Klimaschädlich und ungerecht

Die europäische Gaspolitik verursacht massive Kosten in anderen Teilen der Welt.
Vom 27. bis 29. März traf sich sich in Wien die Gasindustrie zur European Gas Conference, begleitet von zahlreichen Protesten und einer Gegenkonferenz aktivistischer Bündnisse.

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine explodieren in Europa die Energiepreise. Während Öl- und Gaskonzerne Rekordgewinne einfahren, leiden viele Menschen unter den steigenden Lebenshaltungskosten. Doch die Energiekrise trifft nicht nur Menschen in Europa. Sie hat Auswirkungen weit über Europa hinaus – insbesondere die Energiepolitik, mit der Deutschland und die Europäische Union versuchen, die eigene Energieversorgung notfalls auf Kosten anderer Teile der Welt sicherzustellen.

Diese Politik führt dazu, dass weltweit fossile Infrastrukturen aus- und aufgebaut werden, die aus Gründen des Klimaschutzes dringend zurückgebaut werden müssten. Sie treibt die Weltmarktpreise für Gas in die Höhe und stürzt damit ärmere Länder, die auf Gaskäufe angewiesen sind, in schwere wirtschaftliche Krisen. Sie baut schließlich neue Versorgungswege auf, die kolonialen Mustern folgen und die Abhängigkeit des Globalen Südens vom Rohstoffexport in den Norden auch in Zukunft festschreiben.

Wenn sich die Gasindustrie Europas austauscht und Pläne schmiedet, müssen wir auch über die globalen Folgen deutscher und europäischer Energiepolitik sprechen. Mit Texten zu den Auswirkungen auf den afrikanischen Kontinent, mit Beispielen aus dem Senegal, aus Ägypten, Israel und Kanada liefern wir in diesem Schwerpunkt Einblicke hierzu.

Seit dem Krieg in der Ukraine versuchen Deutschland und die Europäische Union (EU), sich aus der Abhängigkeit von russischen Gasimporten zu befreien – vor allem durch Importe von Flüssigerdgas (engl. liquified natural gas, LNG).  Die zusätzliche Nachfrage aus Europa hat die Preise für LNG auf dem Weltmarkt, die bereits seit Ende 2021 anstiegen, zusätzlich stark erhöht. Im Schnitt lagen die Preise für kurzfristige LNG-Käufe dadurch 2022 doppelt so hoch wie 2021, im Sommer 2022 stiegen sie auf ein Allzeithoch. Für arme Länder, die ebenfalls auf LNG-Importe angewiesen sind, hatte das fatale Auswirkungen: Sie konnten sich notwendige Gasimporte nicht mehr leisten, bekamen kein Gas mehr angeboten, teils wurde gar zugesagte Lieferungen wieder abgesagt. Pakistan, letztes Jahr von den Zerstörungen einer Jahrhundertflut betroffen, ist ein Beispiel dafür. Das Land ist abhängig von Flüssigerdgasimporten, diese brachen im vergangenen Jahr um fast 20 Prozent ein. Es gab Stromausfälle, die Industrie des Landes leidet. Ähnliches lässt sich in Bangladesch beobachten, wo beispielsweise die für die Wirtschaft des Landes zentrale Textilindustrie durch die fehlende Energieversorgung betroffen ist. Die Länder sind gezwungen auf die umweltschädlichere, ineffizientere und teure Stromproduktion durch Öl auszuweichen. Zwar sind die Preise für LNG inzwischen wieder gesunken, eine verstärkte Nachfrage aus China wegen der wirtschaftlichen Erholung nach Ende der Corona-Restriktionen könnte die Preise – zusammen mit der anhaltenden Nachfrage in Europa – allerdings bald wieder steigen lassen. Selbst wenn sie nicht wieder Rekordwerte wie im Sommer 2022 erreichen, wird es für Länder wie Pakistan oder Bangladesch schwierig bleiben, ihren Bedarf an LNG zu decken. Denn sie leiden neben den gestiegenen Energiepreisen auch unter sinkenden Devisenvorräten und schlechten Währungskursen sowie einer seit der Corona-Pandemie verschärften Wirtschaftskrise. Die sozioökonomischen Folgen sind verheerend.

