, Julia/Piketty, Thomas 2023 : Une histoire du conflit politique. Elections et inégalités sociales en France, 1789-2022, Paris.
  • Collectif d’enquête sur les Gilets jaunes, 2019: «Enquête in situ par questionnaire sur une mobilisation en cours. Une étude sur les Gilets Jaunes», Revue Française de Science Politique, 69. Jg., Nr. 5-6, S. 869-892.
  • Faury, Félicien, 2024: Des électeurs ordinaires. Enquête sur la normalisation de l‘extrême droite, Paris.
  • François, Bastien, 2011, Le régime politique de la Ve République, Paris.
  • Lindner, Kolja, 2020: «Rentenreform und Wissenschaftsstreiks in Frankreich», Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, www.zeitschrift-luxemburg.de/rentenreform-und-wissenschaftsstreiks-in-frankreich/.

[1] Um in die zweite Runde einzuziehen, müssen Kandidat*innen mindestens 12,5 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten eines Wahlkreises auf sich vereinigen müssen – bei der diesmaligen Wahlbeteiligung von knapp 67 Prozent waren das etwa 18 Prozent der abgegebenen Stimmen.

[2] Dies zeigen alle qualitativen soziologischen Studien, die seit Beginn der Bewegung durchgeführt wurden (insbesondere Collectif d’enquête sur les Gilets jaunes 2019 und Blavier 2021).

[3] Für einen Rückblick auf die erste Runde der Auseinandersetzung Lindner 2020