Woher bekommen Deutschland und die EU ihr Gas?
Bis zum russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 kamen rund 55 Prozent des in Deutschland genutzten Erdgases aus Russland, überwiegend direkt über die Nordstream-Pipeline unter der Ostsee hindurch. Ein Jahr später ist der Anteil an russischem Gas in Deutschland stark gesunken. Über Pipelines fließt seit September 2022 kein Gas mehr aus Russland direkt nach Deutschland. Die fehlende Gasmenge wurde zu einem kleinen Teil durch eine Erhöhung der Lieferung aus anderen europäischen Ländern ausgeglichen, etwa aus Norwegen oder den Niederlanden. Der größte Teil wird allerdings durch Flüssigerdgas (liquified natural gas, LNG) ersetzt. Dieses wird in Schiffen transportiert, die in Terminals in anderen europäischen Häfen anlegen, etwa in Spanien, Frankreich oder Belgien. Dort wird das flüssige Gas wieder gasförmig gemacht und dann über Pipelines nach Deutschland transportiert. Seit Dezember ist ein LNG-Terminal in Wilhelmshaven in Niedersachsen einsatzbereit, im Januar nahmen zwei weitere den Betrieb auf. Weitere deutsche LNG-Terminals sind im Bau.
Auf europäischer Ebene wird künftig ebenfalls auf Flüssigerdgas gesetzt. Bis Anfang 2022 machte russisches Gas rund 40 Prozent der Gasimporte in die EU aus, das überwiegend direkt über Pipelines kam. Im Januar 2023 war der Anteil an russischem Gas an den Importen auf unter 10 Prozent gesunken. Etwa die Hälfte davon kommt über die noch genutzten Pipelines Turkstream über die Türkei und Transgas durch die Ukraine und die Slowakei ins europäische Netz. Der Rest bezieht sich auf den russischen Anteil am Flüssigerdgas. Einmal ins europäische Netz eingeleitet, wird das Gas gemischt und verteilt, genau sagen, welches Land wieviel von welchem Gas bekommt, lässt sich daher nicht. Die Importe von LNG in die EU haben sich seit Anfang 2022 fast verdoppelt, rund ein Viertel des europäischen Gasbedarfs wurde damit über LNG gedeckt. Die derzeitige Infrastruktur würde es ermöglichen, diesen Anteil bis auf 40 Prozent zu erhöhen.
Dazu müsste die EU jedoch mehr LNG kaufen. Die USA haben ihre LNG-Lieferungen in die EU 2022 gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt, mit 44 Prozent kam fast die Hälfte des importierten Flüssigerdgases 2022 aus den USA, seit 2022 dem größten Exporteur von Flüssigerdgas weltweit. Rund 17 Prozent kamen aus Russland, dieser Anteil ist jedoch seither gesunken. Weitere wichtige Lieferanten sind Qatar , Algerien und Nigeria. Sowohl die EU als auch Deutschland versuchten 2022, neben diesen weitere Lieferquellen für LNG zu erschließen. Gespräche und erste Vereinbarungen gab es unter anderem mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Kanada,Senegal, Ägypten und Israel.

Auch Ägypten war im vergangenen Jahr Bestandteil der deutschen und europäischen Gas-Shoppingtour. Das Land selbst steckt in einer schweren Wirtschaftskrise und hat massiven Bedarf an Devisen. Entsprechend hat sich die ägyptische Regierung entschieden, das wertvolle Gas lieber zu exportieren, während der Verbrauch im eigenen Land gedrosselt werden musste und unter anderem durch das Verbrennen von extrem schmutzigen Masut (Destillationsrückstand von Erdöl) zur Stromgewinnung ersetzt werden soll. Die Befürchtung ist, dass es in vielen Ländern zu ähnlichen Entwicklungen kommt und extrem klimaschädliche Brennstoffe wie Öl und Kohle wieder verstärkt genutzt werden. Besonders interessant am Bespiel Ägypten ist, dass es vor allem israelisches Gas sein wird, dass im Rahmen des Deals mit der EU über die ägyptischen Terminals verschifft werden soll. Israel selbst erwägt nun die Erschließung neuer Gasfelder vor seiner Küste und wirft damit getroffene umweltpolitische Entscheidungen über Bord.

Damit ist es nicht allein: Auch im Falle von Kanada, wo Europa zukünftig ebenfalls gern LNG kaufen würde, wird deutlich, welche Fehlentwicklungen die aktuelle Energiepolitik mit sich bringt. Investitionen in fossiles Gas sind und bleiben ein lukratives Geschäft. Auch wenn Kanada bis 2030 aus der Kohle aussteigen will, scheinen Öl und insbesondere Gas weiterhin auf eine glänzende Zukunft zu blicken, seit Europa als lukrativer Markt winkt – allen klimapolitischen Notwendigkeiten zum Trotz. Gleichzeitig wird in Kauf genommen, dass solche Projekte häufig in Gebieten indigener Gruppen implementiert werden, deren Rechte nur unzureichend berücksichtigt werden, und damit koloniale Muster fortschreiben.

Allen Ländern voran stehen die USA, die im Jahr 2022 zum weltweit größten LNG-Exporteur geworden sind. Auch wenn die Regierung unter US-Präsident Biden offiziell ehrgeizigere Ziele beim Klimaschutz verfolgt als die Vorgängerregierung, hat sie keine Probleme damit, die Zukunft der US-amerikanischen Gas- und auch Ölindustrie über einen massiven Ausbau von Ausfuhrmöglichkeiten abzusichern. Ende 2022 gab die US-Regierung die Erlaubnis für den Bau des künftig größten Ölexportterminals des Landes und für ein weiteres LNG-Exportterminal. Aktuell betreiben die USA sieben LNG-Exportterminals, drei weitere sind im Bau. Europa ist dabei ein Kernmarkt – über das letzte Jahr haben die USA ihre LNG-Exporte in die EU mehr als verdoppelt. Die Projekte sind nicht nur aus Gründen des Klimaschutzes hochproblematisch: Viele der Projekte führen zu einer Verschärfung von Umweltrassismus, denn sie liegen an der Golfküste von Texas und Louisiana, wo vorwiegend Menschen mit niedrigen Einkommen, Afroamerikaner*innen und Menschen lateinamerikanischer Herkunf leben, deren Wohnorte schon jetzt den Verschmutzungen durch Öl- und Gasanlagen ausgesetzt sind.

Die Klimawirkung von Flüssigerdgas
Flüssigerdgas hat, wie jüngst erschienene Studien argumentiert, eine ähnlich klimaschädliche Wirkung wie Steinkohle. Zwar entsteht bei der Verbrennung von Gas in den meisten Fällen weniger Kohlenstoffdioxid als bei Öl oder Kohle. Bei der Förderung, dem Transport und der Nutzung von Gas entweicht jedoch Methan, das, gerechnet über einen Zeitraum von 20 Jahren, 84 Mal stärker zum Klimawandel beiträgt als dieselbe Menge Kohlenstoffdioxid. Bei Flüssigerdgas kommt der hohe Energieaufwand hinzu, der nötig ist, um Gas für den Transport zu kompromieren und zu verflüssigen. Besonders klimaschädlich ist, wie schon ein Bericht des Umweltministeriums unter der früheren Bundesregierung 2020 feststellte, Flüssigerdgas aus Fracking, wie das meiste LNG, das aus den USA geliefert wird. Beim Fracking werden giftige Chemikalien in Schiefergestein gespritzt, um Öl oder Gas zu gewinnen, mit oft verheerenden Folgen für Wasser, Umwelt und die Menschen, die in der Umgebung wohnen.

Auch in Afrika ist die Liste der Projekte lang geworden, mit denen Deutschland, die EU oder internationale Konzerne planen, im Rahmen von Kooperations und Investitionsprojekten neue Gas- und auch Ölfelder zu erschließen oder den Bau von entsprechenden Pipelines voranzutreiben. Einige der Projekte haben bereits negative Schlagzeilen gemacht – beispielsweise die Pläne der Bundesregierung, sich an der Erschließung eines Gasfeldes im Meeresschutzgebiet vor der senegalesischen Küste zu beteiligen. Am Beispiel der Fischergemeinde von Saint-Louis, vor deren Küste der britische Konzern BP noch in diesem Jahr mit der Förderung von Gas beginnen wird, zeigen sich sehr eindrücklich die fatalen Folgen derartiger Projekte für die lokale Bevölkerung.

Dies gilt nicht nur im Senegal: Die meisten der angestrebten Energieprojekte in Afrika verbessern nicht den Lebensstandard der Bevölkerung vor Ort, noch führen sie dazu, dass diese eine gesicherte Energieversorgung erhalten. Die wertvollen Rohstoffe gehen nach Europa, während die negativen Auswirkungen die lokale Umwelt und auch die Landwirtschaft treffen; zusätzlich können sie neue Konflikte auslösen, etwa um die Landnutzung oder die Kontrolle der neuen lukrativen Geschäftsoptionen. Die Suche nach Energiequellen als Alternative zu russischen Importe kommt zusammen mit einer zunehmenden Nachfrage nach Rohstoffen für die europäische Energiewende, die über viele afrikanische und lateinamerikanische Länder hereinbricht. Hinzu kommt der Hype um grünen Wasserstoff, den die EU auch überwiegend importieren will – in Form von Kooperationen, die  die strukturelle Ungleichheit zwischen Afrika und Europa kaum aufheben, sondern eher vertiefen werden. Die Abhängigkeit vieler Länder im Globalen Süden vom Export von Rohstoffen wird durch die aktuelle Energiepolitik Europas verfestigt. Es werden koloniale Muster fortgeschrieben – nur dass diese in Bezug auf die Energiepolitik jetzt mit einem grünen Label versehen sind.

Das letzte Jahr hat gezeigt, dass Deutschland und Europa weit davon entfernt sind, energiepolitische Entscheidungen zu treffen, die mit dem Ziel, die globale Erwärmung unter 1,5 Grad Celsius zu halten, vereinbar sind. Die EU-Taxonomie hat Erdgas für nachhaltig erklärt. Die Bundesregierung hat in der Panik vor dem Leerbleiben der Gasspeicher in Windeseile für den überdimensionierten Aufbau einer LNG-Infrastruktur gesorgt, zu überteuerten Preisen Gas eingekauft und damit den Aufwärtstrieb der Gaspreise auf dem Weltmarkt befeuert. Auf arme Länder wurde dabei keine Rücksicht genommen. Eine ernsthafte internationalistische Energiewende könnte den Ländern des Globalen Südens eine Chance bieten, sich aus ihrer Abhängigkeit von Rohstoffexporten zu befreien, was angesichts der Schuldenkrise und der Klimakrise dringend nötig wäre. Die aktuellen energiepolitischen Entscheidungen hingegen bedeuten das Fortschreiben der Dominanz fossiler Energien – in diesem Falle von fossilem Gas. Ende März feiert die europäische Gasindustrie in Form der European Gas Conference ihre Selbstverwirklichungsparty. Gut, dass sich Bündnisse zusammengefunden haben, die angkündigt haben, dagegen protestieren zu wollen, oder die auf ihrer Gegenkonferenz die europäischen Energiepolitik kritisch hinterfragen – und dabei auch auf die Auswirkungen der europäischen Gaspolitik auf den globalen Süden aufmerksam macht.

Nadja Charaby, Referatsleiterin Internationale Politik und Nordamerika der Rosa-Luxemburg-Stiftung